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Sven schlief
Sven erwachte mit Kopfschmerzen, dabei war er früh ins Bett gegangen und hatte seit Tagen keinen Alkohol getrunken. Auch war er müde wie selten. Aber er wälzte sich von der Matratze – hinein in Sonnenlicht, das durchs Rollo fiel und Flecken aufs Parkett tupfte. Mit dem Licht kam Hundebellen. Sven zog die Jalousie hoch, seine Augen tränten – leerer Rasen vor dem Haus, dann die Straße und wieder Rasen, wo der Hund, vielleicht ein Pinscher, seinem Schwanz nachjagte. Menschen waren nicht zu sehen, es war Sonntag, kaum acht Uhr.
In der Küche stand Geschirr auf Tisch und Spüle. Unsichtbar summte eine Fliege. Sven setzte Wasser auf, kippte Kaffee in den Filter, wartete. Traumreste zogen wie Schnappschüsse vorbei, verwischte Aufnahmen in seinem pochenden Schädel. Er ging ins Schlafzimmer zurück und suchte zwischen verstreuten Klamotten nach seinem Handy, fand es unterm Bett, wo Staub und Spinnen hausten. Der Wasserkessel schrillte und er goss den Kaffee auf. Er schaltete sein Handy ein, wartete auf verpasste Anrufe – nichts geschah. Er suchte im der Telefonbuch nach der Nummer seiner Schwester, bis ihm einfiel, dass er keine Schwester hatte. Sven ließ sein Handy auf der Tischplatte kreiseln, trank Kaffee, steckte Toast in den Toaster.Der Hund bellte noch immer – vielleicht hatte die Morgenstille ihn verrückt gemacht.
Sven wählte Nikolas Nummer – niemand ging ran. Also stand er auf, ließ Toast und Kaffee sitzen, und ging ins Bad. Er duschte zu warm, um wach zu werden, aber er hasste kaltes Wasser – Erinnerung an Tümpel aus der Kindheit, schwarzes Wasser, schleimige Pflanzen, Hände, die nach seinen Füßen griffen, das Schimpfen der Frösche.
Gekämmt und rasiert verließ Sven das Haus. Der Himmel war klar und am Horizont stand schemenhaft der Mond. Aber die Sonne stach bereits und heizte die Wegplatten zur Garage. Sven holte sein Fahrrad, ein Auto besaß er nicht, und fuhr los. Der Hund rannte im Kreis, aber sein Bellen war heiser geworden.
Das Haus, in dem Nikolas und Anna lebten, war reetgedeckt und vor dem Küchenfenster stand eine Bank, die niemand je benutzte. Eine Tante hatte es den Geschwistern vererbt, von der Sven kaum etwas wusste, nur, dass sie Katzen liebte - ein Dutzend Gräber reihte sich im Garten, jedes mit Stein und Inschrift, und dahinter stand die Hecke als Sichtschutz gegen die Bahngleise.
Auf Svens Klingeln öffnete Anna die Tür. Sie trug einen Bikini in Türkis, Braun und Orange und ihre Locken zum Dutt gesteckt, kam folglich vom Sonnenbaden, ihre Rohrzuckerhaut glänzte ölig. Svens Blick streifte ihre Brüste, die sie zu klein fand, ihm aber gefielen - zum ersten Mal gesehen, als Anna nackt im Garten lag, zum ersten Mal berührt auf der Party eines Fremden, trunken vom Wodka.
„Du bist es. Hab mich schon gewundert, wer um die Zeit klingelt.“ Sie umarmte ihn und Sven roch Kokos, Schweiß und Zigaretten.
„Wolltest du nicht aufhören?“
„Wir brauchen alle unsere Ziele. Mein Bruder schläft übrigens noch.“
„Hätte mich auch gewundert.“
„Ich bin draußen.“
Sie verschwand den Flur entlang ins Wohnzimmer, wo Sven durchs Fenster den Garten sehen konnte – Rasen, der mehr Wiese war, und eine Sonnenliege, neben der Handy und Zigaretten lagen.
Rechts führte die Treppe zu den Schlafzimmern und Sven ging nach oben und betrat, nach Pro-Forma-Klopfen, Nikolas Zimmer. Hier war die Luft verbraucht und roch nach Tier und Marihuana. Vorhänge dämpften das Tageslicht zur Aquariumsbeleuchtung. Auf dem Schreibtisch stand eine Wasserpfeife zwischen Papierbergen, die Unterlagen sein konnten oder Müll. Nikolas lag in psychedelisch bunter Boxershorts auf dem Bett, den Kopf unter Kissen vergraben.
„Aufstehen.“ Erst nach kräftigem Schütteln bewegte sich Nikolas und rollte grummelnd auf die Seite.
„Was ist?“
„Ich muss mit dir reden.“
Während Nikolas duschte, ging Sven in die Küche, kochte Kaffee für zwei, sah auf die Straße – auch hier Sonntagmorgenleere, nur ein Junge kam mit dem Fahrrad vom Bäcker. Svens Kopfschmerzen waren fast verschwunden.
„Also was gibt’s?“ Nikolas schlurfte im Bademantel herein. „Ich hoffe es ist wichtig. Ich hatte kaum vier Stunden Schlaf.“
Sven erzählte von seinem Traum.
Sven träumte von Bomben – sie fielen als Hakenkreuz vom Himmel. Wolken gruppierten sich um das Kreuz, zerfleddert vom Höhenwind, rotglasiert vom letzten Licht, sie krochen westwärts. Das Hakenkreuz wuchs, langsam, kaum dass Sven es bemerkte, aber es wurde größer, plusterte sich auf wie ein Kugelfisch.
In den Straßen der Altstadt standen die Menschen und sahen zum Himmel, zwischen ihnen ging Sven wie durch einen Tempel. Den Meisten war Unverständnis ins Gesicht geschrieben, was sie sahen, war nicht ihre Welt. Nur eine paar Neo-Nazis, die in Stiefeln und Lederjacken auf dem Kirchplatz standen, wirkten fröhlich und erwartungsvoll, als käme vom Himmel die Erlösung.
