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Superbluff

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19.06.2001
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Superbluff

„Gott würfelt nicht.“ (Albert Einstein)

SUPERBLUFF

Prolog

Die Sonne war nur noch ein kleiner heller Punkt unter vielen. Dennoch reichte ihre Kraft aus, bizarre Schatten der kleinen Felsen auf die staubige Oberfläche zu werfen. GA2032 interessierten solche Nebensächlichkeiten nicht. Auf dem langen Flug zum äußersten Planeten des Sonnensystems hatten seine Batterien genug Energie aufgeladen, um problemlos in fast völliger Dunkelheit die ihm einprogrammierten Aufgaben zu bewältigen. Die Raupen bewegten ihn langsam über den Boden. Planquadrat Zulu 12 war das letzte seiner nun schon fast fünf Jahre andauernden Mission. Den Routinen seines Programmes folgend würde GA2032 auch dieses Gebiet so wie die anderen zuvor genaustens analysieren und die Ergebnisse seinem Heimatplaneten übermitteln. Seine Greifarme nahmen behutsam einen kleinen Stein auf und legten ihn in den direkt vorderhalb des Raupenantriebes angebrachten Behälter. Wenn GA2032 genug Proben gesammelt hatte, würde er mit der Analyse beginnen. Zeit spielte dabei keine Rolle. Der etwa anderthalb hohen und einen Meter breiten Maschine war Zeit kein Begriff. Stunde um Stunde verging. Als der Behälter für die Proben genug Material für eine Analyse vorzuweisen hatte, blieb GA2032 auf der Stelle stehen. In exakt vorher festgelegter Reihenfolge begann der Roboter mit der Untersuchung. Stein für Stein wurde gewogen, auf die chemische Zusammensetzung kontrolliert und anschließend wieder vorsichtig in den Staub gelegt. Der gleiche Ablauf wie immer.

Der Diamantbohrer von GA2032 setzte an, um sich in die ihm punktgenau vorgegebene Zielstelle des kleinen Steins hineinzufräsen. Die Greifarme hielten den Stein festumklammert. Dieser Stein unterschied sich von den anderen, da er dunkler war. Unermüdlich sendeten Funksignale die laufenden Ergebnisse Richtung Erde. Der Bohrer hatte bereits ein etwa zwei Millimeter tiefes Loch in den Stein getrieben, als GA2032 zu vibrieren begann. Der Bohrmechanismus setzte aus. Die Greifarme öffneten sich und der kleine Stein fiel zu Boden. Das Gehäuse des Roboters wurde plötzlich von innen heraus aufgesprengt. GA2032 fiel zur Seite und blieb regunslos liegen. Seine Nachtsichtobjektive waren auf den kleinen Stein gerichtet. GA2032 hatte aufgehört zu funktionieren...

30. September 2053, 05:36 Uhr

„Auf zwanzig Jahre Mißerfolg!“ Nancy Malden betrachtete sich im Spiegel. „Auf zwanzig Jahre unaufhaltsamen Abstieg.“ flüsterte sie leise. Sie schloß für einen kurzen Moment ihre Augen und dachte zurück an die Zeit, als sie noch die GA2032-Mission bei der NASA betreut hatte. Mehr als betreut. Es war ihr Baby gewesen. Ihr Projekt. Und aus unerklärlichen Gründen war es letztendlich ein Reinfall gewesen. „Scheiße!“ Nancy schüttelte den Kopf.

Seit ihrer Kindheit war Nancy vom größten Bauplan aller Zeiten fasziniert gewesen: Das Universum. Mit Sturheit, einem unbändigen Wissensdurst und manch mehr oder weniger frustrierenden Stunden in einem Bett ihrer Highschool- und College-Lehrer hatte sie es geschafft, auf eine renommierte Universität zu kommen, wo sie sich für Astrophysik und Maschinenbau entschied. Kaum, daß Nancy als Jahrgangsbeste die Universtät abgeschlossen hatte, rissen sich die NASA und die ESA um sie. Sie hatte sich für die NASA entschieden. Zum einen war die Bezahlung besser, zum anderen konnte Nancy dem alten Kontinent noch nie etwas positives abgewinnen. Viel zu oft sah und las man Berichte über Aufstände und deren brutalen Niederschlagung. Schnell machte sie sich einen Namen mit ausgefeilten Ideen und kostengünstigeren Verbesserungsvorschlägen. Die Chinesen hatten ein aerodynamischeres Space-Shuttle vorzuweisen? Man wandte sich an Nancy Malden. Innerhalb kürzester Zeit konnte man die erstarkten Asiaten in ihre Schranken weisen. Und die Europäer mit ihren irrsinnigen Plänen konnte man so oder so vergessen. Der NASA-Vorstand meinte, eine Nancy Malden mit all ihren Qualitäten wäre bei der ESA besser aufgehoben. Aber nur, wenn man ihr praktisch freie Hand gab. Und dazu waren die Europäer nicht bereit, wie man zufrieden feststellte. Selbst wenn, man hätte das Gehalt einfach verdreifacht. Und eines Tages kam Nancy Malden mit der GA2032-Mission. Die Erforschung des Plutos...

„Scheiße!“ Nancy trank einen Schluck Kaffee und zappte zwischen den Kanälen hin und her. Die Dusche hatte gut getan. Wie jeden Morgen. Sie saß nur mit einem Bademantel bekleidet am Tresen ihrer kleinen Küche. Lustlos verfolgte sie die ständig gleichen Meldungen. Ein paar Kriege dort, ein kleiner Aufstand hier. Wieder ein Regierungswechsel in einem unbedeutenden Land, wieder ein Zusammenbruch eines unbedeutenden Konzerns. Kein Bericht über die Mond-Station? „Sehr merkwürdig!“ Sie schaltete den Fernseher aus und sah zu der Digitaluhr, die auf dem Nachtschrank neben dem schmalen Bett stand. Eine Stunde noch, dann würde sie in in einem stickigem Büro Codes für Bankautomaten schreiben. Sie seufzte. „Scheiße!“ Ob es draußen regnet? Natürlich regnet es, schollt sie sich selbst. In ihrer Wohnung gab es keine Fenster. Nur billige Panoramaansichten. Irgendwann hatte Nancy aufgehört, sich daran zu erfreuen. Sie war vierundfünfzig Jahre alt und so gut wie am Ende. „Scheiße!“

30. September 2053, 10:11 Uhr

Timothy Patton war mehr als verägert. Fünf Stunden waren vergangen, und noch immer erhielt sein Team keine Antwort von der orbitalen Mond-Station. „So ein Mist!“ Wütend klopfte er mit seinen Fingerknöcheln auf die Holzplatte des Schreibtisches. Eine Angewohnheit. Es half beim Denken. Denk nach, Junge! Was kann schief gelaufen sein? Was kannst du übersehen haben? An was hast du möglicherweise nicht gedacht? Er stand auf und drückte auf eine der vielen Tasten, die an seinem Schreibtisch angebracht waren. „Okay, schon Vorschläge?“ Gleichzeitg sah er das letzte Bild der Mond-Station auf dem großen Monitor, der in der mit großen Fenstern versehenen Wand eingelassen war. „Irgendwelche Vorschläge?“
„Nein, Tim.“ antwortete Harold Jennings.
„Harry?“ Patton setzte sich wieder. „Harry! Wenn du es nicht weiß, wer dann? Du bist nach mir der zweitklügste Mann hier!“ Patton nahm die Fernbedienung und schaltete den Kanal ein, der den Kontrollraum anzeigte. „Das ist mehr als wichtig, Harry! Wo bist du?“ Er suchte den Bildschirm ab. „Ah...“ Jennings stand am Kontroll-Center. „Also, jetzt hör mir mal zu...“

„Ich weiß, Tim!“ Jennings befand sich inmitten eines aufkeimenden Chaos. „Entschuldige mich! Hier geht es drunter und drüber...“ Er wartete eine Antwort nicht ab und schaltete seinen Kommunikator aus. „Okay, Leute! Seid mal einen Moment ruhig!“ Er schüttelte den Kopf. „Patton verlangt klare und verständliche Antworten, warum unsere fünfzig Milliarden Dollar Station da oben sich nicht meldet.“
Ein glatzköpfiger Mann hob den Arm. „Vor zwei Minuten habe ich die Meßwerte bekommen, Harold. Keine äußeren Einwirkungen.“ Er grinste und sagte: „Sozusagen strahlendes Wetter haben die dort.“
„Das ist nicht witzig!“ knurrte Jennings. „Hast du die Werte gegenprüfen lassen, Jonathan?“
„Ja. Alles ist in Ordnung.“
„Okay.“ Harold klatschte in die Hände. „Also gut, dann ist es ein Problem mit der Station selbst. Geht noch einmal alles durch. Überprüft die letzten eingegangenen Daten. Ich bin bei Patton und über den Kommunikator erreichbar.“ Das Chaos, das durch seine kurze Ansprache unterbrochen wurde, setzte wieder ein. Ein Chaos mit geordneten Bahnen und Strukturen. Ich hoffe, die da oben haben keinen Mist gebaut, dachte Harold seufzend und machte sich auf den Weg zu Pattons Büro.

30. September 2053, 10:45 Uhr

„Ja, Sir... Natürlich... Ja... Nein... Nein...“ Patton legte die Hand auf die Sprechmuschel des Telefonhörers und flüsterte zu Jennings: „Ein Idiot!“ Harold lächelte und nickte. Stöhnend hörte Patton sich geduldig die Fragen des Präsidenten an. „Ich denke, in ein paar Stunden wissen wir mehr, Sir. Bis dahin... Selbstverständlich werde ich Sie über alles informieren. Ja... Auf Wiederhören.“ Er legte auf und schrie auf. „So ein Idiot! Was glaubt der, was wir eigentlich hier machen? Däumchen drehen? Himmel, ich...“ Er verschränkte seine Arme hinter den Kopf. „Und was, wenn es wirklich ein kleiner Meteoritenschwarm war?“
„Nein. Wir haben das Hubble-Delta-Teleskop eingesetzt. Die Hülle der Station sieht völlig normal aus.“ Harold lehnte sich etwas vor. „Was, wenn innerhalb der Station etwas passiert ist?“
„Ein technischer Defekt bei der Station?“ fragte Patton amüsiert. „Du weißt, das ist unmöglich!“
„Das habe ich auch nicht gemeint, Tim.“
Patton nickte. „Ja... Ich weiß schon, auf was du hinauswillst. Aber das sind alles trainierte Leute auf der Station. Nicht umsonst haben die sich monatelangen Tests unterzogen. Und ich rede nicht nur von den physischen Tests, Harry.“
„Ich möchte hier auch nichts unterstellen. Aber rein theoretisch ist es denkbar. Überleg mal, wie lange die jetzt schon dort sind. Knapp zwei Jahre.“
Patton winkte ab. „Nein, Harold, ich glaube das nicht. Ich denke...“
Jennings unterbrach ihn. „Moment!“ Er tippte auf seinen Kommunikator. „Sag das nochmal, Judy! Okay... Wir sind unterwegs!“ Er sah zu Patton. „Wie haben wieder Kontakt!“

Zwanzig Minuten später sahen alle Anwesenden im Kontrollraum gebannt zu Timothy Patton, der mit den Armen vor der Brust verschränkt vor dem großen Videomonitor mit dem Rücken zu ihnen stand. Er legte seinen Kopf etwas quer. „Spielen Sie es noch einmal ab, Frank!“ Fassungslos sah Patton zum Monitor. Harold hatte Recht gehabt, dachte er. Großer Gott...

02. Oktober 2053, 14:09 Uhr

Der Bildschirm flackerte einmal kurz, dann stürzte der Computer ab. „Mistding!“ schimpfte Nancy und schlug gegen das Gehäuse. „Nichts funktioniert!“ Sie sah auf die Uhr. Scheiße! Nur noch dreißig Minuten, dann mußte sie das Programm geschrieben haben. Sie lag bereits jetzt schon vier Stunden zurück. Ihr Abteilungsleiter, ein ekelhaft schmieriger Typ namens Bob Morton, wartete nur darauf, daß sie einen Fehler machte. „Ihre letzte Chance, nicht gefeuert zu werden!“ hatte er ihr mit einem breiten Grinsen gesagt. Arschloch, dachte Nancy und lehnte sich zurück. Ganz ruhig, bleib einfach ganz ruhig. Erst einmal rebooten. Sie drückte auf die kleine Power-Taste am Gehäuse des PCs. Nichts geschah. Sie drückte noch einmal. Keine Reaktion. „Das gibt’s doch nicht!“ fluchte sie leise. Und dann sah sie Morton, der das kleine Großraumbüro betrat. Na toll. Ausgerechnet jetzt! Nancy bereitete sich schon darauf vor, ihre Kündigung zu empfangen, als hinter Morton zwei Männer in dunkelblauen Anzügen in den Raum kamen. Morton zeigte auf Nancy. „Was zum...“ Die beiden Männer nickten und kamen direkt auf sie zu. Das Erschießungskommando, dachte Nancy. Echt toll...

