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Sweet Bird of Youth auf Kuhle Wampe

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11.07.2021
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Anmerkungen zum Text

Einigen wird schon aufgefallen sein, dass die Überschrift geklaut ist von einem Stück von Tennessee Williams. Davon hab ich vor zig Jahren mal die Verfilmung gesehen. Das war alles ganz schön deprimierend.
Es kam rüber, dass die Jugend nur eine Illusion und ein Fantasieprodukt ist.
Über diese Zeit werden oft Plattitüden verfasst wie: „Es sah so aus, als wenn die Zukunft offen vor ihnen lag. Tausende Möglichkeiten schienen sich aufzutun, und dann wieder doch nicht.“ oder so was in der Art. Das will ich vermeiden, und ebenfalls leere Floskeln wie: „Suchten ihren Platz im Leben“ - obwohl das eigentlich stimmt.
Ich wage mich auch an das heikle – jedenfalls in meinen Augen - Thema des einseitigen Verliebtseins nach One Night Stand ran.
„Das ist eine verquaste Anti-Lovestory, eine Liebesgeschichte ohne Liebe, die man nicht auch noch unter die Leute bringen muss. Über sowas legt man besser den Mantel des Schweigens“, werden mir jetzt manche vorwerfen. Aber ich schleudere diesen ärgerlichen Text einfach in die Welt

Sweet Bird of Youth auf Kuhle Wampe

„Die Anerkenntnis ist aber mehr von der Pädagogik, das heißt von den Alten ausgegangen“, hörte man Adrian sagen, „als von der Jugend selbst. Die fand sich eines Tages … beschenkt mit dem Prädikat der selbstständigen Lebensform und stimmte natürlich eifrig zu.“ Doktor Faustus Thomas Mann

Mecklenburg
54. Die Zahl sprang mir ins Auge, als ich im Netz nach meinem Heimatdorf suchte. „Was ist los da?“, frage ich mich, dass soviel Prozent der Einheimischen dort eine bestimmte Partei gewählt haben. Um welche es sich handelt, brauche ich hier wohl nicht extra zu erwähnen. Aber eigentlich wunderte mich gar nichts. Ich kannte meine Landsleute.

Blonde on Blonde
Eigentlich wollte ich immer einen Freund aus Sachsen. Der dortige Menschenschlag ist berühmt für seine Aufgeschlossenheit und Freigeistigkeit. Meine Landsleute dagegen mochte ich nicht und hielt sie für ein mürrisches, strenges Völkchen.
Irgendwie waren sie alle ein bisschen so wie mein Großvater, dessen einzige Freude darin bestand, wenn er morgens in der Freien Erde lesen konnte, wen er wieder überlebt hatte.

Und eigentlich stand ich ja auch nicht auf solche wie ihn, sondern auf langhaarige Hippie-Typen. Aber als ich durch sein Sweatshirt seinen muskulösen Brustkorb fühlte, war´s um mich geschehen.
Einer seiner Kumpels, eigentlich wollte ich am Anfang ja was von ihm – er saß sogar zwischen zwei Frauen - der mich mochte, schaute erst ihn an und dann mich und schüttelte warnend den Kopf. Aber ich hatte schon Feuer gefangen.
Und ausgerechnet ein Udo-Song, der gerade im Radio kam, als wir alle vor dem Zelt saßen, und den er mitsang, bestimmt der Sound seiner frühsten Jugend, gab den Ausschlag, dass ich schwach wurde.

Der Bursche, ich glaube, er war neunzehn, etwas jünger als ich, hatte Routine. Ich musste an die vielen Fischkopfmädels denken, die er vor mir beglückt hatte, denn er und seine drei Kumpels, sehr witzige Typen mit einem Touch Anarchie, ein Freundeskreis von der Art, den man gemeinhin als lustige Truppe bezeichnet, die man häufig auf Zeltplätzen antreffen kann, und die ihr Zelt auf dem Campingplatz Kuhle Wampe neben meinem aufgestellt hatten, kamen aus Rostock.
Aus meiner Ecke also.