Auch die Autos waren eingefroren. Sven sah einen mintgrünen Cadillac. Der Fahrer lehnte aus dem Fenster, den Kopf zum Himmel verdreht, Speichel hing ihm als Glasfaden vom Kinn.
Lange konnte es nicht dauern, bis das Hakenkreuz auf die Erde schlug – Sven unterschied bereits einzelne Bomben, kleine schwarze Punkte, harmlos wie Pixel. Er senkte den Blick. Zwischen Zombies stand seine Schwester. Auch sie sah zum Himmel und Sven ging zu ihr. Bevor er ankam, schlugen die Bomben ein.
„Krasser Scheiß.“ Nikolas Augen leuchteten. Sven fühlte sich ungut – der Traum und die Einsamkeit danach hatten ihre Wirklichkeit verloren, waren verschrumpelt wie Luftballons und er fühlte sich lächerlich, überhaupt davon erzählt zu haben.
„Das ist ein Zeichen“, sagte Nikolas und nickte gedankenschwer. „Ganz klar. Der Traum bedeutet etwas.“
„Und?“
Nikolas zuckte die Schultern, zeigte seine Handflächen. „Ich weiß es nicht. Dafür brauchen wir nen Wahrsager.“
Er trank seinen Kaffee und ging Sven voran in den Garten. Anna sonnte sich bäuchlings auf der Liege, den Kopf auf die Arme gebettet. Ihr Bikini-Oberteil lag im Gras. Die Sichtschutzhecke schnitt den Himmel zum perfekten Quadrat.
„Wir brauchen das Auto.“
Anna fuhr hoch. „Du hast gekifft. Du kannst nicht Autofahren.“
„Bleib locker. Sven fährt. Also, wo sind die Schlüssel?“
„Wo sie immer sind.“
„Vielen Dank Schwesterherz.“
„Du mich auch.“
Nikolas fuhr und Sven ließ seinen Arm aus dem Fenster hängen und versuchte, sich seine Sorgen nicht anmerken zu lassen. Keiner von beiden mochte die Musik im Radio, aber Nikolas brauchte sie, um wach zu bleiben. Die Innenstadt zog vorüber – die Straßen noch immer leer, nur vor den Bäckern reihten sich Menschen, und gelegentlich Tagesausflügler in vollgepackten Autos, die Kinder quengelnd oder teilnahmslos zwischen Luftmatratzen und Sonnenschirm.
Nikolas hielt vor einem Einzelhaus. Im Garten parkte ein BMW, Reifenspuren zogen sich durch Beet und Rasen. Die Haustür stand offen. Ansonsten wirkte das Haus langweilig korrekt – blendend weiß gestrichen, die Fenster verhängt, hübscher Briefkasten, hübsches Mülltonnenhäuschen und blühender Lavendel.
Sie stiegen aus und gingen zum Hauseingang. Neben der Tür hing ein Schild in Gold: Psychotherapeut - Dr. P. Hildesheimer.
„Du hast mich zu einem Seelenklempner geschleppt?“
„Der ist auch Wahrsager. Hat mir gestern aus der Hand gelesen. Also bevor er abgestürzt ist. War wirklich gut. Der kann uns helfen. Fragt sich nur, ob wir ihn wach bekommen.“
Durch den Hausflur, Garderobe aus Edelstahl, Spiegel im geschwärzten Eisenrahmen, kamen sie ins Wohnzimmer, wo ein Bambus in den Splittern seiner Vase lag. Wie Blut war Pflanzengranulat über den Boden gespritzt.
„Ich such mal unsern Mann. Und du parkst am besten den BMW um. Die Schlüssel stecken wahrscheinlich noch.“
Also ging Sven nach draußen und platzierte den Wagen auf der Auffahrt. Anschließend holte er sich einen Topf aus der Küche und sammelte Granulat und Scherben ein, steckte den Bambus dazu, ließ Wasser drüber laufen. Er schubste die letzten Splitter unter den Teppich, als Nikolas mit Dr. Hildesheimer hereingewankt kam. Der Doktor sah müde aus – gerötete Augen, geschwollene Tränensäcke, die Haut grau wie Asphalt. Er trug einen marineblauen Anzug, in dem er offensichtlich geschlafen hatte, und eine Hornbrille mit Gläsern dick wie Fensterglas.
„Wir gehen in die Küche“, sagte Nikolas. „Vielleicht gibt’s ja Kaffee.“
Sie fanden keinen Kaffee, dafür eine breite Auswahl schwarzen Tees. Sven füllte den Wasserkocher, Nikolas warf wahllos Beutel in eine Kanne. Während der Tee zog, setzten sie sich zu Hildesheimer, der, den Kopf gegen die Wand gelehnt, schnarchte.
„He. Mein Freund hier hat einen Traum für Sie.“
Sven erzählte und Nikolas wirkte dabei kribbelig wie ein Grundschüler, während bei Hildesheimer unklar war, ob er hörte oder schlief. Als der Traum berichtet war, zog Nikolas die Teebeutel aus dem Wasser, warf sie in die Spüle, und reichte Hildesheimer die Kanne. „Los, trinken Sie.“
Der Doktor musterte Nikolas, fragte sich vielleicht, ob das eine Drohung war, trank schließlich, langsam und methodisch, und behielt Nikolas dabei im Blick – Sven schien keine Gefahr zu sein.
„Und?“
„…“
„Was sagen Sie zu dem Traum?“
„Dem Traum?“
„Ja, verdammt.“
Der Blick des Doktors streifte Sven, vielleicht wollte er Hilfe, und kehrte zu Nikolas zurück, der ihm jetzt bedrohlich nahe war, kaum eine Handbreite trennte ihre Gesichter. „Sie müssen den Ursprung finden.“
„Sie meinen den Sender.“
„Ja, ja, den Sender.“
„Wunderbar. Vielen Dank. Und schlafen sie gut.“
Hildesheimer sah ihnen nach als wären sie Geister, die geäderten Augen groß wie Untertassen. Seine Lippen zitterten dabei, vielleicht wollte er weinen, vielleicht war es die Müdigkeit. Sven lächelte zum Abschied.