„Nancy Malden?“ Der eine Mann sah sie freundlich an. „Sind Sie Nancy Malden?“
„Ja...“ sagte sie verunsichert. „Und wer sind Sie?“
Der Mann holte einen Ausweis hervor und zeigte ihn ihr kurz. „National Security Agency. Würden Sie uns bitte begleiten! Es ist äußerst... dringend!“
Nancy hustete. „Entschuldigung!“ Der andere Mann, der noch nichts gesagt hatte, reichte ihr wortlos ein Papiertaschentuch. „Danke.“
„Wir haben nicht viel Zeit!“
Sie knüllte das Taschentuch zusammen und warf es in den Papierkorb. „Was will denn die NSA von mir?“
„Kommen Sie einfach mit. Sie brauchen keine Angst zu haben.“
Nancy lächelte den Mann an. Allein der Anblick der beiden Männer vor ihr war beängstigend. „Wenn Sie mich so höflich darum bitten, Mister...?“
„Seaman. Agent Sam Seaman.“
„Und wann werde ich zurück sein?“ Sie erhielt keine Antwort. Alles klar. Du hast versehentlich irgendeine Rechnung nicht bezahlt. Und nun zahlst du die Rechnung dafür. Sie nickte. „Also gut! Gehen wir, Mister Seaman.“ Sie stand auf, schnappte sich ihre Jacke und den kleinen Rucksack und verließ mit den Männern das Büro. Als sie an Bob Morton vorbeikamen, sah Nancy ihn kurz an und sagte: „Sieht wohl so aus, als ob ich es nicht rechtzeitig schaffen würde, den Auftrag für Opharas Inc. fertig zu bekommen, Bob.“
„Sie sind gefeuert, Nancy!“ antwortete Bob knapp angebunden. Die ganze Zeit war es still im Raum gewesen. Alle hatten zu den beiden Männern und Nancy Malden gesehen. Als sie weg waren, klatschte Bob in die Hände und sagte laut: „Okay, die Show ist vorbei! Wieder an die Arbeit!“

„Wir fahren noch kurz bei Ihnen vorbei. Dort können Sie etwas Kleidung einpacken.“ sagte Seaman, den Blick zum Rückspiegel gerichtet.
Nancy streichelte das schwarze Leder der Sitze. „Erzählen Sie mir nun, warum ich zur NSA gebracht werde?“
Der Mann, der bisher kein Wort gesagt hatte, wechselte die Spur. „Wir fahren nicht zur NSA.“
„Und wohin dann?“
Seaman lächelte. „Erst einmal zu Ihnen, Nancy. Nehmen Sie Kleidung und was Sie sonst noch brauchen für ungefähr zwei Wochen mit.“
„Oh, es dauert also länger?“ Nancy atmete tief durch. Nein, erschossen werde ich wohl nicht. „Und danach? Wohin geht es dann?“
„Zur NASA!“ sagte der Mann am Lenkrad und beschleunigte.

02. Oktober 2053, 22:35 Uhr

Patton hatte sich das Band wieder und wieder angesehen. Er saß auf der Couch seines Büros. Vor ihm auf dem Glastisch stand eine halbleere Flasche Whiskey. Wenn das an die Öffentlichkeit gerät, dachte er, dann gnade uns Gott. Er beugte sich vor, nahm die Flasche und trank einen kleinen Schluck. Noch nie hatte es für ihn einen besseren Grund gegeben, sich zu betrinken. Er hatte nach Rücksprache mit Walkinshaw Stillschweigen angeordnet. Selbst der Präsident war nicht unterrichtet worden. Jennings und er hatten persönlich die Datenbänke des NASA-Archivs durchsucht. Es hatte nicht lange gedauert, bis sie fündig geworden waren. Fast vierzehntausend Gigabyte an Datenmaterial war über die GA2032-Mission im Archiv des riesigen, unterirdisch gelegenen Rechners gespeichert. Und immer wieder war ein Name aufgetaucht. Nancy Malden. Sie hat das Projekt geleitet, dachte Patton. Ihr wurde die Schuld für das Scheitern der Mission gegeben. Er stellte die Flasche auf den Tisch. Die Ursache für das Scheitern wurde nie geklärt. Naja, im Grunde genommen... „Ach Scheiße!“ Ein zehn Milliarden Dollar Fiasko. „Nun, Nancy Malden.“ flüsterte Patton und schloß seine Augen. „Ich hoffe wirklich, daß Sie uns weiterhelfen werden.“ Zehn Minuten später war Patton eingeschlafen.

03. Oktober 2053, 08:14 Uhr

Nancy stand am Fenster und sah hinaus. Wenn du deine Arme ausbreitest... Selbst dann erreichst du nicht die Enden des Fensters, dachte sie verbittert, gleichzeitig an ihre kleine Wohnung denkend. Was für ein Anblick. Kein Regen, kein dunkler Himmel. Sie konnte sogar die Sonne sehen. Nancy mußte blinzeln. Sie war es nicht mehr gewöhnt seit...
„Nancy Malden?“ Timothy Patton hatte den Raum betreten. „Gefällt Ihnen die Aussicht?“
Sie drehte sich um. „Allein das war schon die Reise wert. Und...“ Kurz dachte sie nach. „Sie sind Patton, richtig? Als ich damals hier beschäftigt war, waren Sie noch ein Laufbursche.“
„Nun.“ Patton lächelte sie freundlich an. „Man entwickelt sich. Dinge ändern sich. Wollen wir uns nicht setzen?“ Er zeigte zu einem silberfarben glänzenden Tisch, um den vier Stühle gestellt waren. „Ich denke, es wird Zeit, Ihnen zu erklären, warum Sie bei uns sind, Nancy. Ich darf Sie doch Nancy nennen?“
„Klar!“ sagte Nancy und setzte sich. „Dann erzählen Sie mal, Timothy!“
„Nennen Sie mich Tim.“
„Dann erzählen Sie mal, Tim!“
„Okay.“ Patton setzte sich ebenfalls. „Reden wir nicht lange um den heißen Brei herum, Nancy. Es gibt Schwierigkeiten.“
„Und was habe ich damit zu tun? Mich hat man vor zwanzig Jahren vor die Tür gesetzt.“
„Ja, die GA2032-Mission. Ich weiß.“ Patton runzelte die Stirn. „Gab es eigentlich...“
„Tim?“
Patton winkte ab. „Nein, schon gut. Warum Sie hier sind, Nancy, ist folgendes. Sie kennen unsere orbitale Mond-Station?“
Nancy lachte laut auf. „Wer kennt sie nicht?“
„Und ist Ihnen nichts aufgefallen in den letzten Tagen?“
„Sie meinen die Berichte über die Station, die von heute auf morgen aufgehört haben.“
Sie ist klug, bemerkte Patton zufrieden. „Ihnen ist es also aufgefallen... Okay.“ Er stand auf. „Was Sie jetzt sehen werden, hat außer einhundervierundvierzig Menschen vor Ihnen noch keiner gesehen.“
„Einhundertvierundvierzig?“
„Alle, die dabei waren.“ Patton sah Nancy traurig an. „Für ungefähr sechs Stunden hatten wir einen Totalausfall. Kein Kontakt zur Station.“
„Äußere Einwirkungen?“ fragte Nancy.
„Nein, mit der Station ist alles in Ordnung. Sehen Sie selbst!“ Patton holte aus der Innentasche seines Jackets eine Fernbedienung hervor. Er drückte einen Knopf. „Da drüben.“
Nancy nickte. „Ja.“ Sie sah, wie eine kleine Leinwand aus der Decke kam.
„Wie gesagt. Was Sie jetzt sehen werden...“ Patton seufzte. „Ich hoffe wirklich, daß Sie uns helfen können, Nancy.“
„Wie meinen Sie das?“
Patton drückte erneut eine Taste der Fernbedienung. „Das waren die bisher einzigen Bilder, die uns nach dem Ausfall erreicht haben. Okay, sehen Sie selbst! Mittlerweile herrscht Funkstille!“
„Okay.“ Nancy sah auf die kleine Leinwand.
Patton dunkelte den Raum etwas ab. „Ich würde gern Ihre Meinung dazu hören, Nancy!“
„Meine Meinung?“ Und dann sah Nancy die ersten Bilder des Bandes. „Oh Scheiße...“
Patton nickte. „Ja, und es kommt noch schlimmer!“

03. Oktober 2053, 12:20 Uhr

„Sie bat darum, sich von dem Anblick des Bandes eine Weile zu erholen.“ sagte Patton. Jennings und er saßen in Pattons Büro.
„Wann kann ich mit ihr reden, Tim? Es ist wichtig!“
„Ich weiß!“ Patton sah auf seine Armbanduhr. „Nun, sie sollte jeden Moment...“ Es klopfte an der Tür. „Sie ist da.“ sagte er zufrieden. „Kommen Sie rein, Nancy!“ Die Tür öffnete sich uns Nancy Malden betrat den Raum. Patton und Jennings standen auf. „Pünktlich auf die Minute, Nancy. Das gefällt mir.“ Er deutete auf Harold. „Nancy, das ist Harold Jennings, stellvertretender Projektleiter. Sozusagen für alles zuständig, was die orbitale Mond-Station betrifft.“
Harold reichte ihr die Hand. „Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen, Nancy.“
„Mich auch, Harold. Angenehm.“ Nancy schüttelte Jennings Hand. Er hatten einen kräftigen Händedruck. Merkwürdig, dachte sie, das Zwischenmenschliche hat in den vergangenen zwanzig Jahren selbst bei der NASA Einzug gehalten.
„Setzen wir uns.“ sagte Patton.

Harold räusperte sich. „Es sieht folgendermaßen aus, Nancy. Vor zwei Stunden und fünfzehn Minuten haben sich die Triebwerke der Station eingeschaltet.“
„Und Sie sagen mir jetzt bestimmt, daß es sich dabei um keine Positionsveränderungen der Umlaufbahn handelt, richtig?“
„Richtig.“ Jennings sah kurz zu Patton, der ihm zuzwinkerte. Er nickte. „Richtig. Die Station hat einen Kurs eingeschlagen. Wir haben das sehr schnell berechnen können. Die Station nimmt direkten Kurs zur Erde. Morgen um diese Zeit wird sie Höchstgeschwindigkeit erreicht haben. Dann dauert es noch zwölf Tage, bis sie bei uns angekommen ist.“
Nancy stand auf und ging zum Fenster. Sie lehnte ihren Kopf gegen die Scheibe. Großer Gott, noch zwölf Tage. „Warum sprengen Sie sie nicht einfach in die Luft?“
„Das wäre natürlich die einfachere Methode.“ sagte Patton. „Aber das geht nicht.“
„Warum nicht?“ wollte sie wissen und drehte sich um. „Warum geht das nicht?“
„Dürfte ich...“ Harold stand auf. „Wir können nicht einfach für fünfzig Milliarden Dollar ein Feuerwerk da oben veranstalten! Das ist absolut...“
Nancy unterbrach ihn. „So ein Blödsinn! Die Station stellt eine Gefahr für die Erde dar. Also los! Zerstören Sie sie!“
„Nein. Unmöglich!“ Harold wurde etwas lauter. „Wir können das uns nicht erlauben. Was glauben Sie eigentlich, warum wir Unsummen von Geldern verwenden, um in der Öffentlichkeit präsent zu sein? Die Station ist unsere letzte Trumpfkarte, die wir noch im Ärmel haben.“
„Das ist das Lächerlichste, was ich bis jetzt gehört habe, Harold.“ sagte Nancy spottend.
„Sie...“
„Wir beruhigen uns jetzt und reden vernünftig miteinander. Setz dich wieder hin, Harold.“ sagte Patton eindringlich.
„Tim, ich...“
„Setz dich, Harold!“ Jennings setzte sich wieder. „Gut.“ Patton sah zu Nancy. „Natürlich bräuchte ich nur anzurufen, um den Befehl zu geben. Nicht einmal den Präsidenten müßte ich fragen. Die Entscheidung liegt allein bei mir. Und außerdem... Warum würden Sie jetzt hier sein, wenn wir nicht versuchen würden, die Station zu retten?“ Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter den Kopf. „Sie haben das Band doch gesehen, Nancy. Wollen Sie nicht wissen, warum auf sämtlichen Monitoren der Station dieses eine Wort stand? GA2032?“
Nancy sah ihn wütend an. „Ich wünschte, Sie hätten mich in Ruhe gelassen und mir dieses Band nie gezeigt, Tim!“
„Sie haben es gesehen.“
„Also gut, was haben Sie vor?“
Patton lächelte. „Ich habe vor, die Station zu retten. Ich habe vor, die Ursachen zu finden. Ich habe vor, Ihren Ruf wiederherzustellen. War das deutlich genug?“ Er beobachtete das Gesicht von Nancy. Ja, sie denkt nach. Er grinste. „Ich wußte, daß Sie uns helfen werden.“

