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Survival of the fittest
Geduldig hatte die Katze gewartet, hatte nicht den Regen beachtet, der auf ihr Fell tropfte und nicht den Wind, der ihre Schnurrbarthaare erzittern ließ. Sie stand sprungbereit, alle Muskeln ihres Körpers in Alarmbereitschaft. Gleich würde es soweit sein, das spürte sie. Doch bevor ihr Opfer auch nur die Nasenspitze aus dem Loch in der Kalksteinmauer hervorstrecken konnte, bog ein Mercedes um die Ecke. Die Scheinwerfer erfassten die Katze. Mit einem Satz verschwand sie hinter dem nächstliegenden Bretterstapel.
Die hinteren Türen des Mercedes öffneten sich.
„Warum ausgerechnet in dieser gottverlassenen Gegend?“, fragte ein grauhaariger Mann, während die beiden Männer auf ein Fabriktor zugingen, „und warum zu dieser nachtschlafenden Zeit?“
„Herr Minister, hätten Sie es besser gefunden, wenn wir den Versuch im Reichstag durchgeführt hätten? Vor laufenden Kameras?“, kam die Gegenfrage der Staatssekretärs. Er erwartete keine Antwort. Und bekam auch keine. Sie erreichten das Tor. Der Minister hob die Faust, wollte anklopfen. Der Staatssekretär schaute ihn nur an und schüttelte den Kopf. Der Minister ließ den Arm wieder sinken. Das Tor rollte geräuschlos zur Seite. Ein rotblonder Jüngling begrüßte sie.
„Kommen sie, kommen sie. Das Experiment beginnt in wenigen Minuten.“
Sie folgten ihm in einen kleinen Raum. An der Stirnseite war eine Monitorwand aufgebaut. Auf allen Monitoren war das gleiche Bild zu sehen.
Ein rechteckiger, fensterloser Raum. Ein Tisch. Stühle. Fünf verwahrloste Männer, die in dem Raum hin- und herspazierten und sich immer wieder ängstlich anschauten. Keiner sprach.
Eine Tür öffnete sich. Ein Mann in einem weißen Kittel betrat den Raum.
„Ich dachte, wir wollten...“
„Später, Herr Minister, später“, wurde er von dem Staatssekretär unterbrochen.
Der Weißbekittelte gab jedem der Männer einen Stapel Papier und einen Bleistift. Wieder öffnete sich die Tür. Eine Frau, ebenfalls in einem weißen Kittel, betrat den Raum. Sie schob einen Servierwagen vor sich her. Sie blieb stehen und schaute die Männer der Reihe nach an.
„Setzen sie sich doch“, sagte sie und zeigte auf die Stühle.
Die Männer schauten sich an. Der erste setzte sich, die anderen taten es ihm nach. Die Frau verteilte Plastikbecher, stellte mehrere Flaschen auf den Tisch und setzte sich ebenfalls.
„Vielen Dank, dass sie sich freiwillig für diesen Test zur Verfügung gestellt haben“, sagte sie.
„Doktor Zimmermann hat sie ja bereits einem gründlichen medizinischen Check unterzogen. Nun können wir mit dem eigentlichen Test beginnen.“
Einer der Männer hob die Hand.
„Ja?“
„Wat sollen das für’n Test sein? Das hat uns noch keener nich jesacht.“
„Wir wollen beweisen, dass erwachsene Männer auch unter Alkoholeinfluss noch klare Entscheidungen treffen können“, antwortete die Frau.
„Na logo können wir das. Nich, Jungs?“
Beifälliges Murmeln.
„Das glaube ich ihnen gern“, unterbrach die Frau, „aber wir wollen dafür einen exakten wissenschaftlichen Beweis antreten. Sind sie bereit?“
„Aber immer. Her mit die Pullen.“
Die Männer tranken, füllten die Fragebögen aus, tranken weiter, machten ihre Kreuze und tranken.
„Wie lange soll ich mir das noch anschauen?“, fragte der Minister.
„Nur Geduld, gleich werden sie auf ihre Kosten kommen“, sagte der Jüngling, ohne den Blick von der Monitorwand zu wenden.
„Niemand will hier auf seine Kosten kommen“, empörte sich der Minister.
„Schauen sie“, rief der Staatssekretär.