Sie stiegen ins Auto und fuhren den Weg, den sie gekommen waren. Diesmal fand Nikolas eine CD unterm Sitz und sie hörten Reggea statt Radio, verkifft und richtungslos, eine Bootsfahrt durchs Nirwana. Die Sonne war ein weißer Ball am Himmel, der Fahrtwind durchs Seitenfenster glich einem Fön und überm Asphalt zerfloss die Luft zu Glas.
„Scheiß Wetter“, sagte Nikolas. „Ich hoffe es regnet bald.“
„Anna dürfte es gefallen.“
Nikolas warf Sven einen Seitenblick zu und dieser sah aus dem Fenster. „Klar. Sie brennt sich ihr Hirn weg.“
„Was willst du jetzt eigentlich machen?“
„Wie der Doktor gesagt hat. Den Sender finden.“
„Dir ist, klar, dass er total breit war?“
„Gerade deshalb. Die Leute sagen dann die Wahrheit. Das Gras erweiterte die spirituellen Fähigkeiten, hilft quasi bei der Sendersuche, ist ähnlich wie beim Radio.“
„Du kiffst zu viel.“
Als sie wiederkamen lag Anna noch im Garten, Sonnenhut auf dem Kopf, die Augen verborgen hinter einer Sonnenbrille, und hörte Musik über Kopfhörer.
„Bald bist du so rot wie ein Hummer“, meinte Nikolas.
Sie hob den Kopf, nahm einen Stöpsel aus dem Ohr. Nikolas wiederholte seinen Satz und sie zeigte ihm den Mittelfinger.
Den Rest des Tages sahen sie fern.
Sven bog auf die Autobahn und hängte sich hinter einen Tiertransporter. Überholen hatte keinen Sinn, der Lieferwagen fuhr bereits am Limit. Neben ihm saß Medjin und rauchte. Der Qualm zog wie Nebel durch die Fahrerkabine. Medjin suchte einen Sender im Radio und fand keinen. „Scheiße.“ Wieder Schweigen und der Motor am Anschlag. Über den Rückspiegel sah Sven gelbes Holz und lackierten Stahl, Krankenbetten, gestapelt bis zur Decke. Die Klimaanlage strich wie Kühlschrankluft über seine Arme.
Svens Chef hieß Olaf und war Besitzer eines Sanitätshauses und Führer der städtischen Neo-Nazis. Groß gewachsen, durchtrainiert, gab er einen Vorzeige-Arier. Jeden Morgen stand er auf dem Parkplatz neben seiner BMW und begrüßte die Mitarbeiter per Handschlag.
„Guten Tag. Wir bringen das Krankenbett.“
Klein und zittrig war der Mann, der Sven die Tür öffnete, das Gesicht von Altersflecken übersät. Seine Hand lag schlaff in Svens Fingern.
„Ich würde mir mal ansehen, wo das Bett denn hinkommt. Mein Kollege holt derweil die Einzelteile.“
Der alte Mann nickte und winkte Sven in den Flur. Hier roch es nach Krankheit und Staub und der Teppichfußboden schluckte alle Geräusche – ein Stummfilmeffekt und Svens Bewegungen kamen ihm verlangsamt vor. An der Wand hing ein Heiliger, seine Haut, seine Kleidung künstlich grell bemalt, in den Händen hielt er Kreuz und Schlüssel. Sven zog Einmalhandschuhe an.
Olaf war deutsch, obwohl seine Eltern aus Schweden stammten, er sprach deutsch und dachte deutsch, aß deutsch, trank deutsch, rauchte deutsch und schlief deutsch. Auch sein Büro war deutsch: deutsche Flagge, deutsche Karte, deutscher Tisch aus deutscher Eiche, deutscher Teppich und deutsche Musik, meist Wagner oder Beethoven, deutsche Kinder strahlten auf den Bildern an den Wänden – wenn Sven eintrat, fühlte er sich wie in einem Museum.
Im Fernseher lief eine Landreportage bei überlautem Ton - Felder und Wiesen und ein Bauer bei seinen Kühen im Stall. Die Frau im Sessel gegenüber saß zusammengekrümmt, als wäre ihr Rückgrat gebrochen, Schläuche steckten wie Gewürm in ihrer Nase. Vom Sauerstoffgerät verstärkt, glich ihr Atem dem Zischen eines lecken Reifens. Sven wusste nicht, ob sie überhaupt noch lebte, doch begrüßte er sie und baute unter dem Blick ihrer Milchaugen mit Medjin das Krankenbett zusammen – die Hälften zusammenschrauben, Motor installieren, Kopf- und Fußteil einhängen, Strom anschließen. Er erklärte dem Mann die Steuerung des Bettes, fuhr die Kopfstütze rauf und runter, und fragte sich dabei, wie dieser seine Frau überhaupt ins Bett bekommen sollte.
Während der Mittagpausen bekam Olaf Besuch von Nazi-Weibern. Sie trugen Lederjacken und Kampfstiefel, Wehrmacht-Tattoos und Piercings, sie kamen durch den Hintereingang, damit die Kunden sie nicht sahen, und verschwanden in Olafs Büro. Von der Raucherecke aus konnte Sven ihre Schreie hören. Er unterschied fünf verschiedene Mädchen, wusste aber nicht, ob sie den Wochentagen zuzuordnen waren.
„Wie lange dauert es eigentlich, bis man sich daran gewöhnt? Ich meine an die Alten.“
Sie waren auf dem Rückweg, fuhren genau in die Sonne, die rot wie eine Frucht am Himmel hing.
„Braucht eine Weile“, meinte Medjin und rauchte aus dem Fenster.
„Ist irgendwie schon krass.“ Svens Nagelbetten brannten vom Desinfektionsmittel, das er über seine Hände gekippt hatte.