Ich fragte ihn nicht nach seinem Namen, denn ich ahnte schon, dass es mit uns nichts werden würde, und dass der mir danach nur ständig im Kopf rumspuken würde.
Es lief ab wie am Fließband. Da saß jeder Handgriff. Ich hatte vorher schon davon gelesen, dass es am Körper noch andere erogene Zonen geben soll. Jetzt merkte ich es.
War das hier ein sexuelles Erweckungserlebnis? Ich kannte mich selbst nicht mehr. Ausgerechnet durch einen Landsmann, der sich nichts aus mir machte. Seiner Heimat entkommt man nicht, wurde mir klar.
Und ich war immerhin bis nach Berlin geflohen. Hinterher legte er mir noch freundschaftlich den Arm um den Hals und schlief ein. „Ich bin ihm gleichgültig“, ging mir durch den Kopf.

So blond und samtweich wie ihn stellte ich mir „Nana“ vor, die die Männer in dem Roman von Zola reihenweise verrückt macht. Das Buch hatte er bestimmt nicht gelesen, aber um so mehr praktische Studien betrieben, denn Frauenkenner war er.
Ihn langweilte seine Wirkung auf das andere Geschlecht schon, hatte ich im Gefühl. Hoffentlich ist er nach der Wende nicht Zuhälter geworden. Die Norddeutschen hatte es schon immer nach Hamburg gezogen, jedenfalls bevor die Mauer gebaut wurde, nachher konnten sie es ja etliche Jahre nicht mehr. Vielleicht wären wir dann beide zusammen auf der Reeperbahn gelandet, und ich hätte den Lebensunterhalt für uns verdient, indem ich auf den Strich gegangen wär. Was ich natürlich nicht ernst gemeint habe, aber ich konnte die Frauen verstehen, die so etwas tun.
Das hätte sich bestimmt bis in unser Dorf rumgesprochen, da nach Mauerfall alle bei uns nach Hamburg gingen. Meine Mutter, die Lehrerin war, hätte wegen dem Gerede aus dem Dorf wegziehen müssen.

Er hielt mich bestimmt für eine schräge Bitch. Vielleicht hatte er gar nicht mal so unrecht damit, denn ich hegte den dunklen Plan, ihm einen Ätherbausch auf die Nase zu drücken, und ihn zu entführen, und außerdem keimte in mir der Wunsch auf, ihn mitsamt seinem Blondschopf und seinem seidenweichen Körper zu verschlingen wie eine Anaconda.

Solche verückten Sachen gingen mir im Kopf rum, während ich neben ihm lag.

„Alle Feministinnen stehen auf Machotypen“, den Satz hat mal einer zu mir gesagt. Ich weiß nicht, ob ich wirklich eine Feministin bin, aber die meisten Männer, die mich wirklich mal körperlich angezogen haben, waren totale Machos.
Da wir uns so dermaßen nah waren, konnte ich seine Gedanken spüren. So dicht zusammen und doch so weit voneinander entfernt. Seine Unbefangenheit war nur gespielt.
Er befürchtete, dass sich die lustige Jungsmasche, wo er in seinem Element war, bald ausleierte. Vielleicht war das sogar der letzte gemeinsame Urlaub mit seinen Kumpels. Sie bemühten sich, alles reinzupacken in ein paar Jahre, was einem auch einen gewissen Druck machte.
Verpflichtungen wie Heirat, Kinder, trockene Berufe, der sogenannte Ernst des Lebens würden folgen, und einer nach dem anderen würde abspringen. Aus Freunden würden Bekannte werden. Bei uns fing man früh an mit Familiengründung. Ihre Unangepasstheit und Fröhlichkeit war nur zur Schau getragenen. Außerhalb des Zeltplatzes waren sie bestimmt recht konservative Typen.
Er vielleicht sogar noch mehr als die Anderen, denn ich fühlte in ihm den Kleingeist und die innere Enge der Leute meiner Heimat. Und merkwürdigerweise interessierte mich gerade das am meisten.
Und auch ich war nicht ehrlich, sondern schauspielerte. Bestimmt spürte Mr. Blonde on Blonde, der nicht dumm war, dass ich nicht so unkompliziert war, wie ich mich gab.
Für mich war das Wochenende hier auf dem Zeltplatz eine an den Haaren herbeigezogene Jugendnachhole, auch wenn ich erst Anfang Zwanzig war.
Ich bemühte mich, jung zu sein, jedenfalls, was ich mir darunter vorstellte. Beide spielten wir nicht mit offenen Karten.
Auf den Campingplatz war ich übrigens aufmerksam geworden, als ich zwei Arbeitskolleginnen, ein Pärchen, besuchte, die auf Große Krampe Dauerzelter waren. "Da drüben gibt es noch einen Jugendzeltplatz", erzählten sie mir und zeigten mit dem Arm über den See.

