Sydneys Vermächtnis
Was tat ich hier? Fieberhaft dachte ich nach. Ich liebte Raymond zwar, aber meine Gefühle für Ryan waren genauso stark. Hinter mir hörte ich etwas Rascheln und löste den Kuss.
Ich warf einen Blick über meine Schulter, konnte jedoch nichts erkennen. Ich sah wieder zu Raymond und drückte mich weg von ihm. Er sah mich verwirrt an.
„Was hast du?“, fragte er vorsichtig und wollte mich wieder in seine Arme schliessen. Ich ging noch einen Schritt zurück und sah ihn traurig an. Dann schüttelte ich den Kopf.
„Tut mir leid, Raymond. Ich kann das nicht“, sagte ich leise, drehte mich um und wollte loslaufen.
Doch er hielt mich am Handgelenk fest und drehte mich noch einmal um.
„Sydney? Hab ich was falsch gemacht?“
Ich schüttelte langsam den Kopf und befreite mich aus seinem Griff.
„Nein Ray, hast du nicht. Aber ich kann das nicht. Ich…“, ich stockte. Sollte ich ihm wirklich sagen, dass ich seinen besten Freund ebenfalls liebte? Bestimmt würde ich für ihn dann das letzte Miststück auf Erden sein. Er legte eine Hand an meine Wange und sah mir in die Augen.
Er seufzte leise und schien nach passenden Worten zu suchen.
„Du liebst Ryan, nicht wahr?“, fragte er leise.
Ich zuckte kurz als ich seine Worte hörte.
„N-nein, ja.. Ich…“, stotterte ich und seufzte verärgert über mein Verhalten.
„Ich seh’s doch wie du ihn ansiehst… Sag mir die Wahrheit. Du liebst ihn“, redete er unbeirrt weiter und wartete dann.
Ich starrte ihn mit offenem Mund an. War das denn so offensichtlich?
Dann senkte ich beschämt den Kopf und nickte leicht.
„Ja… Ich liebe ihn…“, sagte ich fast lautlos, „…aber dich liebe ich auch!“
Ich machte eine kurze Sprechpause, sah ihn nicht an und fuhr fort: „Das ist alles so kompliziert. Ich… Lass mich bitte gehen… Ich brauche ein wenig Zeit für mich.“, beendete ich meine Aussage.
Ich sah ihn an und hoffte, dass er nicht allzu enttäuscht reagieren würde. Doch er lächelte. Warum lächelte er? Aber bei genauerem hinsehen sah ich, dass es ein Lächeln war, mit dem er nur versuchte, seine Traurigkeit zu überspielen. Das war einfach typisch für ihn.
Ich fasste einen Entschluss. Ich würde das, was ich Ray jetzt gesagt hatte auch noch Ryan sagen. Er sollte wissen, dass ich ihn liebte. Aber auch, dass Ray ebenfalls noch da war.
Egal wie er reagieren würde, ich wollte ehrlich zu ihm sein.
Ich merkte, dass sich Ray’s Griff um mein Handgelenk löste.
Dankbar sah ich ihn an und setzte ein leichtes Lächeln auf. Sicher wusste er, dass ich noch zu Ryan gehen würde. Und doch liess er mich gehen, was ich ihm hoch anrechnete.
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und gab ihm noch einen Kuss auf die Wange.
„Bis Morgen, Ray“, sagte ich, drehte mich um und lief in den Wald.
Ich suchte eine ganze Weile nach Ryan.
Ich wollte schon die Suche aufgeben, als ich seine Gestalt zwischen den Bäumen wahrnahm.
Er stand einfach nur da. Sein Blick schien auf mich gerichtet zu sein. Irgendetwas schien nicht zu stimmen. Ich sah ihn an und überlegte kurz, wie ich anfangen sollte. Doch da kam er bereits auf mich zu. Erleichtert lächelte ich.
„Ryan. Ich habe dich überall gesucht! Ich muss dir dringend etwas sagen!“, sagte ich und verhaspelte mich beinahe. Die Worte wollten alle gleichzeitig aus meinem Mund.
Er blieb dicht vor mir stehen und sah auf mich runter.
Ich sah ihm in die Augen und stockte. Seine Augen funkelten vor Zorn und Hass. Erschrocken starrte ich ihn einen Moment lang nur an. Dann legte ich eine Hand an seine Wange.