Nach der Arbeit wartete Nikolas auf dem Parkplatz, weil er nichts zu tun hatte. Also schob Sven sein Fahrrad Richtung Innenstadt, entlang der Ausfallstraße, auf der die Pendler die Stadt verließen. Abseits lagen Kornfelder, sonnenheiß und staubig.
„Was ich nicht verstehe“, sagte Sven, „weshalb die Mädchen das machen. Ich mein, die müssen doch wissen, dass er jeden Tag eine Andere hat.“
„Vielleicht dienen sie Volk und Vaterland. Oder er hat einfach einen großen Schwanz. Vielleicht stehen sie auch auf Macht. Schließlich schubst er die ganzen Glatzen rum und sagt, was zu tun ist.“
Ein Motorrad jagte vorbei, 50 km/h über dem Tempo-Limit, der Motor Urzeitgrollen, der Fahrer schwarzes Leder, schwarzer Helm – Olaf der Donnergott.
„Das ist der andere Punkt. Weshalb ist er der Führer? Ich mein, er gibt sich ganz normal. Betreibt keine Propaganda und auf der Arbeit ist er eher anti-hierarchisch.“
„Vielleicht gerade deshalb. Vielleicht auch weil er die Mädchen knallt.“
„Das ist ein Ringschluss. Sie vögeln ihn, weil er Macht hat und er hat Macht, weil er sie vögelt. Das funktioniert nicht.“
Beim Essen lief der Fernseher – Spekulationen über den anstehenden Nazi-Marsch, unterlegt mit Aufnahmen vergangener Jahre: Gleichschritt und maskierte Steinewerfer, Polizisten mit Schild und Schlagstock. Auch dieses Jahr wurden Ausschreitungen erwartet.
„Wie ich die Kerle hasse.“ Anna trank Dosenbier, ihr Teller stand fast unberührt zu ihren Füßen. „Man sollte die alle an die Wand stellen und drauf halten.“ Sie schoss mit einer imaginären MP auf den Nachrichtensprecher, der Rückstoß wirkte übertrieben.
„Oder wir bauen Gaskammern“, meinte Niko, der zwischen Sven und Anna saß und mehr Salat mit Putenbrust verschlang als sie beide zusammen. „Geht viel schneller, macht weniger Dreck.“
„Du hältst dich immer für so beschissen politisch korrekt. Demonstrierst ein wenig gegen Nazis, schwenkst ein wenig Schilder. Oh. ‚Unsere Stadt ist bunt.‘ ‚Lang lebe die Demokratie.‘ Gott, dass bringt so viel.“
Historische Nazis flimmerten über den Bildschirm, Reihe für Reihe marschierten sie zum Endsieg, über ihren Köpfen das Hakenkreuz, und die jubelnde Menge riss den Arm zum Hitlergruß.
„Scheiße. Mir reicht’s.“ Anna stand auf und verließ das Wohnzimmer. Ihre Hotpants war verrutscht, Sven sah einen Streifen ihres Tangas. Gemeinsam mit Niko verfolgte er die Nachrichten bis zum Ende und anschließend das Wetter. Es würde heiß bleiben, tagelang, vielleicht für Wochen. „Kann es nicht regnen?“
Und die Nazis kehrten wieder, eine Dokumentation über die Olympiaspiele 36, Thomas Wolfe wurde als Chronist der Ereignisse genannt.
„Versteh das nicht falsch“, sagte Sven. „Aber in gewisser Weise sehe ich schon, was so toll ist an den Nazis. Ich mein, das Leben wird einfach. An den Feiertagen wird marschiert, im Herbst auf die Polen geschossen und alles mit Segen des Führers. Wenn du eine Frage hast, eine, die dich wirklich beschäftigt, die dich Nachts wach hält und so, weil du nicht weißt, was richtig ist – da gehst du einfach zur Partei und die geben dir eine Antwort, die sagen dir, was zu tun und zu lassen ist.
Klar kommt viel Scheiße dabei heraus und ich bin der Letzte, der sich ein viertes Reich wünscht. Ich bin allein schon viel zu bequem für den Krieg. Aber diese Einfachheit ist schon faszinierend.“
Nikolas lachte. „Dir ist echt nicht zu helfen.“
Anna stand in der Tür, hinter ihr die abendleere Straße und rosa Wolken am Himmel. Eine rote Bluse und ein weißer Rock machten ihre Reize weniger aggressiv, fast mädchenhaft.
„Ist schon wieder Mittwoch?“, fragte Sven. Annas Besuche machten ihn nervös, nach all den Wochen.
„Sieht so aus.“
Sie küsst ihn flüchtig zur Begrüßung, schob sich an ihm vorbei in den Flur. Sven bemerkte ein neues Parfüm: Zimt und Moschus, unverfälscht von Zigarettenqualm – er hatte sie gebeten mittwochs nicht zu rauchen.
„Möchtest du ein Bier?“
„Gerne.“
Er holte zwei Flaschen aus dem Kühlschrank, das Glas lag angenehm kühl in der Hand, und ging ins Wohnzimmer, wo der Fernseher lief. Anna saß auf dem Sofa, die Beine keusch übereinander geschlagen, den Blick gesenkt, ein Unschuldsspiel, das Sven jedes Mal verwirrt – er verstand nicht, was Anna sich vorspielte.
„Was macht Niko?“
„Bewerbungen schreiben.“
„Du hast ihn verdonnert?“
„Klar, ich hab keinen Bock mehr ihn durchzufüttern. Soll er selbst das Geld verdienen, das er wegkifft.“
Sie tranken Bier und sahen einen Vorabendkrimi. Das Licht auf dem Wohnzimmerboden wanderte.
„Manchmal bewundere ich Niko. Dass er einfach weiter macht wie früher. Ich kann das nicht“, sagte Sven, als der Film vorbei war und der Fernseher schwarz.
