Tödlicher Instinkt
John Nietke nahm die Nase wieder nach unten.
Er schraubte den Verschluß auf die Flasche und schob sie in die Innentasche seines schäbigen Mantels.
John war Schauspieler von Beruf. Außerdem jung und erfolglos.
Und er brauchte Geld.
Zur Zeit saß er auf einer Bank im Park unterm Mond. Die letzten Besucher des Stadtgartens waren gerade gegangen, ein Nachzügler kam an ihn vorbei.
Er stand auf, mit zwei Schritten war er hinter den Mann. Der Fußgänger war einen Kopf kleiner als er und schmächtig.
Der Schauspieler schob die rechte Hand in die Manteltasche und packte sein Opfer an der linken Schulter. Der Fremde fühlte plötzlich etwas hartes, von einem Durchmesser einer kleinen Münze in seinem Rücken.
> Keine Faxen, Mann! <
Der Kerl hob langsam die Arme und John sah, wie der Körper vor ihm zu zittern begann.
> Ok, Ok. Ich tue nichts! <
Die Stimme seines Opfers klang hoch und fiepsig.
> Du reichst mir jetzt vorsichtig dein Bargeld nach hinten und ich brauch deine Schuhe. Sie könnten mir passen! <
Zuerst erledigten sie die Übergabe des Geldes.
> Größe 41. Ist’s recht? <
Der Typ stotterte diesen Satz herunter und während er sich bückte, um die Schuhe auszuziehen, sah John, das die Innenseiten der Hosenbeine sich vom Schritt an dunkel färbten.
Ihnen fehlt der Instinkt und die Entschlossenheit eines begabten Mimen, sich selbst aufzugeben und in eine andere Rolle zu schlüpfen. Sie besitzen nicht mal genug Talent, um auf der Bühne annähernd glaubwürdig Guten Tag zu sagen!
Das hatte ihm dieser Mimikfatzke von Professor bescheinigt, in dessen Schule er sich Tag für Tag abgekämpft hatte.
Hier hätte er dabei sein sollen, wo er den Gangster mimte.
Der Fremde kam hoch und spürte jetzt wieder diesen Druck im Rücken.
> Und nun verschwinde, in den Park hinein! <
> Kann ich ihre Schuhe... . <
Der schmächtige Mann verstummte, dann ging er langsam vorwärts, barfuß und holprig über das Gras.
John wartete eine Weile. Vorhin noch überlegte er, ob er die Schnapsflasche dem Opfer ordentlich über den Schädel ziehen sollte. Doch der Schauspieler hatte den Plan verworfen, Blut war ihm zuwider.
Der Typ war aus seinen Augen. Nietke zählte das Geld nach; ein Lächeln huschte über sein Gesicht, dann wandte er sich um und ging.
> Einen Moment noch! <
John hörte die Stimme in seinem Rücken. Er drehte sich um.
Sein Opfer stand einige Meter vor ihm, in seinen Händen hielt er den größten Ballermann, den John je sah.
> Wenn du schon den harten Gangster mimst, dann richtig. Aber deine Gier erhob sich über deinen Verstand und deinen zappelnden Zeigefinger, den du aus meinem Rücken nahmst, als ich dir das Geld in deine rechte Hand reichte. Niemand, der einen Menschen mit einer realen Waffe bedroht, läßt diese einfach los. Auch nicht, wenn’s um Geld geht! Was ich nun tue, wollte ich schon die ganze Zeit tun. Nur hat sich meine Knarre vorhin im Hosenbund verhakt und ich mußte dir was vorspielen. Ach, noch was! Du gäbst einen verdammt schlechten Schauspieler ab! <
John Nietke sah eine Stichflamme, dann hörte er ein Brausen in den Ohren. Aber es war nicht sein Applaus.
Für ihn war es eine Gnade, das die Schmerzen in der Brust endeten, als sein letzter Vorhang fiel.
Im Westen, den 08. Januar 2004
Ende