Mich zog wohl an ihm am an, dass wir in allem das Gegenteil voneinander waren. Schon vom Äußeren her. Er war strohblond und hatte blaue Augen und ich dunkelhaarig und braunäugig.
Das Ausschlaggebendste für die Wirkung, die er auf mich ausübte, war bestimmt, dass ich in ihm den beliebten, sportlichen Jungen sah, er hatte mal in der Jugendoberliga von Hansa gespielt, den Gegenentwurf zu mir, die immer als Letzte noch in der Reihe stand, wenn die Mannschaften im Sportunterricht gewählt wurden.
Wahrscheinlich hätten wir genetisch gut zusammengepasst und harmonische Kinder gezeugt.
Wenigstens hätten sie nicht immer als Letzte in der Reihe stehen müssen. Ganz im Gegenteil. Sie wären einer von den Beiden gewesen, die der Lehrer immer damit beauftragte, die Mannschaften zusammenzustellen.

Als ich so neben ihm lag, während er schlief, wurde mir klar, was Mentalität ist, und dass wir dieselbe hatten.
Irgendwie fühlte ich mich so, als wenn ich gerade in dem Städtchen in Mecklenburg, wo meine Oma wohnte, in den Ferien aus dem Bus stieg und durch die Kleinstadtstraßen den Weg zu ihrem Haus entlanglief.
Ich will damit sagen, dass er, obwohl ich ihn gar nicht kannte, für mich etwas Vertrautes hatte.
Ich spürte sogar in dem hübschen Burschen eine ähnliche Seelenlage wie in meinem griesgrämigen Großvater.
Hier begegnete mir meine Heimat in Gestalt eines durchtrainierten jungen Mannes mit flachsgelben Haaren.
Ich betrachtete ihn, der in seiner männlichen Schönheit in der heißen Sommernacht ohne Decke nackt neben mir lag. Die stahlharten Muskeln waren durch jahrelanges Training im Kraftsportraum seiner Sportschule entstanden. Momentan schlief er noch, aber bald würde er erwachen.

Ich stand auf, und lief zu den Baracken, in denen die Waschräume waren, um ihm Gelegenheit zu geben, sich ohne peinliche Rumdruckserei anzuziehen und zu gehen. Im Waschraum, in dem ich in der Nacht allein war, schaute ich in den Spiegel. „Bin ich schön?“, fragte ich mich.
Ich kämmte mir die Haare und trödelte noch ein bisschen rum. Als ich nach einer Weile zum Zelt zurückkam, lag er immer noch drin.
Was sollte ich machen? Ich platzierte mich neben ihn, in gehörigem Abstand, da es mir nicht angebracht schien, näher zu rücken. Wir waren ja Fremde und würden es bleiben.
Dass das Leben von uns, die hier vor diesem Zelt auf Kuhle Wampe zufällig aufeinandergetroffen waren, danach in völlig verschiedene Richtungen verlaufen würde, war mir klar.