„Herzlichen Glückwunsch, du wirst erwachsen.“
„Will ich das?“
„Willst du ewig kiffen, wie er?“
„Er scheint Spaß zu haben.“
„Fragt sich nur, wie lange …“
Er zuckte die Schultern, sie küsste ihn, ihre Zunge träge vom Abendlicht. Sven kannte die Regeln – das hier war Zeitvertreib und Unterhaltung, keine Beziehung. Aber es machte Spaß und ließ ihn vergessen - kein Hund lief mehr im Kreis, keine Schwester verschwand mit der Nacht, die alte Frau lächelte im Schlaf. Annas Augen waren Kohlen im Gegenlicht, ihre Haut glänzte vom Schweiß.
Sven blieb liegen, während Anna duschte. Im Fernsehen lief eine Tier-Doku: Löwen fraßen Zebras, Elefanten liefen zwischen Bäumen, Vögel flogen in Scharen.
„Ich fand’s schön“, sagte Anna zum Abschied und lächelte. Wasser tropfte aus ihren Haaren, leise Aufschläge auf dem Parkett.
Kurz vor Feierabend wurde Sven ins Büro gerufen, wo Olaf hinter seinem Schreibtisch saß und Schönberg hörte. „A Survivor from Warsaw“. Den Kopf in die Hände gestützt, glich er einem Professor. Sven wartete an der Tür. Bei ihm löste die Musik Beklemmung aus, eine Annäherung an das Leid von damals.
„Achtung!“, rief Schönbergs Offizier und Olaf sprang auf, knallte die Haken zusammen und brüllte mit. Der Professor war verschwunden, jetzt stand die SS vor Sven.
„Entschuldige. Ein dummer Scherz.“ Olaf strich sich über die Glatze, lächelte wie ein Junge, der eine Verfehlung gesteht – tut mir ja Leid, aber so schlimm war’s auch nicht.
„Keine Ursache.“
„Nun, vielleicht fragst du dich, weshalb ich dich gerufen habe? Möglicherweise eine wichtige Besprechung mit dem Chef. Vielleicht ist etwas schief gegangen. Und dann dieser Scherz. Du musst wirklich entschuldigen.
Jedenfalls, es nichts schief gegangen. Es läuft sogar alles ganz hervorragend. Ich habe Lob von Kunden erhalten für deine tolle Arbeit. Du bist ja noch nicht lange hier, aber sicher einer meiner besten Mitarbeiter. Du scheinst Spaß zu haben an der Arbeit. Bist ehrgeizig. Nimmst die Sache ernst. Das gefällt mir. Kurz und gut. Ich möchte dich zum Essen einladen. Als Belohnung für deine Arbeit, versteht sich.“
Etwas an Olafs Gesicht störte Sven, das Lächeln wirkte weder höflich, noch freundlich, sondern erinnerte an Svens kleinen Bruder, als er ihn vor einem Porno-Film erwischte.
„Und? Was sagst du.“
„Oh. Sehr freundlich. Ich komme gerne.“ Sein Lächeln war bemüht, aber er wusste, das merkte man nicht.
„Passt Sonntag.“
„Ja. Ist machbar.“
„Wunderbar. Und einen schönen Feiertag.“ Er schüttelte Sven die Hand, dass dessen Finger schmerzen.
„Ich glaube Olaf ist schwul. Er hat mich zum Essen eingeladen und mir dabei auf den Schwanz gestarrt.“
Nikolas lachte, durchs Telefon klang es übertrieben, Sven musste an Comics denken, an Bauchschmerzen und Atemnot.
„Du warst nackt?“
„Natürlich nicht. Durch die Hose.“
Es dauerte, bis Nikolas sich beruhigte. Sven sah genervt aus dem Fenster – kein Hund im Garten gegenüber, dafür ein Rasensprenger, der in Zeitlupe fächelte. „Du hast gekifft, oder?“
„Klar“, japste Nikolas. „Auf jeden Fall wären damit die Mädchen geklärt. Die sind sein Alibi.“ Wieder Lachen. „Ich mein seine Jungs stehen bestimmt nicht auf Schwule.“
„Aber warum ist er dann Nazi?“
„Warum ist man überhaupt Nazi?“
„Du weißt, was ich meine.“
„Keine Ahnung. Vielleicht fickt er nur Arier.“
Sven schlief und träumte von Olaf und einem Nazi-Weib. Sie trugen schwarze Uniformen und Lederstiefel. Gesichtsausdruck und Brille des Nazi-Weibs ließen an eine Krankenschwester oder eine Lehrerin denken. Über ihren Köpfen hing ein Reichsadler in den grellen Farben einer Heiligenfigur und Sven erkannte das Zimmer seiner Rollstuhlkunden. Im Bett lag die Frau, dabei war nur ihr Atem zu hören, der Körper unter den Decken kaum zu sehen. Sven wollte weg von ihr.
„He, Sven.“ Olaf schnipste mit behandschuhten Fingern. „Hier spielt die Musik. Ja, wir wollen dir den Arsch blasen. Dir zeigen, wo’s langgeht.“
Hinter Olaf und dem Nazi-Weib hing eine Leinwand und als Olaf wieder schnipste, erschien die Abbildung zweier behaarter Männer-Hintern, ein symmetrisches Bild, die Spiegelachse schwarz markiert.
„Was du hier siehst, sind ein Arier-Arsch und ein Nicht-Arier-Arsch.“
Das Nazi-Weib begleitete Olafs Vortrag mit den Gesten eines Zeigestabs, wies erst auf den linken, dann den rechten Teil der Abbildung. Sven erkannte keinen Unterschied, für ihn waren beide Hintern gleich.
„Ja, das denkst du. Aber die Unterschiede sind klar ersichtlich. Der Nicht-Arier-Arsch ist verklemmt, kriecherisch, unansehnlich. Eine Schande, oh ja. Aber der Arier-Arsch. Der ist offen, bereit, empfänglich. Bereit zum Ficken. Er ist die Zukunft der Menschheit. Der Über-Arsch. Heil Arsch!“
Olaf und das Nazi-Weib schlugen die Hacken zusammen, ein synchrones Knallen, und rissen die Arme zum Hitlergruß.
