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Täuschungen

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01.06.2002
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Täuschungen

Täuschungen

Wenn ich nach meinem Beruf gefragt werden, befällt mich Verlegenheit; ich werde rot, stammele, ich, der ich sonst als sicherer Mensch bekannt bin.
Ich beneide die Leute, die sagen können: ich bin Maurer.
Friseuren, Buchhaltern und Schriftstellern neide ich die Einfachheit ihrer Bekenntnisse, denn alle diese Berufe erklären sich aus sich selbst und erfordern keine längeren Erklärungen.

Doch wie soll ich mich erklären, wie soll ich verdeutlichen in welchem Gewerbe ich tätig bin?
Harte Arbeit ist es, sein Brot zu verdienen und dabei angewiesen zu sein auf meine Mitmenschen.
Jeden Morgen, noch früh bevor die Sonne aufgeht, mache ich mich auf den Weg.
Wie ein Verbrecher schleiche ich mich aus dem Haus, aus meiner bescheidenen Wohnung.
Gekleidet wie immer, Anzug, Krawatte, Hut und Aktentasche.
Seit längerem trage ich auch immer eine kleine Reisetasche mit mir.
Schnellen Schrittes verlasse ich das nur zu gut bekannte Wohnviertel, seit Jahren bin ich hier zuhause.
Ich bin auf dem Weg zum Hauptbahnhof, schaue mich mehrmals noch um, nur um zu sehen, ob ein Nachbar mir nachblickt.
Erleichtert erreiche ich die Seitenstrasse, welche auf die Hauptstrasse führt.
Der größten Gefahr bin ich entronnen, trotzdem habe ich es weiterhin eilig.

Nicht um eine Straßenbahn zu erreichen, nein, denn das Fahrgeld dafür könnte ich zur zeit nicht aufbringen.
Ich schaue nicht mehr zurück, kann ich mir doch sicher sein, dass ich zu dieser zeit auf dieser Strasse keinen Bekannten treffe.
Den Hauptbahnhof habe ich fast erreicht, ich steuere auf den Nebeneingang zu.
Von dort aus gelangt man am unauffälligsten zu den Toilettenräumen.
Meine Reisetasche liegt schwer in der Hand.
Ich öffne die Tür der Herrentoilette und verschwinde hinter einer der Türen.
Nun beginnt das alltägliche Procedere.
Ich stelle meine Tasche auf die Toilette, öffne sie und entnehme einen an einem Band befestigten Spiegel, welchen ich an den Kleiderhaken hänge.

Noch so manch andere Utensilien befördere ich ans Tageslicht, bevor ich mich entkleide.
Sorgsam lege ich Anzug, Krawatte und Hut aufeinander.
Ich steige in eine alte Cordhose, ungebügelt, aber trotz allem hart und steif.
Löcherig ist bereits der Stoff und auch die Farbe ist kaum noch zu erkennen.
Das mag wohl am Schmutz liegen.

Schließlich streife ich mir ein Hemd über, bereits zerrissen.
Socken werde ich heute nicht benötigen, würde es regnen würde das Wasser sofort durch meine Schuhe dringen.
Ja, die Sohlen sind abgelaufen und das Leder ist rissig.
Angekleidet bin ich, nun beginnt er wichtige Teil. Mit meinem Rest Schuhcreme bearbeite ich mein Gesicht. Routiniert wie jeden Morgen, auch Hände, Arme und mein Haare werden nicht verschont.
Anschließend blicke ich in den Spiegel.
Zurück blickt ein armer alter Mann, vom Leben gezeichnet, hoffnungslos.

Mein Leben, denke ich, das soll mein Leben sein? Aber es ist mein Leben...ich habe keine Chance mehr, bin an den Rand der Gesellschaft gekommen, werde als Abschaum beschimpft...habe keine Chance mehr auf ein normales Leben.
Ich führe ein Leben voller Lügen, nach Außen bin ich der korrekte und adrette Versicherungsmakler geblieben, jedenfalls dann wenn ich mich in meinem Wohnviertel bewege.
Beginnt meine Arbeit verstecke ich mich...keiner soll sehen, was aus dem gutbürgerlichen Jens Hartdorf geworden ist...
Aber was hätte ich tun sollen...ich dachte damals es wäre meine – unsere – einzige Chance.

Wir führten ein normales Leben, waren glücklich zusammen so kurz nach unserer Hochzeit.
Verschwendeten keine Gedanken an die Menschen, die nicht so glücklich waren wie wir, an die Menschen, die Tag für Tag auf die Hilfe anderer angewiesen waren.

Damals ging ich an einem Bettler vorbei ohne ihn zu beachten – ganz ihm Gegenteil ich dachte immer noch: Warum suchst du dir keine Arbeit – Arbeit ist für jeden da...
Und heute bin ich selber einer von diesen...von diesem Abschaum, der aus jeder Stadt verschwinden soll, den die Leute nicht sehen wollen...

Damals hätte ich es nicht geahnt, wir waren glücklich als unser erstes Kind geboren wurde, nur 12 Monate nach unserer Hochzeit, ein Wunschkind, unser gemeinsamer Traum.
Meiner Frau ging es sehr schlecht nach der Geburt doch sie erholte sich langsam, doch das Leben unseres Kindes hing an einem seidenen Faden, nur eine komplizierte Operation konnte unsere kleine Emily retten.