Als er morgens aufwachte, seine Sachen zusammensuchte, aus dem Zelt kletterte und mich nicht mehr beachtete, wunderte mich das nicht. Meine Landsleute mochten mich sowieso noch nie.
Ich fühlte mich aber auch ein bisschen so wie früher, wenn ich, die beim Auswählen mal wieder übrig geblieben war, in der Sporthalle mutterseelenallein in der Reihe stand, während die Spieler der Mannschaft, die mich notgedrungen aufnehmen musste, mich mit bösen Blicken ansahen.

Eine Situation, die viele Amokläufer bestimmt auch schon durchgemacht haben.
Grundsteine für diese menschlichen Fehlentwicklungen, die aus kleinen Jungs später Leute werden lässt, die ihre ganze Schule zusammenschiessen, werden schon von den Turnlehrern in der Unterstufe gelegt, denn dieses System der Mannschaftsaufstellung, das Ausgrenzung fördert und heute angeblich verboten ist – hoffentlich - war überall gang und gäbe in unseren Schulen. Wenigstens bin ich kein Amokläufer geworden.

Ich sah ihn wieder. In Berlin auf dem Weihnachtsmarkt.
Er sah noch besser aus als vor einem Jahr. Dass ich mich in ihn verliebt hatte, hatte er sich gemerkt. Er machte Anstalten, mich anzureden, wovon er abließ, als er meinen Begleiter sah.
Ich bin jemand, der mit zeitlichem Abstand zu gewinnen scheint. Oft ist es mir passiert, dass welche, die mich nach einem One-Night-Stand gar nicht mehr ansahen, nach einer Weile wieder ankamen und manchmal sogar so was ähnliches wie ernste Absichten entwickelten.

Was er wohl in Berlin machte? Studierte er hier? Wer weiß, was daraus noch hätte entstehen können? Jetzt hatte er ja seine Kumpels nicht mehr bei sich und fühlte sich vielleicht einsam in der großen Stadt.
Das wäre bestimmt nicht lange gut gegangen. Er war daran gewöhnt, von Frauen unterstützt zu werden. Die ersten in der Reihe waren seine Oma und seine Mutter gewesen. Damit konnte ich nicht dienen. Ich hielt mich ja selber gerade mal so über Wasser.

Ich glaube, mein Anblick hat ihn an Kuhle Wampe erinnert und an den Abend, wo wir beide, seine Kumpels und ihre Freundinnen, sehr unkompliziert wirkende Mädchen - wie dachten sie wirklich, wie nahmen sie ihr Frausein an, scheinbar besser als ich - mit denen ich mich gleich verstand, uns ausgelassen miteinander im Gras fläzten.
Über uns der Berliner Sternenhimmel. Bestimmt eine glückliche Erinnerung für ihn, an die er noch denken muss, wenn er uralt ist.

Irgendwas Künstliches, Vergängliches haftete unserer Ungezwungenheit an, hatte ich im Gefühl.

Ich glaube, die Vier hatten in Rostock alle feste Freundinnen, die schon sehnsüchtig aus dem Fenster schauten und nach ihrem Auto Ausschau hielten. Das wussten die Mädchen auf dem Zeltplatz auch, machten das Beste draus und gaben sich als Realistinnen, die sie waren oder sein wollten, mit Liebe auf Zeit zufrieden.
Bestimmt sind sie später Frauen geworden, von denen man sagt, dass sie mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen, und mit denen meine Mutter mich immer vergleicht und mir vorwirft, dass ich nicht so bin.

Er war für mich die Personifizierung des hübschen, normalen Jungen, sowas wie für Thomas Mann der Blonde Hans war aus „Tonio Kröger“. Mit uns beiden wäre es vielleicht eine interessante Konstellation geworden. Ein Pärchen, das total unterschiedlich ist.