Sven wusste, welchen Arsch er wollte, zwei pralle Halbkugeln und in der Mitte der feuchte Schatten schwarzer Haare, unerforschtes Gebiet, doch längst bekannt, eine Heimkehr bloß.
„Hi. Ich wollte fragen, ob du vielleicht Lust hast, Kaffee zu trinken? Also mit mir.“
„Kaffeetrinken? Du willst ficken, oder? Ich hab dir gesagt, wenn du Sex willst, frag einfach. Und ja. Komm vorbei.“ Anna legte auf und Sven brauchte ein paar Minuten und zwei Gläser Wasser, um sich normal zu fühlen
Er verließ sein Haus und fuhr durch die Vorstadt - gleißende Autos und klebriger Asphalt, Kinderschreie aus den Hintergärten und kein Mensch auf der Straße. Als er ankam, lief ihm der Schweiß in Strömen und sein Kopf fühlte sich diesig von der Hitze. Auf sein Klingeln öffnete Nikolas in Bermudashorts und Flip-Flops.
„Was schaust du so überrascht?“
„Nichts.“
„Kommst du mit zur Demo?“
„Eher nicht.“
„Bist du pro Nazi?“
„Nein.“
„Dann musst du auch Stellung beziehen. Nicht nur reden.“
„Ich bin mit Anna verabredet.“
„Gott. Das könnt ihr doch auch später machen.“
„Können wir nicht“, sagte Anna. Sie war aus dem Garten gekommen, trug einen Bikini mit Blumenmuster. „Was willst du überhaupt auf der Demo?“
„Was werde ich schon wollen? Bisschen Grölen, bisschen Steineschmeißen. Und nachher wird gesoffen und Bilanz gezogen. Wer hat wie viele Glatzen getroffen und wie viele Polizisten. Gott.“ Er trat in den fieberkranken Nachmittag.
„Pass auf dich auf“, rief Anna ihm nach.
Ein Winken über die Schulter blieb die Antwort.
„Wollen wir reingehen?“, fragte Sven, aber Anna blieb stehen und sah Nikolas nach, bis er um die Straßenecke bog, und wartete auch dann noch – Sven wusste nicht worauf. Folglich schwieg er, während Annas Geruch an ihm hochkroch: Sonnencreme und Schweiß und ein Parfüm, das blumig roch.
„Dann wollen wir mal“.
Sie erledigten die Sache in Annas Zimmer, wo Traummänner an den Wänden hingen, braun gebrannt und durchtrainiert, vor roter Sonne, dunklem Meer, tropfnass von der Brandung. Sven fühlte sich mickrig.
Später sahen sie Fern – Bilder von der Demo, Bilder von rotem Rauch und vermummten Gestalten, von Wasserwerfern und Polizisten. Anna suchte ihr Handy, rief Nikolas Nummer an. Sie hörten das Klingeln in seinem Zimmer. „Scheiße.“
„Ihm passiert schon nichts.“
Weiter liefen die Bilder im Fernsehen und Sven streichelte eine zitternde Anna.
Morgendämmerung sickerte ins Zimmer, als Svens Handy klingelte. Halb blind vom Schlaf, fischte er in seinen Klamotten.
„Er ist nicht zurückgekommen. Im Fernsehen haben sie von Verletzten gesprochen. Was wenn …“ Anna sprach zu schnell für Sven, er verstand kaum, was sie sagte.
„Hast du im Krankenhaus angerufen?“ Seine Zunge schmeckte nach Pappe, er räusperte sich.
„Nein. Ich…“
„Okay. Folgendes. Du machst dir einen Tee und legst dich hin. Ich rufe im Krankenhaus an. Und schau besser kein Fern mehr.“
Er stand auf und kochte sich Kaffee – Vogelzwitschern in der Küche und verblassende Sterne am Himmel. Dann rief er in der Klinik an. Die freundliche Schwester verneinte seine Frage und wünschte einen schönen Tag.
Sven fuhr zu Anna, die mit verheultem Gesicht die Tür öffnete. Er umarmte sie, streichelte ihr Haar. Als Anna nach Minuten noch weinte, führte Sven sie ins Wohnzimmer, legte sie aufs Sofa und kramte in Nikolas Nachttisch nach Beruhigungstabletten.
„Ich will nicht.“ Ihr Gesicht gehörte einem Kind, das ängstlich in die Welt starrte, die Augen kugelrund und groß.
„Es hilft dir.“ Wie zwei Schneeflocken verschwanden die Tabletten auf ihrer Zunge. Sven blieb bei ihr, bis sie schlief.
Nach zwei weiteren Tassen Kaffee, suchte Sven Nikos Handy und fand es unter seinem Bett zwischen Bierflaschen und Boxershorts. Über zwei Stunden hinweg klingelte er sich durch die Kontaktliste – viele hoben nicht ab, der Rest hatte keine Ahnung, wo Niko war, oder kannte ihn nicht.
Schließlich blieb noch der Wahrsager. Anna schlief noch, den Körper zum Fötus gekrümmt, und Sven hinterließ ihr eine Nachricht auf dem Küchentisch.
Mit dem Fahrrad unter sengender Sonne, versuchte er den Weg wiederzufinden. Schweiß verfärbte sein Hemd. Als er das Haus schließlich fand, wartete er vor der Tür – sein Körper strahlte Hitze ab wie ein Ofen, sein Kopf fühlte sich leer an. Nach ein paar Minuten war er wieder Mensch und klingelte.
Hildesheimer öffnete die Tür, ganz der perfekte Psychologe, mit Anzug und Brille, die Haare platt gekämmt, ein Lächeln auf die Lippen geklebt. „Sie haben einen Termin?“
„Nein. Ich war letzten Samstag hier.“ Etwas wie Erinnerung huschte über Hildesheimers Gesicht und Sven erzählte von Nikolas.