Diese Operation war sehr kostspielig und wurde von der Krankenkasse nicht bezahlt.
Ich sehe noch heute die Augen meiner Frau vor mir, als sie sagte: „Du musst das Geld auftreiben, unser kleiner Schatz darf nicht sterben, nimm einen Kredit auf, such Dir einen zweiten Job, aber bitte lass unsere Emily nicht sterben.“
Wir hatten bereits einen Kredit für das Haus aufgenommen und die Bank wollte uns keinen zweiten gewähren.
Ich war verzweifelt, sah immer wieder diese flehenden Augen meiner Frau vor mir.
Und dann war es so einfach...ein einziger Eintrag im Computer musste verändert werden...und schon war das Geld auf meinem Konto...
Ich konnte doch nicht ahnen, dass Tage später diese Kontoprüfungen anstanden...schnell wurde ich verdächtigt und entlarvt, meine Geschichte interessierte keiner.
Es gab einen Eintrag in die Personalakte und einen Eintrag wegen Geldunterschlagung in mein Führungszeugnis.
Keine Chance auf einen neuen Job.
Die Operation konnte nicht bezahlt werden unsere Tochter starb.
Meine Frau zerbrach an ihrem Tod und verlies mich einige Monate danach.
Ja, das ist mein Leben, aber es muss weitergehen...


...flink nehme ich den Spiegel ab, verstaue ihn in meiner Reisetasche und verlasse die Toilette.
Der Weg zu den Schließfächern ist kurz, aber schnell soll es gehen.
Ich stelle meine Tasche in eines der leeren Fächer, nehme noch ein bereits vorgefertigtes Pappschild und einen Plastikbecher an mich, bevor ich das Fach verschließe.

Mein Arbeitstag beginnt. Müde und langsam schlurfe ich in Richtung Einkaufspassagen, welche direkt am Bahnhof beginnen.
Die Geschäfte haben noch nicht geöffnet. Ich begebe mich an meinen üblichen Platz.
Setze mich hin, stelle mein Schild auf und rücke den Becher zurück.

Ja, so sieht es aus.
Wie soll ich das bloß anderen Menschen erklären, Menschen, die Berufen nachgehen, welche keine längeren Erklärungen erfordern.

 

hallo babsi. du hast es verstanden, die geschichte von einer fast nebensächlichkeit (mich befällt verlegenheit) bis zum tragischen schicksal einer ganzen familie zu spannen; gleichmäßig, ohne hektik und ohne unnötige (und falsche) effekthascherei. man kann sich hervorragend in die verzweifelte situation deines protagonisten / versagers hineinversetzen. und trotzdem sieht man:

Ja, das ist mein Leben, aber es muss weitergehen...
- und er schafft es. zwar auf einer anderen ebene. aber selbst dort hat er eine art professionalität entwickelt. gefällt mir gut deine geschichte.

einige kleine fehler:

die Bank wollte und keinen zweiten gewähren.
- uns


ein einziger EINTRAG IM computer
- warum GESPERRT geschrieben?

liebe grüße aus münchen. ernst

 

Hi Babsi!

Gut geschrieben finde ich Deine Geschichte und auch die Intention zu Deiner Geschichte gefällt mir sehr.
Was ich auszusetzen habe ist, daß es mir wenig glaubwürdig erscheint, daß er sich noch so versteckt, also im Anzug aus dem Haus geht usw. Denn in der Situation beginnen die meisten, sich von der Gesellschaft zu distanzieren, auf Leute in Anzügen eher zu schimpfen (insgeheim), als sich als solche zu verkleiden. Schließlich ist eben diese Leistungsgesellschaft der Grund für ihren Absturz gewesen, da sieht man die Dinge sehr schnell ganz anders. - Aber vielleicht ist Dein Protagonist noch nicht ganz so weit. ;)

Das zweite Unglaubwürdige ist die Tatsache, daß eine lebensrettende Operation nicht von der Krankenkasse bezahlt wird. Kein Kind stirbt in unseren Ländern, wenn es eine Möglichkeit gibt, dieses Leben zu retten, weil die Krankenkasse etwas nicht zahlen wollte.
- Andernfalls spielt die Geschichte nicht in einem Land, in dem man auf die Idee kommt, aus Prestigegründen einen Anzug zu tragen...

Das soll mein lobendes Gesamturteil nicht schmälern, aber vielleicht kannst Du über diese Punkte noch einmal nachdenken. ;)

Ein paar kleine Fehler (außer den schon erwähnten) sind im zweiten Teil Deiner Geschichte. Da Du den ersten Teil glaub ich fehlerfrei geschrieben hast, bin ich sicher, Du findest sie bei nochmaligem Durchlesen.
Ich zitiere nur zwei:

"nun beginnt er wichtige Teil." - der

"..meine Geschichte interessierte keiner." - keinen

Liebe Grüße
Susi

 

Hallo Babsi

Sehr schöne Geschichte. Weil schön erzählt, weil ich mich in den Charakter so hineinversetzen kann, mir die Situation des Versteckens so gut vorstellen kann - nicht dass ich selber auch betteln gehen müsste oder jemals gemusst hätte, aber vorstellen konnte ich's mir gut. Und das ist doch das Wichtigste an einer Geschichte - neben ihrer Aussage. Und die ist nicht soo großartig, wenn ich das kritisieren darf. Eben, dass es dumm laufen kann, dass man nicht unbedingt faul sein muss, dass auf der Toilette mehr Dinge geschehen, als man denkt, dass nicht jeder das ist, was er zu sein erscheint.

Ich fand es sehr angenehm, Deine Geschichte zu lesen.

 

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