03. Oktober 2053, 08:19 Uhr

Patton dunkelte den Raum etwas ab. „Ich würde gern Ihre Meinung dazu hören, Nancy!“
„Meine Meinung?“ Und dann sah Nancy die ersten Bilder des Bandes. „Oh Scheiße...“
Patton nickte. „Ja, und es kommt noch schlimmer!“
„Noch schlimmer?“ Nancy starrte auf den Bildschirm. „Noch schlimmer?“

Man sah das Innere des Zentralmoduls der Station, wo die Besatzung arbeitete und gleichzeitig wohnte. Nichts tat sich. Kein Mensch war zu sehen. Nur Blut. Auf dem Boden. An den Wänden. Überall. Plötzlich wurde an der Kamera gerüttelt und man konnte ein wutverzerrtes Gesicht erkennen. Es war ein Mann. Parker, der Kommandant der Station. Sein Gesicht kam ganz nah an das Objektiv der Kamera. Er keuchte vor Anstrengung. „Ich hab das nicht gewollt!“ schrie er. „Ich hab das nicht gewollt!“ Das waren die einzigen Worte, die Parker immer und immer wieder in die Kamera schrie. Seine Augen waren weit aufgerissen und blutunterlaufen. Mit seinen Fingern riß sich Parker kleine Haarbüschel von seinem Kopf. Blut floß sein Gesicht herab...

„Er ist wahnsinnig.“ flüsterte Nancy entsetzt.
Patton nickte. „Sie haben noch nicht alles gesehen. Achten Sie auf die Monitore!“

„Ich hab das nicht gewollt!“ schrie Parker. Er grinste und verstellte die Kamera. „Das war nicht meine Schuld!“ Die Kamera war nun auf den Bereich des Moduls gerichtet, wo sich die Konsole für die Funkübertragung befand. Dort lagen Leichen der Besatzung. Die Art und Weise, wie sie zugerichtet waren, schloß auf einen qualvollen Tod. Parker lief zur Funkkonsole und deutete auf einen der zahlreichen Monitore. „Das war nicht meine Schuld! Ich hab das nicht gewollt!“ Auf dem Monitor war ein Wort zu lesen: GA2032. Parker bekam einen Hustenanfall.

„Nein! Das ist unmöglich!“ Nancy sah gebannt auf den Bildschirm. „Unmöglich!“

„Plötzlich geschah es! Einfach so! Zack!“ Parker schnippte mit den Fingern. „Es ging einfach so los. Etwas ist in die Station eingedrungen.“ Er lehnte sich gegen die Wand. „Es hat uns alle verrückt gemacht... Uns alle. Sie...“ Er sah zu den Toten. „Jeder ist auf jeden losgegangen. Es war grausam. Innerhalb kürzester Zeit. Gerade mal sechs Stunden haben ausgereicht, um uns alle...“ Er schloß die Augen. „Etwas ist hier. Ich weiß nicht, um was es sich handelt. GA2032. Wenn ihr mich hören könnt.... Ich werde versuchen... Ich...“ Dann war das Bild wieder weg.

„Das wars.“ Patton schaltete den Bildschirm aus. „Das ist alles, was wir haben.“
„Ich...“ Nancy schüttelte den Kopf. „Ich brauche Ruhe. Ich muß nachdenken. Das... Damit habe ich nicht gerechnet.“
„Kein Problem. Ruhen Sie sich aus.“ Er sah auf seine Uhr. „Zwanzig Minuten nach Zwölf wieder hier in meinem Büro?“ Er sah sie fragend an.
Sie nickte. „Ja. Ich muß das erst einmal verdauen.“
„Kein Problem.“

03. Oktober 2053, 15:43 Uhr

„Die GA2032-Mission.“ Nancy schluckte und goß sich etwas Wasser in ein Glas ein. „Entschuldigen Sie...“ Erinnere dich! Du kannst das! Du kannst das! Sie holte tief Luft. „Damals nahmen alle an, daß, wenn es Leben außerhalb der Erde gab, es am wahrscheinlichsten auf dem Mars zu finden wäre. Vielleicht noch der Jupitermond Europa. Kein intelligentes Leben, sondern primitive Bakterien. Unter der Eisoberfläche Europas existiert ein gewaltiges Meer. Die Pole des Mars sind vereist. Wir haben immer vorausgesetzt, daß Wasser ein wesentlicher Bestandteil sein muß, damit Leben überhaupt entstehen kann. Doch die beiden Expeditionen zu Europa und Mars belehrten uns eines Besseren. Weder die ESA noch wir haben mit unseren Missionen Erfolg gehabt. Es wurde nichts gefunden.“ Sie hielt einen Moment inne.
Interessant, dachte Patton, der mit zehn anderen hochrangigen NASA-Verantwortlichen am Tisch saß und aufmerksam Nancy Malden zuhörte. Sie redet, als ob sie nie weg war. Dabei haben wir sie vor zwanzig Jahren eiskalt abserviert. Er hörte Nancy wieder konzentriert zu und machte ab und an mit einem Bleistift ein paar Notizen auf einen kleinen Schreibblock.
„Dann entdeckte das Hubble-Gamma-Teleskop ZRS-101. Ein etwa eintausend Kilometer großer Felsbrocken zwischen Saturn und Jupiter. Es war wie ein Wunder. Dutzende von Sonden haben das System durchreist, aber ZRS-101 schien wie aus dem Nichts zu kommen. Seine Oberflächenstruktur glich der des Plutos, dem äußersten Planeten unseres Sonnensystems. Wir haben damals die Odysseus-Sonde umprogrammiert, so daß sie ZRS-101 näher untersuchen konnte. Und tatsächlich: Odysseus entdeckte versteinerte Überreste von Mikroben. Die Stelle war ein zehn Kilometer großer Krater. Das, was immer mehr Realität zu werden schien, wurde praktisch bestätigt. Existenz von Leben in einem Einschlagkrater eines Meteoriten. Das Leben auf der Erde könnte also durchaus außerirdischen Ursprungs sein. Aber das war uns noch zu wenig. Ich empfahl damals dann die GA2032-Mission. Eine Erforschung des Pluto. Nicht mit Teleskopen oder Sonden. Nein, mit einer selbstständig handelnden Maschine, die Proben vor Ort untersuchte. Alles verlief ohne Probleme. Aber dann...“ Nancy rieb sich die Augen. „Den Rest kennen Sie. GA2032 hörte plötzlich auf zu funktionieren. Die Ursache dafür konnte nie geklärt werden.“ Sie nickte. „Und jetzt, zwanzig Jahre später, scheint GA2032 mit dafür verantwortlich zu sein, daß auf der orbitalen Mond-Station die Dinge außer Kontrolle geraten sind. Sie alle haben das Band gesehen.“ Sie sah zu Patton. „Tim sagte, auf keinen Fall wird die Station vernichtet werden. Mir ist es nicht aus den Kopf gegangen. Warum, frage ich Sie! Warum gefährden wir unnötig die Erde, wenn ein einfacher Befehl ausreichen würde?“

03. Oktober 2053, 15:50 Uhr

General Paul Walkinshaw zündete sich eine Zigarette an. „Überlegen Sie doch mal, Mrs. Malden. Warum wohl wird Tim den Befehl zur Zerstörung der Mond-Station nicht geben? Hm?“
Nancy seufzte und sagte leise: „Weil eine fremdartige Intelligenz urplötzlich auftauchte?“
Walkinshaw aschte ab. „Na, sehen Sie? Sie wissen es also.“
„Gar nichts weiß ich. Glauben Sie wirklich, damals hat etwas Fremdes die Mission zum Scheitern gebracht? Und dann hat es zwanzig Jahre gewartet?“
Patton schüttelte den Kopf. „Nicht gewartet, Nancy. Was war das letzte von GA2032, was Sie erreicht hatte?“
„Die Analyse der Gesteinsproben des letzten Planquadrates. Zulu 12.“
„Und?“
„Was und?“
„Das Ergebnis der Analyse?“
Nancy dachte kurz nach. Dann sagte sie: „Es war das Gleiche wie immer. Keine Spuren von Leben oder Hinweisen, daß Leben existiert hätte.“
„Wie sind Sie eigentlich auf den Pluto gekommen, Mrs. Malden?“ fragte Paul Trimpton, zuständiger Leiter des Hubble-Delta-Teleskops. „Ich meine...“
„Ja?“ Nancy sah ihn an.
„Anhand eines eintausend Kilometer großen Felsbrockens haben Sie zehn Milliarden Dollar aufs Spiel gesetzt?“
„Mein Vorschlag, den Pluto zu erforschen, wurde sehr wohlwollend angenommen.“ Wütend sah Nancy Trimpton an. „Daß es letztendlich so gelaufen ist, dafür kann keiner was!“
Trimpton lehnte sich zurück und nickte Patton zu. „Sagen Sie es ihr, Tim.“
„Was soll Tim mir sagen?“ wollte Nancy wissen. „Was verschweigen Sie mir die ganze Zeit?“
Patton legte einen Finger auf seinen Mund. „Ganz ruhig, Nancy. Wissen Sie... Eigentlich ist es unfair, Ihnen das zu sagen.“
„Sagen Sie es mir, verdammt!“
„Sie haben zwanzig Jahre Ihres Lebens weggeschmissen, nur weil damals einige Leute der Meinung waren, das dürfte keiner erfahren.“
„Tim, was... Was?“
„GA2032 war alles andere als ein Fehlschlag.“ sagte Patton. „Ganz im Gegenteil. Sie und Ihr Team haben vor zwanzig Jahren nach Beweisen für außerirdisches Leben gesucht? Sie und Ihr Team haben Erfolg gehabt, Nancy. GA2032 hat Leben auf Pluto gefunden!“
Das saß. Nancy wurde schwindelig. „Ich... Was...“ Sie fiel ohnmächtig zu Boden.

03. Oktober 2053, 20:18 Uhr

Zitternd zog Nancy an der Zigarette. Patton saß ihr gegenüber, sie freundlich anlächelnd. „Wissen Sie eigentlich, was ich zwanzig Jahre lang durchgemacht habe?“ fragte sie ihn.
„Natürlich.“ Er holte eine kleine Disk aus seine Jacke und legte sie auf den Tisch. „Wir wissen alles über Sie, Nancy. Ist alles darauf gespeichert.“
„Zwanzig Jahre?“
„Mehr als das, Nancy. Ihr ganzes Leben.“ Er nahm die Disk und steckte sie wieder weg. „Erstaunlich, daß vierundfünfzig Jahre auf so einen kleinen Datenträger passen, nicht wahr?“
Nancy drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. „Warum bin ich hier, Tim?“
„Tja...“ Patton fuhr sich durchs Haar. „Nach dem angeblichen Fiasko der Mission wurden alle weiteren Planungen, die den Pluto betrafen, sofort eingestellt. Keiner durfte wissen, daß Sie im Grunde genommen erfolgreich waren.“
Nancy schüttelte den Kopf. „Das ist absurd. Seit Jahrzehnten versucht man, fremde Signale oder Spuren von außerirdischem Leben zu entdecken. Und dann darf es keiner wissen?“
„Was glauben Sie denn, was passieren würde, wenn die Menschheit erfährt, daß sie nicht die Krone der Schöpfung ist?“
„Ach!“ Sie winkte ab. „Hören Sie auf, Tim!“
Patton beugte sich vor. „Nein, Nancy. Aber genau so verhält es sich! Weit über die Hälfte der Menschen glaubt an eine höhere Macht. Sie nutzen all die Technik, all den Fortschritt, der sich nicht mit ihrem Glauben vereinbaren läßt. Aber trotzdem glauben sie, daß Gott existiert. Und ich rede jetzt nicht nur von dem einen Gott. Ich rede von den unzähligen Religionen, Nancy. In einigen Ländern ist Darwin sogar noch immer verboten.“ Er sah Nancy an.