„Da kann ich leider nicht helfen.“
„Aber Sie haben ihn doch quasi auf den Weg geschickt.“
„Nein.“ Hildesheimer schüttelte den Kopf, großväterlich, onkelhaft, Sven wurde wütend. „Ich habe nur betrunken vor mich hin geschwafelt. Ich neige leider zum Wahrsagen, wenn ich zu viel trinke. Muss mit dem Wunsch zusammenhängen, meine Zukunft unter Kontrolle zu haben. Tut mir leid. Was ich gesagt habe, hat keine Bedeutung.“
Anna wartete am Küchentisch. Ihr Gesicht machte Sven traurig: die Augen von Schatten untergraben, ihre Haut ungewohnt blass, die Haare zerzaust – ein Vogel, aus dem Nest gefallen.
„Niemand weiß, wo er ist.“
Sie weinte nicht, sie nickte und sah an ihm vorbei.
„Und wenn er währenddessen nach Hause kommt?“
„Dann ist alles gut. Zu Hause findet er sich allein zu Recht. Nun komm schon.“
„Ich will nicht.“
„Du brauchst Ablenkung.“
„Warte. Ich mach mich fertig.“
Bis sie wiederkam, saß Sven auf den Stufen zur Haustür, in der Hitze der Wegplatten, die die Luft am Flirren hielt. Das Gras im Vorgarten war verdorrt, gelb-braune Büschel auf gebackener Erde. Jenseits der Straße stand ein Mann mit nacktem Oberkörper, gerötet vom Abendlicht und Sonnenbrand, und sprengte seinen Rasen mit dem Gartenschlauch. Sven schwitzte.
„Da bin ich wieder.“
Sie sah besser aus – die Haare waren gewaschen und gekämmt, die Augenringe überschminkt und ihre Augen wirkten weniger wie Glas.
Durch abendfrohe Straßen gingen sie Richtung Innenstadt, bis Sven eine Kneipe fand. Der Besitzer war Ostflüchtling, jedenfalls seine Eltern, und an den Wänden hingen Bilder von Schlesien und Königsberg.
„Sag bloß, das ist ein Nazi-Lokal.“
„Nicht direkt. Der Besitzer ist nur geübter Nostalgiker. Der will keine Heim-ins-Reich-Aktion. Ich hab mal mit ihm darüber gesprochen. Er war nicht mal dort. Will sich die Vorstellung nicht kaputt machen. Ostpreußen ist seine Ideal vom goldenen Leben.“
Sie bestellten Bier und tranken, Anna schneller als sie sollte.
Das Gespräch wurde krampfhaft und bemüht, Sven versuchte wegzukommen von Nikolas und den Nazis, aber Anna hing daran und wurde immer betrunkener.
„Ich kapier’s nicht“, sagte Anna, unnötig laut, während Sven reichlich verspätet aufging, dass er das falsche Lokal gewählt hatte. „Ist schließlich die einzig klare Lehre der Geschichte. Nazis sind scheiße. Wie kann man das nicht verstehen?“
„He. Kleine.“ Zwei Nazis standen hinter Anna, in Armeehosen und Kampfstiefeln, ihre Köpfe glatt rasiert. Auf ihren Armen ritten Frauen, tintenblau, auf Bomben. „Du hast uns eine Frage gestellt?“ Der Eine sprach, der Andere grinste. Der Sprecher trug goldenen Zahnersatz.
Anna schwieg und sah zu den Nazis auf.
„Wir wollen uns dir gerne erklären. Ich finde beim Tanzen geht das am besten. Du nicht auch?“
Ihre Arme um die Brust geklammert, krümmte Anna sich zusammen. Ihr Blick irrlichterte von den Nazis zu den Gästen, vom Wirt zu Sven. „Zier dich nicht so.“
„Ihr gehört doch sicher zu Olafs Jungs?“ Synchron schwenkten die Blicke der Nazis auf Sven. „Ich geh morgen mit ihm Essen. Und ich glaube nicht, dass er sich freut, wenn ihr meine Freundin anmacht.“
„Komische Freundin, die du hast.“
„Sie ist nur betrunken.“
„Du solltest besser aufpassen.“
Die Nazis trollten sich.
Den Heimweg über weinte Anna. Sven hielt sie im Arm und trug sie halb nach Hause. Im Garten gegenüber stand kein Mann mehr und der Himmel war schwarz statt rot. Die Fenster des Hauses wirkten traurig.
„Soll ich noch reinkommen?“ Und als sie den Kopf schüttelte: „Diesmal ist es kein verklemmter Wunsch nach Sex.“
Ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Nein. Ist schon in Ordnung. Ich komm zu Recht. Und Danke für alles.“
„Ich rede morgen mit Olaf. Und am Montag rufen wir die Polizei.“
Sven und Olaf trafen sich bei schwüler Luft und Wetterleuchten vorm Italiener.
„Ich dachte, das wird dem Anlass gerechter als ein deutsches Wirtshaus.“
An den Wänden hing Romantik-Kitsch, Sonnenuntergänge und Reiter auf grüner Flur, auf den Tischen standen Weinflaschen als Kerzenständer. Im Hintergrund liefen italienische Schlager. Die meisten Plätze waren besetzt und ein Kellner führte sie zwischen flirtenden Paaren und schwatzenden Familien zu einem Tisch im Hinterhof. Hier waren die Wände gräulich-weiß und in einer Ecke standen Fahrräder.
Sie bestellten Pizza, dazu Salat und Wein.
Während sie warteten, hielt Olaf seine Hände auf dem Tisch gefaltet, als würde er beten, und Sven fühlte sich an Filme erinnert, in denen harte Kerle nach Haus kommen und wieder Mamas Liebling werden, samt Gutenachtkuss und Wärmflasche.