Ich packte mein Zelt zusammen, obwohl ich eigentlich gar nicht weg wollte. Ich musste aber zur Arbeit. Mir war schon klar, dass ich mich verliebt hatte. Ich spielte die Gleichgültige. Er ahnte wohl, dass das nicht echt war. Da konnte ich ihm nichts vormachen.
Ich fand eine Uhr, die er vergessen hatte. Ein teures Stück. Ich ging nach nebenan, wo er allein im Zelt schlief, da seine Kumpels bei ihren Mädchen waren. Als er mich sah, erschrak er. Er wollte sich nicht einfangen lassen - wieder so ein ausgelatschter Ausdruck.
Er dachte wohl, dass jetzt das Liebesgeständnis kommt, dass er schon zig Mal gehört hatte. „Ich wollte dir nur deine Uhr bringen“, sagte ich und ließ ihn weiterschlafen.

Vor einem Zelt, in dem sein Kumpel mit einem Mädchen beschäftigt war, saß ihre Freundin, um die Beiden nicht zu stören. Sie waren mit dem Motorrad unterwegs. „Wenn du willst, fahre ich dich bis zur S-Bahn.“ Sie zog sich eine Lederjacke an, setzte ihren Helm auf und gab mir auch einen. Ebenfalls eine Vertreterin der fest im Leben Stehenden. Meine Mutter wäre bei ihrem Anblick mal wieder völlig aus dem Häuschen gewesen. Immer, wenn sie irgendwelche Freundinnen, Klassenkameradinnen oder Kommilitoninnen von mir kennenlernte, oder ich auch nur von ihnen erzählte, war meine Mutter von dem Wunsche beseelt, dass ich genauso werden sollte.
Dabei ließ sie übersah sie völlig, dass wir ja völlig unterschiedliche Voraussetzungen wie Begabung, Aussehen, Temperament hatten und uns nur zufällig in der selben Bildungsstätte über den Weg gelaufen waren. Alle wollten mich immer in die Rolle Starke Frau reinzwingen.

Mein Zelt zurrten wir fest, sie startete ihr Motorrad und los ging es. Schneller, als mir lieb war, entfernte ich mich von ihm.

Im Arbeiterwohnheim angekommen, beschloss ich, einfach blau zu machen. Das hatte ich noch nie gemacht. Zu spät war ich ja sowieso schon dran. Der Job war nicht das schlimmste, aber von den Kollegen wurde ich gründlich gehasst. Das Wochenende hatte das Fass zum Überlaufen gebracht.
Der Glaube an die Welt, der bei Frauen ja eng mit dem Glauben an die Liebe verknüpft ist, war mir abhanden gekommen.

Im Bett von der Anderen aus meinem Zimmer lag ihr Freund, ein Armist, der gerade Urlaub hatte. „Musst du nicht zur Arbeit?“, fragte er mich. Ich antwortete: „Ich habe keine Lust.“ Missbilligend sah er, ein Intellektuellentyp, der Gedichte schrieb, mich an. Da weigerte sich jemand, seine Pflicht zu erfüllen. Alle erwarteten von einem, dass man funktionierte.

Ramona, eine aus dem Wohnheim, die gerade Überstunden abbummelte, fragte mich: „Warum lässt du dich nicht krankschreiben?“ Das war bei uns früher sehr schwierig. Selbst mit neununddreißig Fieber hatte mich ein mißmutige Ärztin, die mich kaum ansah und für junge Mädchen nichts übrig haben zu schien, zurück in den Betrieb geschickt. Nach der Wende ist das einfacher geworden.

Ramona wusste Rat. Sie war eine Berlinerin und kannte sich aus. „Kennst du Doc Krüger?“ Er schreibt jeden krank. Sie begleitete mich zu seiner Praxis in der Kollwitzstraße im Prenzlauer Berg.
Dort, in der Nähe, hatte früher der Mann von Käthe Kollwitz praktiziert, der ein Herz für die Proleten hatte. Da hätte ich mir bestimmt auch öfter ´nen Krankenschein abgeholt. Im Wartezimmer hingen vielleicht die Bilder seiner Frau.