„Im Grunde genommen sind die NASA und die heutige unmittelbare Konkurrenz, die ESA, nichts weiter als große Spielfiguren in einem gewaltigen Schachspiel, das vor Jahrhunderten begonnen hat. Äußerlich erwecken beide den Eindruck, das Weltall erforschen zu wollen. Das tun wir auch. Doch entscheiden wir, was die Menschen erfahren dürfen und was nicht. In dem Punkt ist man sich bei der ESA und bei uns einig. Wir haben sogar ein gemeinsames Gremium, das...“ Er zögerte einen Moment. „Erinnern Sie sich an den Marsmeteoriten, den man in den Neunzigern des letzten Jahrhunderts in der Antarktis fand? Der mit den angeblich versteinerten Überresten von Bakterien?“
„Ja.“ Nancy nickte und zündete sich eine neue Zigarette an. „Und weiter?“
„Es war eine perfekt inszenierte Show für die wenigen Wissensdurstigen, die mit immer abenteuerlichen Theorien daherkamen. Letzten Endes waren wir sehr dankbar, als sich immer mehr die These durchsetzte, daß das Leben auf der Erde durch einen Meteoriteneinschlag entstand. Viel Raum für Spekulationen. Viel Raum für Proteste seitens der Gläubigen. Und viel Raum für uns, diese These mit einigen fehlgeschlagenen Missionen zwar nicht zu widerlegen, aber gewissermaßen zu schädigen. Deshalb haben ja die ESA und wir uns weiterhin für eben diese Theorie stark gemacht. Und dann plötzlich kamen Sie und dieser verdammte ZRS-101.“
„Was soll das heißen?“
„Das haben Sie doch vorhin den anderen gesagt, Nancy.“ Patton lächelte. „Uns blieb doch gar keine andere Wahl, als die GA2032-Mission als gescheitert zu erklären.“
Nancy nickte. „So langsam verstehe ich.“
„Und?“
„Und?“
„Ja, was denken Sie, Nancy?“
„Nun...“ Sie holte tief Luft und sagte: „Ich denke, Ihr alle seid ein Haufen Arschlöcher!“
„Sie werden mit uns zusammenarbeiten?“
„Das stand doch von Anfang an fest, nicht wahr?“
„Als wir wußten, um was es ging...“
Nancy seufzte. „Also, warum fragen Sie mich dann überhaupt, wenn es längst beschlossene Sache ist.“ Sie lachte laut auf.
„Nancy?“
„Mir ist es eben eingefallen... Die Mondlandung. Sie war also eine Täuschung?“
Patton grinste. „Sie haben einen Roboter mehrere Milliarden Kilometer entfernt erfolgreich auf dem Pluto abgesetzt, Nancy!“ Er zwinkerte ihr zu. „Glauben Sie mir, die Mondlandung hat tatsächlich stattgefunden!“

04. Oktober 2053, 09:28 Uhr

Nancy, Jennings und Patton standen vor einem Computermonitor und sahen sich die letzten Aufzeichnungen an, die vor zwanzig Jahren von GA2032 übertragen wurden.
„Ja.“ sagte Nancy. „Das war das letzte Signal, was wir empfangen hatten. Danach war nichts mehr.“
Patton nickte Jennings zu. „Zeig es ihr!“
„Okay.“ sagte Harold. „Es gab noch ein weiteres Signal. Das hatte der Computer aber selbständig nicht weitergegeben.“ Nancy sah ihn fragend an. „Sehen Sie, wir haben einen Zentralcomputer, der mit sämtlichen Rechnern verbunden ist. Er hat die Direktive, alles, was... nun, sagen wir mal... verdächtig ist, sofort zu verschlüsseln und auf keinen Fall an das zuständige Team weiterzuleiten. Diese Daten gingen und gehen an eine andere Stelle.“
„Eine andere Stelle?“ fragte Nancy interessiert.
Patton legte ihr einen Arm auf die Schulter. „Dazu kommen wir später. Einverstanden? Sehen Sie sich erst einmal die tatsächlich letzte Übertragung an und sagen Sie uns, was Sie davon halten.“

Gebannt sah Nancy auf den Bildschirm. Die Linien und vereinzelt auftauchenden Störungen waren wie immer. Aber dann wurden die geraden Linien verzerrt. „Es sieht wie ein Herzschlag aus, den man mißt.“ flüsterte sie leise. Es bestand kein Zweifel. Das Signal war gleichmäßig und wiederkehrend. Und eindeutig stammte es nicht von GA2032 selbst. „Oh mein Gott...“ Nancy sah zu den beiden Männern. „Etwas wollte Kontakt mit uns aufnehmen!“
„Ja.“ sagte Jennings.
Patton nickte. „Ihre Maschine verstummte dann, Nancy. Nichts kam mehr. So wie Ihr Team haben einige Dutzend andere anschließend versucht, den Kontakt wiederherzustellen.“
„Einige Dutzend?“
„Natürlich, was glauben Sie denn?“
„Schon gut, verstehe...“ Sie verdrehte die Augen. „Also?“
Jennings ließ die Aufzeichnung noch einmal abspielen. „Sie haben es eben mit einem Herzschlag verglichen, Nancy. Gar nicht mal so dumm, da es wirklich so aussieht. Nach einem Monat haben wir es damals sein lassen. Vielleicht wissen Sie noch, daß daraufhin sämtliche Pluto-Projekte eingestellt worden sind.“
„Nein. Da war ich schon draußen. Sie sagten es mir vorhin. Aber...“ Sie schüttelte den Kopf. „Sie haben es nicht weiter versucht?“ fragte sie Patton.
„Nein. Und das war offenbar ein Fehler.“ Er deutete nach oben. „Was immer auch GA2032 dazu benutzte, um Kontakt zu suchen. Irgendwann wurde es des Wartens überdrüssig.“
„Ja.“ sagte Nancy spöttisch. „Wenn man keine Antwort bekommt, wird man leicht verärgert.“
Patton räusperte sich. „Nun, wir haben eine Anfrage bekommen. Und...“ Er schloß seine Augen. „Und... Ja, wir haben es versucht! Harold?“
Jennings nickte und zeigte auf die Linien. „Wir haben damals die selben Linien wieder zurückgeschickt. Eine einfache Sache. Nach dem Motto: Schickst du mir etwas, schick ich dir das selbe zurück. Aber dann kam nichts mehr. Gar nichts!“
Nancy lächelte und sagte mit einem sarkastischen Unterton: „Was immer es auch ist. Es hat sich die Station geschnappt.“ Sie hob die Arme. „Ich beglückwünsche Sie. All Ihre Geheimhaltungen haben nicht verhindern können, daß sich ein Etwas innerhalb der Station befindet und alle Besatzungsmitglieder hat wahnsinnig werden lassen hat! Herzlichen Glückwünsch!“

04. Oktober 2053, 11:14 Uhr

Die Notbeleuchtung tauchte die Umgebung in ein rötlich schimmerndes schwaches Licht. Eine Gestalt schlich durch die schmalen Gänge des Antriebmoduls der orbitalen Mond-Station. Als sie eine Schleuse erreicht hatte, durch die man in den Maschinenraum gelangte, hielt sie inne und sah sich um. Die Gestalt öffnete den Reißverschluß ihres Anzuges und holte eine kleine Taschenlampe hervor. Das Licht war zu schwach, um den Ziffernblock, der links neben der Schleuse angebracht war, ausreichend erkennbar zu machen. Die Gestalt schaltete die Taschenlampe ein. Dann tippte sie einen achtstelligen Code ein. Zwei Sekunden später öffnete sich die Schleuse mit einem leisen Summen. Schnell schaltete die Gestalt die Taschenlampe aus und schlüpfte durch die Schleuse. Sie hörte ein Geräusch, das aus dem Zentralmodul zu kommen schien. Und das Geräusch kam näher. Es war kein menschliches Geräusch. Die Gestalt drückte einen großen gelben Knopf und die Schleuse schloß sich wieder. Sie befand sich nun im Maschinenraum der Station.

04. Oktober 2053, 11:27 Uhr

Sie saßen in einem Raum ohne Fenster. „Wir befinden uns zweihundert Meter unter der Oberfläche.“ flüsterte Jennings Nancy zu, die stumm nickte. Harold fuhr fort: „Das ist Carl Madden.“ Er nickte in Richtung eines jungen Mannes, der am Kopfende des Tisches saß. „Hören Sie ihm aufmerksam zu!“
„Ja.“ antwortete Nancy leise. „Werde ich.“

Madden sah aus wie jemand, der in einer eigenen Welt zu leben schien. Zumindest würde es jeder vermuten, der nur nach dem Äußeren ging. Madden hatte seinen Arbeitsbereich weit unter der Oberfläche. Dort, wo nur wenige Zutritt hatten. Normalerweise stellte die NASA keine Sonderlinge wie Madden ein. Zu hohes Risiko für die Glaubwürdigkeit. Aber Madden hatte in den letzten drei Jahren wahrhaft sensationelle Arbeiten für die NASA geleistet. „Wir gehen davon aus, daß auf der Station kein Besatzungsmitglied mehr am Leben ist.“ sagte Madden. „Ich persönlich glaube nach Ansicht des Bandes, daß sich Parker selbst umgebracht hat. Ich...“ Er wurde unterbrochen. Eine Frau hob den Arm. „Ja? Samantha?“
„Ohne Ihnen nahe zu treten, Carl. Aber ich glaube, daß Parker durchaus noch am Leben sein könnte.“
„Und was läßt Sie das annehmen?“
Samantha Bowens, eine angesehene Psychologin, nickte und sagte: „Wir wissen doch nur, daß sich eine Katastrophe ereignet hat an Bord der Station. Wir haben die Leichen gesehen. Und...“ Sie sah die Anwesenden eindringlich an. „Und wir wissen, was Parker immer und immer wieder in die Kamera geschrien hat, kurz bevor der Kontakt unterbrochen wurde.“
„Er wurde nicht unterbrochen.“ berichtigte sie Madden. „Der Kontakt ist endgültig weg. Parker hat etwas von ‚Ich werde versuchen‘ geredet. Was wird er versuchen?“ Madden lächelte Samantha an. „Die Station direkt zu uns zu bringen? Ich meine, das ist großartig. Wir brauchen dann nur noch das Team mit dem Shuttle hochzuschicken. Wir könnten eine ganze Woche einsparen!“ Samantha sah ihn giftig an und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Ich liebe es, wenn sie schmollt, dachte Madden. „Also gut, mal angenommen, Parker lebt wirklich noch. Er versucht irgendetwas. Und was?“

„Vielleicht, die Station zu zerstören?“ sagte Nancy. „Vielleicht hat Parker das gemeint.“ Jennings packte sie am Arm und wollte etwas sagen, aber Patton schüttelte den Kopf.
„Nancy Malden!“ Madden ging zu ihr. „Ich bin erfreut, Sie kennenzulernen, Nancy. Ich darf doch Nancy zu Ihnen sagen?“ Er grinste sie an.
Sie grinste zurück. „Ich habe nichts dagegen, Carl.“
Patton räusperte sich. „Mal davon abgesehen, daß die Station tatsächlich auf dem Weg zur Erde ist. Bedeutet das nicht, daß Parker eben nicht vor hat, die Station zu zerstören?“
„Nein!“ sagte Samantha. „Das hat doch damit überhaupt nichts zu tun!“ Sie stand auf. „Parker würde alles tun, um Gefahr abzuwenden.“
„Fakt ist...“ sagte Madden. „Fakt ist, daß die Station sich auf direkten Kurs zur Erde befindet!“ Er runzelte die Stirn. und sah zu Samantha. „Wenn Parker noch am Leben wäre, würde er nicht alles tun, um das zu verhindern? Ich denke nicht...“
„Das ist es doch!“ sagte Samantha. „Er würde....“
Patton schlug mit der Hand auf den Tisch. „Das steht doch völlig außer Frage!“ Er war wütend. „Parker, sollte er noch am Leben sein, kann die Station gar nicht zerstören!“
„Warum nicht?“ fragte Nancy.
Jennings hob die Hand. „Ganz einfach. Keiner an Bord kennt die Codes für die Aktivierung der Sequenz.“
„Prima!“ sagte Nancy. „Also sieht es so aus!“ Sie holte tief Luft. „Da oben ist vielleicht noch jemand am Leben und tut alles dafür, die Erde nicht zu gefährden!“
Madden nickte. „Vielleicht... Vielleicht aber auch nicht!“
„Dann laßt Patton endlich den verdammten Befehl geben!“ Nancy sah Madden wütend an.
Patton stand auf und sagte: „Sie wissen, daß wir das nicht zulassen können, Nancy.“
„Das ist Scheiße!“
„Ja, mag sein.“ sagte Madden leise. „Nach der... nun... letzten Meldung von der Station sind einige hier der Auffassung, daß keiner mehr dort oben am Leben ist.“ Er warf Samantha Bowens einen verachtenden Blick zu. „Ich habe empfohlen, ein Shuttle starten und andocken zu lassen.“
Nancy schüttelte den Kopf. „So ein Blödsinn!“ Sie sah zu Patton. „Warum bin ich hier? Ich kann überhaupt nichts beitragen! Warum bin ich hier?“
„Nancy, bitte!“ Jennings zog sie sanft auf den Stuhl zurück. „Sie sind hier, weil Sie die Expertin sind, was GA2032 betrifft.“
„Das ist zwanzig Jahre her, Harold.“
„Na und? Wir sind trotzdem davon überzeugt, daß keiner auch nur annähernd sich mit der Gesamtheit der damaligen Mission befassen kann wie Sie. Nicht nur, was die Mission damals betraf. Sondern auch die Folgen, die uns heute eingeholt haben.“ Jennings lächelte.
Madden nickte zufrieden und sagte: „Besser hätte ich es auch nicht sagen können.“