„Was…? Ryan, ich...“, sagte ich und suchte noch nach den richtigen Worten. Doch dann hörte ich ein knirschendes Geräusch und spürte plötzlich einen stechenden Schmerz in der Seite.
Entsetzt riss ich die Augen auf und wollte schreien, doch der Schrei blieb mir im Hals stecken. Ich schaute zu dem Ursprung des Schmerzes und sah ein Messer, dass mir immer noch im Bauch steckte.
Ich keuchte auf und wendete meinen Blick wieder zu Ryan.
„W-wieso hast du das getan?“ , flüsterte ich mit zitternder Stimme und Tränen stiegen mir in die Augen.
Er sah mich mit einem eiskalten Blick an, aber für einen Moment sah ich tiefe Trauer und Entsetzen in seinen Augen aufflackern.
Er zog das Messer raus und küsste mich.
„Wenn ich dich nicht haben kann, soll dich niemand haben.“, flüsterte er in mein Ohr.
Ich taumelte zurück und wurde von einem Baum gebremst.
Ich sah wieder zu meiner Wunde, die sehr tief reichte. Meine ganze rechte Körperhälfte von der Wunde abwärts war von Blut getränkt. Zitternd hob ich den Kopf und sah Ryan ungläubig an.
Dann merkte ich, wie der Blutverlust anfing seinen Tribut zu fordern. Ich rutschte an dem Baumstamm zu Boden, der durch mich von Blutspuren übersät war.
„Ry-ryan… W-wieso hast du“, wollte ich wieder Fragen, doch ich brach mitten im Satz ab. Weiter reichte meine Kraft nicht mehr. Die Tränen, die in meinen Augen brannten, liefen nun über meine Wangen. Ich sah, wie mehr und mehr von meinem Sichtfeld von einer undurchdringbaren Dunkelheit eingenommen wurde, bis ich schliesslich ins schwarze Nichts starrte.
Nein! Ich wollte schreien! Ich wollte wieder sehen! Das konnte doch nicht sein! Würde ich jetzt etwa sterben? Durch Ryan’s Hand?
Ich nahm noch einmal all meine Kraft zusammen und sah verschwommen, wie Ryan neben mir sass. Da kam jemand. Wer war das? Ich erkannte es nicht mehr. Ich spürte, wie mein Körper von einer eisigen Kälte eingenommen wurde. Doch er kämpfte nicht dagegen an. Ich wollte es, aber es ging nicht mehr.
„SYDNEY! Sydney!“, hörte ich Ray rufen. Seine Rufe waren nur noch ein entferntes Echo. Ich musste mich anstrengen um es zu verstehen. Wie gern hätte ich ihm geantwortet. Ihm gesagt er solle sich keine Sorgen machen. Wenn ich so darüber nachdachte war es zwar vielleicht doch besser, dass ich nicht mehr sprechen konnte. Ich lag hier im Sterben und dachte daran, jemandem zu sagen er solle sich keine Sorgen um mich machen. Ich lächelte. Ob das Lächeln auch auf meinem Gesicht zu sehen war?
Er redete weiter mit mir aber nun hörte ich nichts mehr.
Doch dann sah ich wieder. Aber es war nicht das, was ich zu sehen erwartet hatte.
Vor mir standen Ryan und Raymond. Sie sahen mich beide lächelnd an und redeten mit mir. Doch ich konnte sie nicht hören. Dann drehten sie sich auf einmal um und gingen weg. Ich wollte ihnen hinterherlaufen, doch mein Körper rührte sich nicht vom Fleck.
Entsetzt sah ich die beiden an. Ich wollte sie zurückrufen. Ihnen sagen sie sollen auf mich warten!
Aber ich hatte vergessen, dass meine Stimme bereits versagt hatte.
Die Silhouetten der beiden verschwanden in der Ferne.
Dann, von einem Augenblick auf den anderen, wurde es wieder schwarz. Ich war wieder in der Realität angelangt. Doch die Kälte spürte ich nicht mehr. Nur noch eine wahnsinnig wohltuende Leichtigkeit.
„Ryan, Raymond. Lebt wohl. Wir sehen uns hoffentlich in einem anderen Leben wieder.“, sagte ich und wusste, dass ich nicht gehört wurde.
War das nun das Ende? Hatte mich der Tod tatsächlich besiegt?
Ich musste mir das wohl eingestehen.
Müde schloss ich die Augen und gab mich dem ewigen Schlaf hin.