Einer der Männer versuchte aufzustehen. In seiner rechten Hand hielt er den Fragebogen, mit der linken stützte er sich am Tisch ab. Er schwankte und warf seinen Stuhl um. Dann ließ er den Fragebogen fallen und griff sich mit der rechten Hand an die Brust. Er röchelte. Die anderen starrten ihn an. Einer hielt seinen Plastikbecher in der Hand, schien aber vergessen zu haben, was er damit machen wollte. Das Röcheln wurde stärker. Das Gesicht des Mannes lief blau an. Mühsam hob er seinen Arm, zeigte auf die Ärztin und stammelte etwas, das in dem Beobachtungszimmer nicht zu verstehen war. Der Mann schien noch etwas sagen zu wollen, doch plötzlich fiel er nach vorne. Der Oberkörper blieb auf dem Tisch liegen, Arme und Beine zuckten noch einmal, dann war es vorbei. Erst jetzt reagierten die anderen.
Sie sprangen auf, torkelten durch den Raum und brüllten wild durcheinander. Dann griff sich der nächste an die Kehle, stolperte über seine Beine und fiel der Länge nach auf den Boden. Innerhalb weniger Minuten starben auch die anderen.
„Was sollte das?“, fragte der Minister. „Warum diese Grausamkeit? Und warum erwachsene Männer? Was hat das mit unserer Initiative zu tun?“
Der Jüngling drehte sich von seiner Monitorwand weg und schaute den Minister direkt an: „Wir haben diese Obdachlosen nur für diese Vorführung ausgewählt. Diese Männer wird niemand vermissen. Hätten wir direkt...“
„Lassen wir das. Wer kann mir erklären, was das besondere an dieser Methode sein soll?“
„Ich“, sagte die Ärztin, die inzwischen den Raum betreten hatte.
„Nun, ich höre.“
„Diese Männer sind wenige Minuten nach Einnahme des Mittels gestorben. Jedoch nur, weil wir eine sehr hohe Dosis verabreicht haben. Später werden wir eine geringere Dosis verabreichen, so dass der Tod erst nach Wochen, wenn nicht nach Monaten eintritt. So kann niemand den Tod der Kinder mit den Intelligenztests in Verbindung bringen.“
„Aber die Häufung unnatürlicher Todesfälle in diesem Alter wird Fragen aufwerfen.“, wandte der Minister ein.
Der Staatssekretär schüttelte innerlich den Kopf. Wieder einmal hatte der Minister die Akten nicht studiert. Doch bevor er etwas sagen konnte, antwortete die Ärztin.
„Das von uns entwickelten Mittel kann schon Minuten nach Verabreichen nicht mehr nachgewiesen werden. Somit wird man keine unnatürliche Todesfolge feststellen können.“
„Aber wenn plötzlich im ganzen Land Zehnjährige sterben?“ Der Minister schaute sich ängstlich in der Runde um.
Typisch, dachte der Staatssekretär, findet selbst keinen Ausweg, und wenn man ihm einen anbietet, ist er feige bis zum letzten.
Laut sagte er: „Wir waren uns doch einig, dass unser Land keinen weiteren Anstieg von Sozialhilfeempfängern, Arbeitslosen und sonstigen Faulenzern mehr erträgt. Also müssen wir etwas dagegen unternehmen. Wenn wir alle Zehnjährigen aussondern, die einer noch festzulegenden Norm nicht entsprechen, werden sich unsere Sozialsysteme innerhalb der nächsten zehn Jahre erholen. Die Jugendkriminalität wird zurück gehen, und unser Land wird wieder den Stellenwert erhalten, den es verdient.“
„Ich kenne die Argumente. Danke. Ich muss das Gesehene jetzt mit dem Kanzler besprechen. Danke die Herren. Dank auch an sie, Frau Doktor.“
Er drehte sich um und ging zurück Richtung Ausgang. Die anderen folgten ihm.
Kurze Zeit sprangen ein Motor an und der Mercedes verließ das Fabrikgelände. Das Rolltor wurde geschlossen. Stille. Nur der stetig fallende Regen war zu hören. Nach einer Weile tauchte die Katze wieder auf. Vorsichtig schlich sie um einen Bretterstapel. Immer wieder blieb sie stehen, schaute sich mit zitternden Schnurrbarthaaren um. Vor der Kalksteinmauer blieb sie stehen. Und wartete.