04. Oktober 2052, 12:07 Uhr

Als die Besprechung vorbei war, bat Madden Nancy, noch zu bleiben. „Ich kann Sie und Samantha Bowens gut verstehen.“ sagte er in einem ruhigen, beschwichtigenden Ton. „Ich kann das wirklich, Nancy!“
„Und warum unterstützen Sie dann Patton und den Rest, wenn Sie das verstehen können?“
„Es ist ganz einfach. Da oben ist etwas, was wir hier unten haben wollen.“
Nancy schluckte. „Aber natürlich! Das ist es!“ Sie faßte sich an den Kopf. „Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen? Sie reden von einem Virus. Ein fremdartiges, außerirdisches Virus! Ihnen geht es gar nicht um die Station!“ Langsam stand Nancy auf. „Ihnen geht es nur um dieses beschissene Virus oder was auch immer die Menschen an Bord veranlaßt hat, sich gegenseitig umzubringen.“ Für einen kurzen Moment wurde ihr etwas schwindelig, so daß sie sich am Tisch festhalten mußte.
„Nancy? Alles in Ordnung?“ fragte Madden besorgt. Es klang aufrichtig.
„Ja.“ Sie winkte ab. „Es geht schon wieder.“ Sie setzte sich und sah Madden ernst an. „Der Krieg hat also nicht aufgehört?“
„Nun...“ Madden räusperte sich. „Von welchem Krieg reden Sie? Verfolgen Sie keine Nachrichten? Allein in den letzten vierundzwanzig Stunden haben irgendwo auf der Welt vier neue Kriege angefangen.“
„Sie wissen, von welchem Krieg ich rede, Madden!“ herrschte ihn Nancy an.
„Oh... Den Krieg meinen Sie.“ Er nickte und sagte leise. „In der Tat... Dieser Konflikt dauert noch immer an. Und wissen Sie was?“ Madden beugte sich etwas zu Nancy vor. „Unsere Seite steht mehr als schlecht da.“
Nancy Madden stand auf und ging zur Tür. Bevor sie den Raum verließ, drehte sich sich noch einmal um. „Es ist ein sinnloser Krieg. Ohne Verlierer und ohne Gewinner. Was immer sich dort oben in der Station befindet, für Sie muß es geradezu euphorisch wirken. Sie sagen, Ihre Seite steht schlecht da? Kaum auszudenken, wenn Sie dieses Etwas erst einmal aus der Station herausgeholt haben!“ Sie öffnete die Tür, ging hinaus und schlug sie hinter sich zu.
Madden lehnte sich zurück und lächelte. „Da haben Sie sogar Recht, Nancy Malden.“

04. Oktober 2053, 14:37 Uhr

Parker hatte es endlich geschafft, die unzähligen Schrauben zu lösen. Wer immer das Ding konstruiert hat, dachte er sarkastisch, ist nie im Leben davon ausgegangen, daß es zu so einer Scheißsituation kommen könnte, in der ich mich gerade befinde. Mit seinen Händen griff er in die vorgesehenen Fassungen der Stahlplatte und hob sie unter großer Anstrengung aus den Scharnieren. An das ständige Schlagen an die Schleusentür hatte er sich gewöhnt. Das war seine Spezialität gewesen. Sich schnell unvorhergesehenen Problemen zu stellen und nach einer Lösung zu finden. Unter anderem deshalb war er zum Kommandanten der orbitalen Mond-Station ernannt wurden, und nicht Conny Hayden, die mit den anderen tot im Zentralmodul lag. Nein, stimmt nicht. Parker ließ die schwere Stahlplatte fallen. Olson ist da draußen. Hinter der Schleuse. „Aber das ist nicht Olson!“ sagte er leise zu sich. „Es sieht nur so aus wie Olson. Aber Olson ist es nicht!“ Er holte die kleine Taschenlampe hervor. „Mal sehen...“ Vor ihm befand sich die Notkonsole. „Licht... wo ist der Schalter für Licht?“ Konzentriert leuchtete er mit der Taschenlampe jede einzelne Reihe Schalter ab. „Ah...“ Er drückte einen Knopf und die schwache rötliche Notbeleuchtung verwandelte sich in ein helles weißes Licht. „Und es ward Licht!“ flüsterte Parker. Der erste Schritt war getan, weitere würden folgen. Parker brauchte dringend Funkkontakt. Gott, dachte er. Du hast in die Kameras geschrien. Du hast dich wie ein Wahnsinniger benommen. Und jetzt? Du denkst wieder klar, reagierst rational! Verdammt! Und aus ihm unerklärlichen Gründen hatte die Station angefangen, sich zu bewegen. Er ahnte, in welche Richtung die Reise gehen sollte. Er mußte zurück ins Zentralmodul. Wie er allerdings dahin gelangen würde, darüber machte er sich jetzt noch keine Gedanken. Methodisch drückte er Knöpfe und legte Schalter um. Nach kurzer Zeit hörte er das Hämmern schon nicht mehr. Nur ab und zu zuckte er zusammen, wenn das Olson-Ding vor Wut aufbrüllte.

04. Oktober 2053, 14:39 Uhr

Verärgert schleuderte sie ihre Sachen in den Koffer. Alles war eine Farce gewesen. Ihr Hiersein. Ihre Miteinbeziehung in die Sache. Wofür? Zwanzig Jahre hast du vergeudet, dachte Nancy. Und dann holen sie dich und erzählen dir irgendeinen Mist.
„Sie packen?“
Nancy drehte sich um. Es war Patton. „Ja. Meine Anwesenheit ist doch mehr als überflüssig.“
„Was hat Madden Ihnen gesagt?“
„Er hat nur Andeutungen gemacht. Die Wahrheit konnte ich mir selbst zusammenreimen. Wissen Sie, Tim?“ Sie machte den Koffer zu. „Mich ärgert es, daß ich nicht früher darauf gekommen bin.“
„Verstehe...“ Patton nickte. „Überstürzen Sie nichts, Nancy. Ihre Anwesenheit ist wichtiger, als Sie vielleicht denken.“
„Dann sagen Sie mir endlich den genauen Grund! Von Andeutungen habe ich die Nase voll! Den Scheiß könnt Ihr euch endgültig sparen. Entweder ich bekomme Antworten...“
„Oder Sie sind weg?“
„Ja.“
„Also gut.“ Patton seufzte. „Kommen Sie mit, Nancy.“ Er tippte sich auf die Brust. „Und vergessen Sie Ihre Identify-Card nicht!“

Auf dem Weg zu den Fahrstühlen sagte Patton zu Nancy: „Die einzige Sache, warum Sie überhaupt hier sind, ist die, daß Sie dem Präsidenten und dem Kongress die ganze Show perfekt verkaufen sollen. Die müssen nicht wirklich wissen, was sich hier abspielt.“
Nancy mußte sich anstrengen, Schritt mit Patton halten zu können. „Sozusagen die Ex-Mitarbeiterin, die letztendlich doch noch Erfolg hatte? Soll das heißen, Sie gehen an die Öffentlichkeit?“ Sie hatten die Fahrstühle erreicht.
Patton drückte auf den Knopf und nickte. „Ja, wir denken, es wäre ein guter Zeitpunkt.“ Leise öffneten sich die Türen. Er ließ Nancy den Vortritt.
„Wie hoch geht’s denn?“
„Nicht hoch, Nancy.“ sagte Patton und deutete nach unten. „Sogar noch tiefer als Maddens Ebene.“
„Noch tiefer?“ fragte sie beeindruckt.
„Sehen Sie, die NASA und die CIA führen einen Krieg, den es eigentlich nicht gibt. Und in dem wir tagtäglich die Öffentlichkeit mit immer neuen Erfolgsmeldungen der Mond-Station... hm... erfreuen...“ Er grinste. „Ja. Erfreuen ist wohl der richtige Ausdruck. Nun, jedenfalls halten wir die Öffentlichkeit, den Präsidenten und den Kongress so an der kurzen Leine.“
„Wie kann das über einen solch langen Zeitraum funktionieren? Das sind nicht nur vier oder fünf Leute, über die Sie reden.“
„Was das betrifft, so kennen Sie die Antwort bereits, Nancy.“ Er sah sie aus den Augenwinkeln heraus an.
Sie verstand. „Verstehe. Ein Unfall da, ein Unfall hier...“
„Wir werden nicht alles sagen. Ich bin da noch am Überlegen. Madden meinte, die Erwähnung, daß es wieder Signale von GA2032 gibt, würde ausreichen, um von der eigentlichen Sache genügend abzulenken. Mir jedoch reicht das noch nicht.“
„Wie weit würden Sie denn gehen, Tim?“ Der Fahrstuhl hielt an.
„Wir sind da, Nancy.“ sagte Patton. „Willkommen in der untersten Etage der NASA!“
„Okay.“ antwortete sie. „Und warum gehen dann die Türen nicht auf?“
„Moment!“ Patton holte holte eine kleine Plastikkarte aus der Hosentasche seines Anzuges.
Erst jetzte bemerkte Nancy den kleinen Schlitz neben dem Ziffernblock. „Ah...“
„Ja.“ Patton steckte die Karte in den Schlitz. Eine Sekunde später gab es einen kurzen hohen Piepton und die Fahrstuhltür öffnete sich. Er steckte die Karte wieder ein. „Alles nur eine Frage der Berechtigung.“

04. Oktober 2053, 14:42 Uhr

Als sie aus dem Fahrstuhl traten, standen sie in einem langen, schmalen Gang, der von grell leuchtenden Neonröhren erhellt wurde. In Abständen von jeweils fünf Metern waren Kameras an den Wänden installiert. In der Mitte des Ganges befand sich eine gelbe Linie.
„Folgen Sie mir, Nancy.“ Er zeigte zu den Kameras. „Und lächeln Sie, damit keiner denkt, Sie führen Böses im Schilde.“
„Ich werde mir Mühe geben, Tim.“
„Haben Sie an Ihre Identify-Card gedacht?“
„Ja.“ Sie holte die Karte hervor und befestigte sie an ihrer Bluse. „Kann losgehen.“
Patton nickte. „Das wird Sie interessieren, Nancy.“
„Na dann. Nach Ihnen, Tim.“
„Das ist natürlich alles streng geheim!“
Sie grinste. „Gut, daß Sie mich darüber aufklären, Tim.“
„Ich meine das völlig ernst.“ sagte Patton. „Nur sehr wenige wissen, was hier vorgeht!“
Nancy räusperte sich. „Ja, okay.“

Nach etwa einhundert Metern erreichten sie das Ende des Ganges, der in eine große Halle mündete. Überall standen Soldaten mit Gewehren, die, so nahm Nancy es jedenfalls an, geladen und entsichert waren.
„Die sind hier, um alles abzusichern.“ sagte Patton. „Wir müssen dort drüben hin. Zur Schleuse!“
Nancy folgte ihm. Sie spürte plötzlich eine Art Angstgefühl. Beinahe so, als die beiden Agenten der NSA sie abgeholt hatten. Sie kam sich beobachtet vor, als ob alle sie anstarrten. Werde jetzt bloß nicht ohnmächtig, befahl sie sich.
„Nancy?“ Patton berührte sie leicht am Arm. „Alles in Ordnung?“ Sie zuckte bei der Berührung zusammen. „Sie brauchen keine Angst zu haben.“ sagte er freundlich.
„Das habe ich schon öfters gehört.“ antwortete sie. Nancy schluckte.
Der Soldat verlangte ihre Card. Dann nahm er den Hörer neben der Schleuse ab und gab die Nummer durch, die auf der Card stand. „Vier... Neun... Neun... Sieben... Alpha... Vier...“ Er nickte kurz. „Ja, Alpha... Vier...“
„Gibt es Probleme?“ fragte Patton.
„Entschuldigen Sie, Sir. Wir überprüfen das gerade. Einen Moment bitte!“ Der Soldat hob eine Hand, die unmißverständlich klarmachen sollte, ruhig zu sein.
Kein Problem, dachte Nancy. Angesichts der Tatsache, daß vor ihr ein zwei Meter großer Berg aus Muskeln stand, würde sie mit absoluter Garantie nichts sagen.
„Ja, verstehe.“ sagte der Soldat und legte auf. Er gab Nancy die Identify-Card zurück. Anschließend drückte er einen kleinen roten Knopf und die Schleuse öffnete sich. „Alles in Ordnung. Sie können eintreten.“ Er lächelte Nancy freundlich an.
Patton trat ohne ein Wort zu sagen durch die Schleuse. Nancy nickte dem Soldaten zu. Als dieser jedoch keine Reaktion darauf zeigte, ging auch sie schnell durch die Schleuse.