„Nochmal wegen des kleinen Scherzes in meinem Büro.“
„Nicht nötig. Ich war nur überrascht.“
„Lass es mich erklären. Weißt du, es beschäftigt mich. Du bist in solchen Dingen ja sehr tolerant und das mag ich an dir, aber letztlich bist du halt kein Nazi. Folglich war die Situation unmöglich für dich. Dein Chef steht vor dir und spielt den SS-Offizier. Schließlich kannst du nicht sagen, hallo, geht’s noch. Du bist ja bei mir angestellt. Und das habe ich ausgenutzt.
Nein, lass mich ausreden. Es ist auf Dauer einfach furchtbar schwer, alles richtig zu machen. Immer politisch korrekt zu sein. Schließlich arbeiten Türken bei mir. Da muss ich aufpassen. Ich muss immer überlegen, was ich sage, wie ich mich verhalte. Muss immer alles richtig machen.
Und da ist es so einfach, manchmal nur Nazi zu sein. Ein bisschen gegen Ausländer sein, ein bisschen schockieren. Das ist sehr befreiend. Fast als würde ich ein Gefängnis verlassen und endlich ins Freie treten. Natürlich hält das Gefühl nicht lange. Im nächsten Moment, weiß ich schon, was ich falsch gemacht habe. Es ist wirklich nervig.“
Er schüttelte den Kopf und der Kellner brachte das Essen.
Das weitere Gespräch drehte sich um Adiaphora – das Wetter, Filme, die Wahlen im nächsten Sommer; und Sven wartete die ganze Zeit auf sein Thema des Abends, bis das Nachtisch kam, Tiramisu für beide, und ihm die Zeit knapp wurde.
„Wegen der Demo gestern.“
„Leidige Sache. Ich sag meinen Jungs immer, sie sollen sich zusammenreißen. Wirft schließlich kein gutes Licht auf uns. Aber gelegentlich schlagen sie halt etwas über die Stränge.“ Er lächelte väterlich dabei.
„Nun ein Freund von mir war auf der Demo und ist jetzt verschwunden.“
Sven schob Olaf ein Foto zu – Nikolas stand da vor einem Brückengeländer, lächelte schief in die Kamera.
„Das hat mit meinen Jungs nichts zu tun. Die prügeln sich zwar manchmal ein wenig, aber sie entführen niemanden. Aber ich kann gerne für dich mal rum fragen. Vielleicht weiß ja jemand was.“
Von da an schwiegen sie beide, bis sie wieder im Freien standen, unter einem Himmel, der langsam dunkel wurde und erste Sterne zeigte. Die Luft war drückend schwül geblieben, ein Gewitter hatte es nicht gegeben.
„Nun, hast du Lust, noch zu mir zu kommen. Ich habe guten Wein zu Hause. Wir könnten noch ein wenig Reden, noch etwas Spaß haben.“
„Nein, tut mir leid. Ich hab etwas Kopfschmerzen. Ich werde mich wohl schlafen legen.“
„War der Wein nicht gut?“
„Doch, doch. Die letzten Tage waren nur etwas viel für mich. Ich brauche einfach Ruhe.“
„Ich hoffe, dein Freund kommt zurück.“
In der Nacht klingelte es bei Sven.
Er saß im Bett und lauschte auf die Stille danach, lauschte auf Geräusche an der Tür, auf Schritte, die den Flur durchquerten. Ein hämisches Lachen, schien der Mond durchs Fenster, reduzierte Möbel zu Albgestalten, zu Projektionen von Kindheitsängsten.
Das zweite Klingeln weckte ihn vollständig. Zwar blieb die Angst, doch er stieg aus dem Bett und ging zur Tür.
Draußen stand Niko, grinsend in Bermuda-Shorts und Flip-Flops, hinter ihm die Geisterstadt.
„Hast du sie noch alle?“
„Ich danke für die freundliche Begrüßung.“
„Wir haben uns vielleicht Sorgen gemacht?“
„Kann ich jetzt rein kommen? Oder reden wir weiter durch die Tür?“
Sven ließ Niko herein und ging in die Küche.
„Hast du Bier?“
Gelbes Licht flutete die Küche, als Sven den Kühlschrank öffnete. Mit zwei Flaschen kehrte er zum Tisch zurück und setzte sich.
„Also, wo warst du?“
„Auf der Demo hab ich Mike getroffen. Er wollte mir helfen wegen deinem Traum.“
„Ich glaube es nicht.“
„Was?“
„Wegen meinem Traum tust du so was deiner Schwester an. Sie ist total fertig.“
„Der Traum ist wichtig.“
„Du lebst echt in einer anderen Welt.“
Schweigend wurde das Bier weniger. Sven stand auf, holte zwei neue Flaschen. Mit einem Plopp sprangen die Kronkorken in die Dunkelheit.
„Du hättest wenigstens Anrufen können.“
„Ich hatte mein Handy vergessen.“
„Und die Leute, bei denen du warst, haben kein Telefon?“
„Die haben Angst, dass sie von Geistern angerufen werden. Das nennen die unkontrollierte Kontaktaufnahme. Ganz böse Sache. Die sind da total paranoid.“
„Mein Gott.“
„Du könntest ruhig netter sein. Die Sache war nicht leicht. Wir haben ein halbes Dutzend Sitzungen gebraucht, um alles rauszubekommen. Schließlich mussten wir es ohne dich machen. Du hättest ja nicht mitgemacht. Du glaubst ja nicht daran.“
„Gut. Was ist rausgekommen?“
„Olaf.“
„Was?“
„Der Traum geht von Olaf aus. Er hat ihn gesandt.“
Sven musste lachen und verschüttete fast sein Bier dabei. Ernst wie Stein, wartete Niko, bis das Lachen verebbte und die Stille aus der Nacht zurückgekrochen kam.
„Und was soll ich jetzt machen?“
„Du musst ihn angreifen, damit er seine Kontrolle über dich verliert.“
„Ich soll ihn schlagen?“
„Wäre eine Möglichkeit.“
Sven schüttelte den Kopf. „Dann dreschen mir seine Glatzen den Schädel weg.“
„Und was willst du sonst machen?“
„Nichts.“
Nikolas nickte, er musste die Antwort gewusst haben.