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Tägliche Niederlagen
Ich hasse die Musik von David Bowie. Spätestens seit jetzt, Sonntag kurz nach halb fünf Uhr morgens, schwöre ich mir, diesen Mist nie wieder zu hören. Klar, ich stehe auf den Junky Look, aber die Musik – nicht zum aushalten. Und warum denke ich bei „Trainspotting“ immer an David Bowie? Der Song zum Film, „Lust for life“, ist von Iggy Popp, das weiß jeder. Kein anderes Lied reflektiert übrigens so prägnant meine Lebenseinstellung. Und Iggy sieht eh tausendmal junkymäßiger aus als David Bowie. Eigentlich erinnert mich David in seinen frühen Zeiten auch eher an ein magersüchtiges, vierzehnjähriges Mädchen mit schlechtem Makeup. Trotzdem verwechsel ich die beiden, so was beschäftigt mich.
Den heutigen Samstag/Sonntag verbringe ich damit, mir die ewige Top 500 des Rolling Stone Magazins anzuhören. Fünfhundert herausragende Songs der modernen Musikgeschichte am Stück. Das schlechte Lied von David Bowie ist Nummer zweihundertneunzehn. Nach dem Aufstehen, so gegen halb eins, habe ich mich an die Arbeit gemacht. Unterbrochen nur durch einige Pinkelpausen, ein kurzes Telefonat mit meiner Oma und ein Mittagessen, das sie mir vorbeigebracht hat. Rotkohl mit Kartoffeln und Sauerbraten. Meine Oma war früher Köchin in einem Altenheim und hat’s immer noch drauf.
Inzwischen bin ich bei den Smiths angekommen, deren depressives Gejammer mir kalte Schauer den Rücken herunterjagt. Das mag daran liegen, dass ich inzwischen völlig übermüdet bin und nach mehreren Stunden der völligen Regungslosigkeit häufig Zeichen von emotionaler Hypersensibilität zeige. Vielleicht spiegelt sich meine Niedergeschlagenheit aber auch einfach nur körperlich wider. Denn mir ist schon lange klar, dass ich mein Unterfangen unterschätzt habe.
Es mag manchen Menschen trivial erscheinen, aber ich bin stolz darauf, im Laufe des Tages ausgerechnet zu haben, dass die Top 500 mindestens dreißig Stunden lang ist. Später habe ich herausgefunden, dass auf meinem Laptop die Länge meiner gigantischen Playlist (1,8 Tage) automatisch angezeigt wird. Ja, so ist sie die heutige Jugend. Verschwendet ihr Leben vor der Mattscheibe und verlernt dabei nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch das Denken. Das glaubt meine Oma mit Sicherheit. Dabei übersieht sie, welch außerordentliches logistisches Geschick und kühnes Denkvermögen überhaupt nötig sind, um sämtliche Songs der Top 500 auf unzähligen Internettauschbörsen zusammen zu suchen.
Gerade laufen die ersten Takte von Marvin Gayes "Sexual Healing". Dabei über meine Oma zu schreiben fällt mir ehrlich gesagt schwer. Da wippe ich einfach eine Weile mit dem Kopf zum Beat. Sehr praktisch, denn das erheitert nicht nur mein Gemüt, sondern ich kann gleichzeitig sogar Nackenschmerzen vorbeugen. Jeder erfahrene Betthocker kennt ja diesen ständigen Ärger mit dem Nacken.
Meine Oma jedenfalls, die hat mich aufgegeben. Die sagt immer resignierend, „ach, watt soll’s“, wenn ich ihr mal wieder mit fadenscheinigen Ausreden komme, warum ich noch immer den ganzen Tag zu Hause hocke. Was Oma wohl zu meinem neuesten Selbstversuch sagen würde. Aber Mittagessen bringt sie mir trotzdem jeden Tag vorbei in ihrem grauen Oma-Benz. Sonst wäre ihr auch langweilig, glaube ich.
Mir dagegen kann gar nicht langweilig werden. Langeweile ist mir völlig fremd. Es gibt so viel zu tun im Leben. Letzte Woche habe ich zum Beispiel versucht, mir die gesamte „Herr der Ringe“-Trilogie am Stück anzusehen. „Klar, hab ich auch schon gemacht“, mag mancher sich da denken. Mit Verlaub, ich wage das zu bezweifeln. Wenn ich sage, die gesamte Herr der Ringe Trilogie, meine ich die gesamte Trilogie, alles. Alle Bonusszenen, das komplette Making-Off, alle Audiokommentare. Alles in allem zweiunddreißig Stunden Knochenarbeit für den ambitionierten Liegesportler.
Natürlich erfordern solche Mammutprojekte eine sorgfältige Vorbereitung. Potentielle Quellen außerheimischen Einflusses wie Telefon, Handy, Türklingel, Gegensprechanlage etc. müssen deaktiviert, Nahrungsmittel und Getränke neben dem Bett fein säuberlich aufgereiht und etwaige Besucher im Besitz eines Schlüssels, sprich Oma, gewarnt sein. Bewusstseinserweiternde Substanzen sind, außer schwarzer Kaffee, tabu, hygienische oder autoerotische Bedürfnisse so streng wie möglich zu unterdrücken.
Heute allerdings bin ich die Sache zu lasch angegangen. Immerhin, mein Wille ist nach wie vor eisern. Obwohl MP3 Nummer zweihundertachtundreissig von Patsy Cline mit „I Fall to Pieces“ gerade einen grauenhaft grellen, quietschenden Aussetzer hatte, dass mich einen Moment tatsächlich das Gefühl überkam, auseinander zu fallen oder besser: gevierteilt zu werden.
Während aber mein Geist mich so schnell nicht im Stich lassen wird, hinkt mein Körper, wie so oft, hinterher.
Kaffee und letzte Reserven von Magerquark (serviert mit Erdnüssen übrigens ein echter Geheimtipp, weil nicht nur billig, sondern auch lecker und nahrhaft) wurden bereits vor mehreren Stunden verbraucht. Und mit Leitungswasser allein, dem kostbaren und doch schier kostenlosen Gut, schaffe ich es nie im Leben bis zur nächsten Oma-Visite. Hätte ich doch nur mehr eingekauft.
Inzwischen ist es nach sechs, Elton John begleitet sich auf dem Klavier. Es gibt einfach viel zu viele Balladen auf der Welt. Allein fünf von dem Mann mit dem toten Nagetier auf dem Kopf sind auf der Liste. Und davon habe ich noch drei vor mir. Inzwischen macht sich ein nervöses Zucken des linken Augenlides bemerkbar. Erfahrungsgemäß folgt innerhalb der nächsten ein bis zwei Stunden ein grelles Piepsen auf beiden Ohren, welches sich dann allmählich auf den gesamten Kopf ausweitet. Es steht nicht gut um mich. Und langsam beschleicht mich das Gefühl, als müsse ich mich mit einer Niederlage abfinden.