04. Oktober 2053, 14:57 Uhr

Während das Olson-Ding beständig gegen die Schleuse hämmerte, steckte Parker geduldig einen Stecker nach dem anderen in die jeweils vorgesehene Öffnung. Wenn er alles richtig machte, würde er hier im Maschinenraum Funkkontakt zur Erde herstellen können. „Konzentrier dich!“

04. Oktober 2053, 14:59 Uhr

„Wo sind wir hier?“ fragte Nancy. Kaum hatte sie die Schleuse durchtreten, schien sie in einer völlig anderen Welt zu sein. Der lange Gang, der Raum mit den Soldaten, all das hatte sehr spartanisch gewirkt. Doch hier...
„In General Walkinshaws Reich.“ erklärte ihr Patton, während sie an unzähligen Büros und aufgeregt hinundherlaufenden Menschen vorbeigingen. „Hier findet der Krieg statt, von dem keiner etwas weiß. Das heißt, ein paar wissen es schon.“ Es sollte wie ein Witz klingen, aber offenbar hatte er die gewünschte Wirkung nicht erreicht. „Naja, egal.“ Er winkte ab. „Kommen Sie. Es ist das Büro ganz hinten.“
„Zu wem gehen wir? Walkinshaw?“
„Ja. Und tun Sie sich selbst einen Gefallen. Nennen Sie ihn General oder Sir. Er steht da irgendwie drauf. Naja...“ Er machte eine kreisende Bewegung mit dem Zeigefinger. „Militär halt.“
„Moment!“ Sie blieb stehen. „Das hier ist kein zivilier Bereich mehr?“
„Seit wann war die NASA jemals ein ziviler Bereich, Nancy?“ fragte Patton und zwinkerte ihr zu. Sie gingen weiter, bis sie Walkinshaws Büro erreicht hatten. Ohne Anzuklopfen öffnete Patton die Tür und blieb wie angewurzelt stehen. „Was ist denn hier los?“
„Kommt rein und schließt die Tür!“ sagte Walkinshaw, ohne die beiden anzusehen. „Sie sagen jetzt nichts, Mrs. Malden!“
In dem Raum befanden sich neben dem General noch Madden, Jennings, Bowens und eine junge Frau, die Nancy nicht kannte.
„Paul?“ fragte Patton leise.
Walkinshaw zeigte auf die Mitte seines Schreibtisches, wo eine kleine tragbare Funkstation stand. „Es ist ein Wunder, aber wir haben wieder Kontakt!“ Dann nickte er der jungen Frau zu. „Versuchen Sie es noch einmal.“
„Ich denke, jetzt sollte es stabiler sein, Sir.“ Die junge Frau drückte ein paar Knöpfe und drehte an einem kleinen Rad. Zufrieden nickte sie und reichte Madden das Headset. „Ich habe auf ‚Laut‘ gestellt.“
Madden hob den Daumen. Dann drückte er die Sprechtaste und sagte laut und deutlich: „Mission Control an Parker... Können Sie uns jetzt besser verstehen?“ Er ließ die Sprechtase los. Es rauschte aus den Boxen, aber dann...

„... ntrol... Parker hier. Können Sie mich verstehen?...“
„Jetzt ist es besser. Hier spricht Carl Madden. Wie ist Ihr Zustand, Commander Parker?“
„... Madden... Gut, ich bin in Ordnung... Zeit ist knapp... Ich befinde mich im Maschinenraum...“
„Was ist mit den anderen? Gibt es noch andere Überlebende?“
„... Nein... Ich bin der Einzige... Hören Sie...“
„Können Sie uns sagen, was passiert ist?“
„...Ja.... Ein Signal vor drei Tagen... Kein Irdisches... GA2032... Sagt Ihnen das was?“
„Was ist genau passiert, Commander?“
„... Ich weiß nicht wie... Flackern der Monitore... Stromausfall... Überall stand nur GA2032... Es war ein elektronischer Impuls... empfangen haben... Plötzlich... Chaos... Hören Sie... Wie...“
„Parker?“
„... bewegt sich, die Station bewegt sich... Wie kann ich sie stoppen? Wie kann ich...“
„Nein, Parker. Wir schicken Ihnen ein Shuttle mit Spezialisten. Wir...“
„... zu gefährlich... Ein Virus... oder Code? ...vermute ich... übermittelt... durch Impuls... das möglich?“
„Das wissen wir nicht. Unternehmen Sie nichts, um die Station aufzuhalten! Haben Sie mich verstanden?“
„... Sir? Ich soll... stoppen... Wahnsinn...“
„Wir tun alles, um Ihnen zu helfen. Das Shuttle wird heute abend starten.“
„... Nein, zu gefährlich...“
„Commander, diese Entscheidung liegt nicht bei Ihnen!“
„... Madden... nicht! Das Virus... oder was auch immer... meine Crew ist tot... Olson... nicht Olson... Zu gefährlich... Was... über GA2032... Madden! Hören Sie... Hallo? Ich...“
„Parker?“
„...“
Madden versuchte es weiter. „Parker! Kommen Sie! Parker!“
„...“
„Scheiße!“ Madden sah zu Walkinshaw. „Er ist weg.“ Dann sah er zu der jungen Frau, die fieberhaft versuchte, die Verbindung wieder herzustellen, aber nach einer Weile schüttelte sie resignierend den Kopf schüttelte. „Nichts zu machen?“ fragte er.
„Tut mir leid, Sir. Nichts zu machen.“
Madden nahm das Headset ab und legte es auf den Tisch. „Mist!“
„Immerhin...“ sagte Samantha Bowens.
„Was immerhin?“ frage sie Madden.
„Wir hatten Kontakt. Und... Es hat sich bestätigt, daß Parker noch am Leben ist.“
„Ja.“ sagte Madden leise. „Immerhin...“

04. Oktober 2053, 15:07 Uhr

„Madden! Mission Control! Verstehen Sie mich? Können Sie mich verstehen? Madden... Ach, Scheiße!“ Parker schaltete das Funkgerät ab. Sind die dort unten wahnsinnig geworden? Er begriff es nicht. Nicht nur, daß Madden im Grunde genommen auf keine seiner Fragen eine Antwort gegeben hatte, nein, ihm war es offenbar wichtiger, daß die Station weiter Kurs zur Erde nahm. „Sie schicken ein Shuttle.“ stöhnte Parker. Die haben dir überhaupt nicht zugehört. Und dann bemerkte er etwas. Er schloß kurz die Augen. „Was...“ Das Hämmern! Es hatte aufgehört. Er sah zur Schleuse, die intakt aussah. Nein, hier drinnen ist es nicht. „Das hätte ich bemerkt.“ redete sich Parker leise ein.

04. Oktober 2053, 15:08 Uhr

Nancy klatschte in die Hände. „Das war ja wirklich... großartig!“ Sie begann zu lachen.
„Sind Sie verrückt?“ fragte Patton und sah entschuldigend zu Walkinshaw und Madden. „Hören Sie auf zu lachen!“
„Warum? Sie haben das hier doch eben genau wie ich mitverfolgen können, Tim. Unfaßbar! Großer Gott!“ Sie sah zu Madden. „Warum haben Sie ihm nicht gleich gesagt, daß Sie an einer Rettung von Parker überhaupt nicht interessiert sind? Nur die Station zählt! Nur dieses Virus, oder irgendein Signal! Nur dieses verdammte Etwas!“
„Nancy...“ Madden hob beschwichtigend die Hände.
Walkinshaw stand auf. „Sarkasmus ist jetzt völlig fehl am Platz. Zugegeben, Madden hat sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Vielleicht...“ Er runzelte die Stirn. „Vielleicht hätte ich besser mit Parker reden sollen. Aber ändern können wir nun nichts mehr.“ Er sah zu Nancy. „Nun gut. Wir machen weiter wie geplant. Das Shuttle wird heute abend starten.“ Zu Madden gewandt sagte er: „Das ist Ihre Sache, Madden. Sie haben die Mission erarbeitet. Kümmern Sie sich darum!“ Walkinshaw sah zu den anderen. „Wir hatten kurzen Kontakt. Nun setzen wir alles daran, die wenigen Informationen, die uns Parker geben konnte, für uns zu benutzen. Tim, du bereitest die Rede für Mrs. Malden vor! Mrs. Bowens, Sie gehen das Gespräch zwischen Parker und Madden durch. Geben Sie mir Beweise, daß auch er... von diesem Ding befallen ist.“
„Nun, Sir... Das kann ich Ihnen jetzt schon...“ Walkinshaw warf ihr einen wütenden Blick zu. Samantha verstand. „Ja, ich werde es mir noch einmal anhören.“ Sie lächelte kurz und verließ das Büro des Generals.
„Und Sie?“ Walkinshaw musterte die junge Frau, die das Funkgerät eingestellt hatte. „Sie gehen jetzt und machen das, was Sie immer tun, okay?“ Deutlich konnte man das erleichterte Aufatmen der Frau hören, die schnell aus dem Raum ging. Er sah ihr hinterher und schüttelte den Kopf. Er bemerkte, daß Patton immer noch da war. „Tim?“
Patton war unschlüssig. „Sollte ich nicht bleiben?“
„Nein!“ Walkinshaw deutete zu Jennings und Nancy. „Es paßt schon. Du wirst über alles informiert werden, Tim.“
„Wenn du meinst, Paul.“ Patton seufzte, stand auf und verließ ebenfalls das Büro.
Walkinshaw lächelte. Jetzt waren nur noch Nancy Malden und Tim Jennings anwesend. „Na, dann kommen wir mal zu Ihnen beiden.“
„Ich bitte darum!“ sagte Nancy und sah dem General fest in die Augen, während Harold schwitzend an seiner Krawatte zog, um sie etwas zu lockern.

„Ich war von Anfang an dagegen, daß Sie wieder auf der Bildfläche erscheinen.“ sagte Walkinshaw zu Nancy. Die Art, wie er zu ihr sprach, deutete nicht daraufhin, daß er ihr wohlgesonnen war. „Aber Patton meinte, es wäre besser, wenn diejenige die Öffentlichkeit informiert, die vor zwanzig Jahren für das Scheitern der GA2032-Mission verantwortlich gemacht wurde.“ Eindringlich sah er Nancy an.
Sie hielt dem Blick stand und sagte: „Sie haben vorhin gesagt, Patton solle meine Rede vorbereiten.“
Walkinshaw zuckte mit den Schultern. „Wir werden vorher aufzeichnen.“
„Das meinte ich nicht. Ich will wissen, was drin stehen wird. Tim wollte der Öffentlichkeit den Erfolg... “ Sie wurde von Walkinshaw unterbrochen.
„Nein! Nichts über einen Erfolg der GA2032-Mission! Vielleicht, daß GA2032 wieder sendet und uns Ergebnisse liefert, die eher... niederschmetternd wirken könnten. Irgendetwas, was die tatsächlichen Ereignisse völlig außen vor läßt. Man wird ein oder zwei Tage darüber reden. Bis dahin haben wir das Problem mit der Mond-Station gelöst und Sie, Mrs. Malden, Sie können sogar wieder bei uns anfangen. Hm? Ist doch sicherlich interessanter, als billige Programme für mittelmäßige Konzerne zu schreiben.“
„Ich bin nur eine Marionette.“ Sie sah den General giftig an.
Walkinshaw winkte ab. „Kommen Sie mir bloß nicht damit!“
„Sir?“
„Jeder von uns ist nur irgendein Werkzeug einer nächst höheren Instanz. Diese Masche zieht nicht mehr. Nein, wir bieten Ihnen wieder an, für die NASA zu arbeiten. Und ehrlich gesagt, glaube ich nicht, daß Sie dieses Angebot ablehnen werden.“
„Wieder für die NASA arbeiten?“ fragte Nancy. „Wie haben Sie sich das vorgestellt?“
„Ganz einfach.“ sagte plötzlich Jennings. „Es ist ganz einfach.“
„Aha? Inwiefern?“
Jennings sah zu Walkinshaw, der kaum merklich mit dem Kopf nickte. „Es sieht so aus, Nancy. Ich werde Pattons Posten übernehmen.“
„Oh...“ Sie war wirklich überrascht. „Und Patton?“
Walkinshaw zündete sich eine Zigarette an. „Es ist ein großes Schachspiel, Mrs. Malden. Sie wissen doch, wie man Schach spielt?“ Er reichte ihr die Packung.
Langsam zog Nancy eine Zigarette heraus. „Natürlich. Es kommt auf Taktik an.“
„Und manchmal...“ Jennings machte eine bedeutende Geste. „Und manchmal bringt man Opfer. Und in dem Krieg, in den wir uns befinden, werden sehr häufig Opfer gebracht.“ Er nestelte umständlich ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche und gab es Nancy.