So ein volles Sprechstundenzimmer wie bei Doc Krüger hatte ich noch nie gesehen. Er war wohl in die Fußstapfen von dem Namensgeber der Straße getreten.
Man musste Nummern ziehen. Aber es ging sehr schnell. Ramona und ich saßen dort zusammen mit den abgearbeiteten Berliner Arbeiterfrauen, die überlastet waren mit engen Wohnungen, saufenden Männern und vielen Kindern, zusammen.
Doc Krüger war ihr Rettungsanker, wenn ihnen alles über den Kopf wuchs. Sonst wären bestimmt noch mehr Frauen als sowieso schon zusammengebrochen.
Im Osten hat ja jeder gearbeitet.
Es gab keinen Acht-Stunden-Tag und sehr wenig Urlaub, so dass besonders die Frauen völlig überlastet waren.
Tatsächlich füllte er auch mir einen Krankenschein aus. Für drei Tage. Es lag aber ein unausgesprochener Vorwurf in der Luft. Das ich keine abgehetzte Arbeiterfrau war, sah er.

Jetzt wo ich Zeit hatte, lief durch die Straßen vom Prenzlauer Berg und ging zum Friseur. Die niedliche Angestellte, eine kleine Brünette mit großen, brauen Augen, mühte sich meinen Wirbel, den ich angeblich am Scheitel hatte, mit einem riesigen Fön wegzukriegen. Das war mir noch nie aufgefallen. „Wie denkt sie eigentlich so, und was liest sie?“, fragte ich mich. Was verband uns, die beide Anfang Zwanzig waren?

Natürlich fuhr ich ihnen hinterher. Ich konnte nicht anders, denn ich konnte nicht vergessen, was für ein Gefühl es war, wenn man mit den Fingerspitzen über seine samtige Haut fuhr.
Sie wollten noch auf einen Zeltplatz an der Ostsee, in der Nähe ihrer Heimatstadt. Ich stieg in Rostock Hauptbahnhof aus dem Zug und fragte mich nach der Haltestelle durch, von der Bus in das Seebad, das nicht weit entfernt war, und wo ich die Vier vermutete, abfuhr.
Zum Glück war sie nicht weit entfernt. Aus dieser Gegend ist meine Mutters Familie entsprungen. Reiste ich zu meinen Ursprüngen?

Sie müssen es sich aber kurzfristig anders überlegt haben oder sind sogar gleich nach Hause gefahren. Vielleicht war das mein Glück. Ich wäre bestimmt Gesprächsstoff für ein Jahr gewesen.
Die Blamage ist mir erspart geblieben. Jedenfalls lief ich den riesigen Zeltplatz hoch und runter und schaute in jedes Zelt. Nirgendwo mein Blonde on Blonde. Seine Kumpels waren auch nicht zu sehen. „An vier Typen aus Rostock kann ich mich nicht erinnern“, sagte der Campingplatzleiter zu mir.

Da ich schon mal beim Verlieben war, verliebte ich mich spontan in einen Anderen. Einen Einheimischen, der sich zu mir und dem Mädel aus dem Nebenzelt gesellte, mit der ich mich angefreundet hatte – sie war siebzehn und lernte Pflegerin, durch ihre Arbeit ist ihr bestimmt klargeworden, dass das Leben endlich ist, und man seine Zeit nutzen muss, so erklärte ich mir ihre erstaunliche Offenheit und Unverklemmtheit in Liebesdingen - und der zwar nicht so hübsch war wie Blonde on Blonde aber über einen Redefluss verfügte, der mich wegspülte. Man lebt nur ein Mal. Und blond war er auch.
Am nächsten Tag saßen wir drei noch lange am Meer.

Übrigens, in meinem Dorf hat diese Partei gar nicht die meisten Wähler. In einem Dorf in Sachsen sind es sogar zwei Drittel. Nichts mit Freigeistern. Da habe ich mich wohl geirrt.

 

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