04. Oktober 2053, 15:12 Uhr

Parker kauerte vor Olsons Leichnam, der direkt vor der Schleuse lag. Er mußte nicht einmal nachprüfen, ob Olson wirklich endgültig tot war. Er wußte es einfach. Parker sah den schmalen Gang entlang, Richtung Durchstieg zum Zentralmodul. Ob er es wagen sollte? „Wo bist du, hm? Und vor allem, was zum Teufel bist du?“ Er stand auf. „Okay. Tu es einfach!“ Parker schloß die Schleuse zum Maschinenraum der Station. Dann schlich er durch den jetzt hell beleuchteten Gang. Sein Ziel hatte er fest vor Augen. Das Zentralmodul. Und dort würde er alles versuchen, den Antrieb der Station außer Kraft zu setzen. Im Maschinenraum hatte es nicht funktioniert. Den Gedanken, ein oder zwei Kabel zu durchtrennen, hatte er schnell aufgegeben. Nein, er mußte sich direkt in den Bordcomputer einloggen und dort die Befehle für einen sofortigen Stopp suchen. Denk an das Shuttle, Junge. Die kommen hier her. Und wenn du ehrlich bist, so mußt du dir eingestehen, daß du nicht wirklich glaubst, daß die versuchen wollen, die Station zu retten. Die wollen nur dieses Scheißetwas! „Idioten!“ fluchte Parker. Dann hatte er die Schleuse zwischen Zentral- und Antriebsmodul erreicht.

04. Oktober 2053, 15:49 Uhr

Die vier Crewmen des Shuttles ‚Ganymed‘ bekamen von Madden die letzten Instruktionen. „Sie wissen, was zu tun ist: Andocken. Suchen. Finden. Abdocken. Rückkehr. Ganz einfach.“
Captain Bruce Woodens räusperte sich. „Sir, ich habe die bisherigen Memos und Akten gelesen, die man uns gegeben hat. Aber ich will offen zu Ihnen sein.“ Er sah zu den anderen.
Madden nickte. „Nur zu, Woodens.“
„Sir, es geht darum, daß wir zur Station geschickt werden...“
„Wo ist denn das Problem? Ich verstehe nicht ganz.“
„Wann wollen Sie uns mitteilen, nach was wir an Bord der Station suchen sollen?“
„Das erfahren Sie rechtzeitig genug!“
„Ist es ein Himmelfahrtskommando, Sir?“ fragte Curtis Crawford, zuständig für die Mechanik.
„Nein, es wird ein ganz normaler Routinejob werden.“

04. Oktober 2053, 16:43 Uhr

In der Ferne konnte man die mächtige Rakete sehen, die das Shuttle ‚Ganymed‘ ins All befördern würde. Taifun-Klasse. Effizienter und leistungsfähiger als alle anderen, die die NASA zuvor benutzt hatte. Tim Patton stand am Fenster und betrachtete schweigend die Szenerie. Obwohl die Startrampe zwei Kilometer vom Gebäudekomplex entfernt war, hatte er alles vor seinem geistigen Auge, was sich in diesem Moment direkt an der Rampe abspielte: Techniker, die zum hundertsten Mal hunderte von Checklisten durchgingen; die Astronauten, die in ihren Sitzen festgeschnallt waren und geduldig auf den Start warteten; Bodenpersonal, das das tat, was es zu tun hatte; die vielen Menschen vor ihren Terminals im Kontrollraum. Normalerweise ließ es sich Tim nicht nehmen, bei jedem Start im Kontrollraum anwesend zu sein. Aber die Ereignisse unten im Büro von Walkinshaw ließen ihn zweifeln. An seiner Position. An der Loyalität von Jennings. Warum ist er dageblieben und du nicht? Planen die an dir vorbei? Sitzt du auf einem Stuhl, der jeden Moment zusammenbrechen kann?

„Alles Scheiße!“ fluchte er und ging zu seinem Schreibtisch. Seufzend ließ er sich in seinen Stuhl fallen. Je mehr darüber nachdachte, um so mehr fühlte er sich bestätigt. Keine Frage, sie wollten ihn loswerden. Die ganze Zeit hatte er es nicht glauben wollen, aber die Szene bei Walkinshaw hatte den Ausschlag gegeben. „Die wollen dich loswerden, Timothy!“ redete er sich leise ein. „Aber so leicht läßt du dich nicht unterkriegen, verdammt!“ Er nahm einen Bleistift und ein leeres Blatt Papier, um die Rede für Nancy Malden auszuarbeiten. Gewissermaßen war in solchen Dingen ein Dinosaurier. Kaum jemand, den Patton kannte, benutzte nicht einen Computer. Oder ein Diktiergerät, oder andere Sachen, die eigentlich mehr als selbstverständlich für die Zeit waren. Doch Tim fühlte sich einfach besser, wenn er mit einer leicht verschnörkelten Schrift seine Gedanken zu Papier bringen konnte. Er klopfte mit seinen Fingerknöcheln auf den Schreibtisch. Es half beim Nachdenken. Dann schrieb er den ersten Satz der Rede auf, die Nancy Malden bald in unzählige Kameras und Mikrofone sagen würde.

04. Oktober 2053, 15:27 Uhr

Eigentlich war das Zentralmodul der orbitalen Mond-Station immer der Ort gewesen, wo es am lautesten war. Doch nun herrschte Stille. Parker vermied es, zu den Leichnamen zu sehen, die bis vor kurzem noch seine komplette Crew darstellten. Stimmt nicht, korrigierte er sich. Olson liegt noch vor der Schleuse zum Maschinenraum. Ohne Schwierigkeiten hatte er es geschafft, ins Zentralmodul zu gelangen, obwohl er ständig damit gerechnet hatte, von was auch immer übernommen zu werden. So hatte er es genannt, als er vor Olsons Leiche kauerte: Übernommen werden. Von einer fremden Existenz, die urplötzlich aufgetaucht war. Alles verlief so schnell. Das merkwürdige Signal, das vom Pluto kam, das Flackern der Monitore, der Stromausfall... Parker schloß kurz die Augen. Ein Virus ist es nicht, jedenfalls kein organisches. Eine Art Computervirus? Jenes Relikt aus längst vergessenen Zeiten? Möglich. Aber vom Pluto? GA2032? Natürlich kannte Parker die Mission, die vor zwanzig Jahren geradezu katastrophal gescheitert war. Dieser sündhaft teure Roboter, der einfach aufgehört hatte zu funktionieren. Aber, dachte er, wenn es kein organisches Virus ist, wie zum Teufel konnte es dann Olson und die anderen dermaßen verändern? Und warum kannst du jetzt in diesem Moment so rational denken, obwohl das Scheißding immer noch da sein muß? „Scheiß drauf!“

Seine Augen sahen gebannt auf den Monitor des Hauptrechners, während er in rascher Reihenfolge Befehle eingab, die ihn direkt zu den Systemdateien führen sollten. Jedenfalls hoffte er es. Ob er Erfolg haben würde? „Abwarten!“ flüsterte Parker. Es dauerte eine Weile, doch dann hatte er es geschafft. Er gab weitere Befehle und Paßwörter ein, die nötig waren, um zu dem Ziel zu gelangen, das Parker erreichen wollte: Die Station anhalten und somit den Kurs zur Erde zu beenden. „Die sind ja vollkommen irre, ein Shuttle zu schicken!“ Er beugte sich leicht nach vorne. „Gibt es da unten keinen, der auch nur annähernd begriffen hat, was hier passiert ist?“ Die vielen Abfragen verwirrten ihn. „Scheiße!“ Nach kurzer Zeit hatte Parker festgestellt, daß er nicht instande war, den Antrieb der Station abzuschalten. „So ein Mist!“ Verfluchte Scheißkerle, dachte er. Und nun? „Du brauchst Funkkontakt! Du brauchst da unten einen, der vernünftig ist!“ Kaum, daß Parker seine Gedanken laut geäußert hatte, flackerte der Monitor vor ihm auf. Die hellgraue Anzeige wurde schwarz. Wo eben die Meldung ‚Zugriff verweigert‘ zu lesen war, stand nun etwas, was Parker nie im Leben erwartet hätte. „Großer Gott!“ Ihm wurde schlecht. Auf dem Monitor vor ihm stand in dicken fetten und weißen Großbuchstaben ‚WIRST DU MIR EINE ANTWORT GEBEN?‘.

Commander Cole Parker verkörperte das, was man einen perfekten Menschen nannte: Intelligent, reaktionsfähig, gut aussehend. All die Eigenschaften, die irgendwelche Meinungsmacher in zahlreichen Umfragen und Tests in den letzten Jahrzehnten ermittelt hatten. Trotzdem brauchte er eine Minute, um mit großen Augen das zu akzeptieren, was er eben gelesen hatte. „Was zum...“ Unglaublich! Versuchte der Eindringling mit ihm Kontakt aufzunehmen? Er ballte seine Hände mehrmals zu Fäusten. Dann holte er tief Luft und tippte mit leicht zitternden Händen eine Antwort auf der Tastatur ein: „Eine Antwort worauf?“

04. Oktober 2053, 16:59 Uhr

Auf dem Weg nach oben unterhielten sich Nancy und Harold über die Geschehnisse in Walkinshaws Büro. Für Nancy war es mehr als überraschend gewesen, mit was für einer kühlen Arroganz der General und Jennings über Pattons Verbleib bei der NASA geredet hatten. „Sie glauben wirklich, daß er noch nichts mitbekommen hat?“
Jennings nickte kurz und antwortete: „Tim war vor fünf Jahren auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Vielleicht haben Sie davon gehört. Der Mars-Zwischenfall. Wochenlang wurde in den Medien darüber geschrieben.“
„Ich erinnere mich. Er war es, der eine Katastrophe verhindert hat.“
„Ja. Tim hatte eiskalt angeordnet, die Hilfslieferungen zu stoppen.“ Harold schluckte und sagte leise: „Der Tod von schätzungsweise dreitausend Siedlern bedeutete das Überleben von zwei millionen Menschen.“
„Ist die Gegend heute immer noch Sperrzone?“
„Damals wurde in einem Gebiet von dreihundert Quadratkilometern systematisch alles ausgelöscht. Menschen, Tiere, Pflanzen, einfach alles. Ein Betreten der Eden-Zone ist immer noch strengstens untersagt.“ Der Fahrstuhl hielt an. „Es ist Tim zu verdanken, daß der Mars weiterhin Stück für Stück kolonisiert werden kann.“
Sie nickte. „Und trotzdem haben Walkinshaw und Sie beschlossen, ihn... nun... loszuwerden.“
„Nein.“ Harold trat aus dem Fahrstuhl heraus. „So ist es nicht. Kommen Sie!“
„Nicht?“ fragte sie und folgte Jennings.

„Wir wollen Tim nicht loswerden. Auf gar keinen Fall. Dazu ist er zu wichtig, hat zuviel Einfluß. Paul hat entschlossen, Tim zu befördern.“
Nancy blieb stehen. „Befördern?“
„Na klar! Wissen Sie, als Projektleiter hat man praktisch den besten Job hier bei der NASA. Als nächstes kommt dann eine Tätigkeit im Öffentlichkeitsbereich. Für Außenstehende mag das sehr wichtig klingen, aber im Grunde genommen ist das Mumpitz!“
„Warum?“
„Ganz einfach. Man bekommt Vorgaben, die anschließend denen da draußen mitgeteilt werden.“ Jennings deutete mit seiner Hand zu einem Fenster. „Können Sie die Taifun-Rakete sehen? Wenn alles erfolgreich verläuft, dann wird Tim es sein, der diesen Erfolg verkünden wird. Und er wird es sein, dem die Menschen vor den Fernsehern zujubeln. Nicht Carl Madden oder mir. Verstehen Sie?“
„Ja. Und sowas soll ich dann auch machen?“ Nancy winkte ab. „Schlimm genug, daß ich mich überreden ließ, diese GA2032-Erklärung zu machen.“
„Das ist wichtig. Es ist einfach glaubwürdiger. Und außerdem möchte ich, daß Sie in meinem Team arbeiten.“
„So?“
„Natürlich. Ich fand es schon damals bedauerlich, daß Sie gehen mußten. Kluge Köpfe wirft man nicht einfach raus.“
Jetzt war Nancy tatsächlich überrascht. „Daß Sie so über mich denken...“
Jennings grinste. „Gewöhnen Sie sich nicht daran, okay?“

04. Oktober 2053, 17:49 Uhr

Walkinshaw hatte alle in sein Büro beordert. Patten, Jennings, Madden und Nancy. Samantha Bowens fehlte. „Nichts funktioniert. Der Bordcomputer ist ausgefallen. Die im Kontrollraum meinen, es ist alles in Ordnung. Die wissen nicht, warum wir nicht starten können.“ Kopfschüttelnd zündete er sich eine Zigarette an. „Ich habe das Gremium verständigt. Vielleicht schaffen es die Europäer. Obwohl...“ Er aschte ab und sagte leise: „Ich kann mir nicht vortstellen, daß die das packen. In den letzten fünf Jahren haben die keinen vernünftigen Start mehr hinbekommen.“ Keiner sagte etwas. „Hat es euch die Sprache verschlagen?“ fragte er wütend. „Wir können unser verdammtes Shuttle nicht starten. Nicht an die Station andocken und uns das holen, was für uns außerordentlich wichtig ist!“
„Das Gremium?“ fragte Nancy interessiert. Sie erinnerte sich, daß Tim die Sache kurz erwähnt hatte, dann aber nicht weiter darauf eingegangen war. „Was hat es mit diesem Gremium auf sich?“
„Hat man es Ihnen nicht gesagt?“ fragte Walkinshaw und sah kurz zu Patton, der tief Luft holend abwehrend die Arme hob. „Tim?“
Patton, immer noch die Arme hochhaltend, sagte: „Also komm, Paul. Das geht Nancy nun wirklich nichts an.“
Der General seufzte. „Nun habe ich es erwähnt, sie hat nachgefragt... Ich denke, sie sollte auch eine Antwort bekommen.“
Nancy nickte. „Ja, wenn ich zukünftig...“ Jennings räusperte sich und berührte sie leicht am Arm. Sie verstand. „Ich würde es gern wissen, okay?“
„Von mir aus.“ Patton verschränkte resignierend die Arme vor der Brust. „Das Gremium ist ein Zusammenschluß von fünf Menschen, die der ESA und der NASA vorstehen. Egal, was wir oder die anderen gerade vorhaben, es braucht immer die Zustimmung des Gremiums.“
„Entschuldigung, aber das...“ Nancy fing an zu lachen. „Das klingt wie ein schlechter Film.“ Als sie die ernsten Gesichter sah, wurde es ihr klar. „Es läuft tatsächlich so?“
„Ja.“ sagte Madden. „Im ersten Moment mag das lächerlich erscheinen, aber wenn man sich bewußt wird, wie tiefgreifend es ist, dann kommt man zu dem Entschluß, daß das Gremium eine mehr als vernünftige Institution ist, um die Abläufe bei der ESA und bei uns geplant zu koordinieren.“
„Ich verstehe überhaupt nichts.“ Hilflos sah Nancy zu Jennings.
Harold nickte und sagte: „Stellen Sie es sich wie den Sicherheitsrat der UNO vor, die es vor zehn Jahren noch gab. Nur, daß das Gremium entschieden mehr Macht hat.“
„Das führt zu nichts.“ Walkinshaw stand auf. „Lassen Sie es sich später von Tim genau erklären. Wichtiger ist, daß...“ Das Telefon klingelte. „Verdammt...“ Er nahm den Hörer ab. „Ja? Walkinshaw... Ja... Was? Sagen Sie das noch einmal... Verstehe... Ja.“ Langsam legte er den Hörer wieder auf. „Die Station...“ Der General schüttelte den Kopf. „Sie...“
„Was ist mit der Station?“ fragte Madden. „Was ist passiert?“
Walkinshaw setzte sich. „Sie ist...“ Weiter kam er nicht.

04. Oktober 2053, 17:59 Uhr

„Nicht bewegen!“ schrie Patton zu Walkinshaw und versuchte die schwere Tischplatte hochzuheben. Er sah, wie Madden orientierungslos sich durch den Rauch hindurch an der Wand entlangtastete. „Madden! Carl! Kommen Sie her! Helfen Sie mir!“
„Tim?“ Carl sah das schmerzverzerrte Gesicht des Generals. Großer Gott! Was ist hier passiert? „Was war das? Eine Explosion?“ Etwas schmerzte, aber er wußte nicht, was.
„Natürlich! Was denn sonst. Helfen Sie mir!“ Patton deutete auf die Tischplatte. „Seine Beine sind eingeklemmt.“
„Was ist mit den anderen?“ fragte Carl und faßte mit an. Beide hoben die Platte nach oben und ließen sie neben Walkinshaw zu Boden fallen. „Was ist mit den anderen?“ fragte er erneut. „Tim!“ Und dann sah er es selbst. „Oh nein!“ Was auch immer die Explosion ausgelöst hatte, es war verheerend gewesen. Jennings Körper war von mehreren Glasscherben durchbohrt wurden. Man konnte deutlich den überraschten Blick seiner nun toten Augen erkennen, als das Inferno plötzlich losgebrochen war. Nancy Malden saß mit dem Kopf nach unten gebeugt an der Wand. Über ihr war Blut. Madden ging langsam zu ihr, während Tim sich um Walkinshaw kümmerte. „Nancy? Alles in Ordnung?“ Keine Antwort. „Nancy?“ Er ging stöhnend in die Hocke. „Nancy?“ Vorsichtig berührte er sie. „Nancy?“ Wie in Zeitlupe kippte Nancy tot zur Seite. „Großer...“ Verzweifelt fing Carl Madden an zu schreien.

„Was...“ Walkinshaw packte Tim am Ärmel. „Tim?“
„Beweg dich nicht, Paul!“ sagte Patton und sah zu Carl, der schreiend vor Nancys Leichnam hockte. „Es gab eine Explosion. Nancy und Harold sind tot. Wahrscheinlich ist...“
„Tim!“ stöhnte der General. „Die Station! Sie ist explodiert!“
Patton nickte stumm. Tränen liefen ihm über das staubige Gesicht. „Ich habe es in dem Moment gewußt, als du aufgelegt hattest. Ich habe es gewußt. Etwas Schreckliches ist passiert. Das habe ich gedacht. Und dann... Scheiße!“
„Alles aus und vorbei, Tim.“ Walkinshaw hustete und spuckte etwas Blut. „Meine Beine... Ich kann sie nicht fühlen!“
„Hilfe wird gleich da sein!“ Patton konnte durch den immer noch in der Luft liegenden Staub erkennen, wie Soldaten, Zivilisten und Sanitäter auf dem Gang umherirrten. „Hierher!“ schrie er. „Hier!“
Walkinshaw umklammerte Tims linke Hand. „Es tut mir leid... Ich...“
„Du wirst schon wieder...“ Patton blickte zu Madden. „Carl?“

27. Oktober 2053, 11:05 Uhr

Der provisorische Presseraum war voll. Timothy Patton und Carl Madden sahen sich einem Bombardement von Fragen ausgeliefert. Viele Fragen, auf die es keine Antwort gab. Keine Antwort geben durfte...

CNN: „Was ist am 04. Oktober passiert?“
Patton: „Aus bisher immer noch unerklärlichen Gründen sind die orbitale Mond-Station und die beiden Zentralen der ESA und der NASA zerstört wurden.“
CNN: „Das wissen wir bereits...“
Madden: „Die Ermittlungen laufen. Der Präsident persönlich hat angeordnet...“
BBC: „Auch die neue Taifun-Klasse ist explodiert. Der ganze Startbereich!“
Madden: „Das ist bekannt, ja.“
CNN: „Und Sie haben keine Erklärung dafür?“
Madden: „Nein.“
CNN: „GA2032.“
Patton: „Wie bitte?“
CNN: „Unter den viertausend Toten bei der NASA befand sich auch Nancy Malden. Soviel ich weiß, wurde sie vor zwanzig Jahren von Ihrer zivilen Behörde gefeuert.“
Madden: „Das ist richtig. Wider Erwarten haben wir Signale von GA2032 empfangen. Eine Mission, die gescheitert war. Und da Nancy...“
SkyTV: „Es gab wieder Kontakt mit GA2032?“
Patton: „Ja. Deshalb wurde Nancy Malden wieder reaktiviert. Die Signale erwiesen sich jedoch als unwichtig. Vermutlich hat sich die Batterie von GA2032 wieder aufgeladen.“
Madden: „Wie wissen es einfach nicht, okay?“
SkyTV: „Sie wollen es uns nicht sagen!“
Madden: „Wir wissen es einfach nicht!“
BBC: „Besteht ein Zusammenhang mit dem Krieg, den die NASA und die CIA zusammen gegen China geführt haben?“
Patton: „Woher haben Sie denn diesen Unsinn?“
BBC: „Wir haben Quellen...“
Madden: „Wir arbeiten auf eine höchst erfreuliche Art und Weise mit der ESA und den Chinesen zusammen. Irgendwelche wilden Gerüchte sind einfach falsch und deshalb nicht ernstzunehmen.“
BBC: „Aber ist es nicht verwunderlich, daß bei den Chinesen nichts passiert ist? Sie sind jetzt praktisch die einzige Nation mit einem funktionierenden Weltraumprogramm.“
Madden: „Wie gesagt: Alles irreale Spekulationen, die zu nichts führen!“
ABC: „Gibt es bereits konkrete Pläne für ein neues NASA-Gelände?“
Madden: „Die gibt es, ja. Aber noch ist nichts entschieden.“
ABC: „Wieviele Tote gab es nun genau?“
Patton: „Knapp viertausend Menschen wurden durch die Katastrophe vernichtet. Das wurde vorhin bereits gesagt!“
Madden: „Die ESA meldete fast identische Zahlen...“
CNN: „Was glauben Sie, wann die Öffentlichkeit erfährt, was genau passiert ist?“
Patton: „Wenn alles aufgeklärt ist, wird die Öffentlichkeit in Kenntnis gesetzt werden.“
CNN: „Wird es eine neue Mond-Station geben?“
Patton: „Diese Frage zu beantworten, ist zum jetzigen Zeitpunkt einfach noch zu früh.“
SkyTV: „Gibt es...“
Madden: „Entschuldigen Sie, aber die Pressekonferenz ist nun beendet!“

Die wütende Entrüstung seitens der Presse ignorierend standen Carl und Tim auf und verließen wortlos, begleitet von vier Sicherheitsleuten, den Raum.
„Die wissen ganz genau, was passiert ist!“ sagte einer der Journalisten zu einem anderen.
„Natürlich!“ bekam er als Antwort. „Das selbe Spielchen wie immer... Zum Kotzen!“

04. Oktober 2053, 15:35 Uhr

Cole Parker holte tief Luft und tippte mit leicht zitternden Händen eine Antwort auf der Tastatur ein: „Eine Antwort worauf?“ Der Monitor flackerte wieder kurz.

WAS WOLLT IHR VON MIR?

„Wer bist du?“ Parker sprach laut mit, während er die Finger über die Tastatur gleiten ließ.

WARUM HABT IHR MIR NICHT GEANTWORTET?

„Worauf geantwortet?“

ICH HABE EUCH EINE FRAGE GESCHICKT!

„Was für eine Frage?“ Hilflos zuckte Parker mit den Schultern.

WAS WOLLT IHR VON MIR?

„Bist du das Signal, welches die Station empfangen hat?“

JA!

„Wir wollten nichts von dir.“

IHR WART DA!

Ich verstehe überhaupt nichts, dachte Parker deprimiert. Mein Gott, du hast eine Begegnung mit einer außerirdischen Intelligenz, und dann entpuppt sich das als sinnloses Frage- und Antwortspielchen. Er versuchte einen neuen Ansatz. „Mein Name ist Parker. Wie ist deiner?“

NAME?

„Deine Bezeichnung! Woher kannst du unsere Sprache?“

GA2032! EINGEBAUTE MODULE. MEMORY-CHIPS!

„Du bist GA2032?“

NEIN!

Moment mal... Parker überlegte kurz. Was, wenn der Roboter auf Pluto irgendetwas aufgespürt hatte? Oder geweckt... Oder was auch immer...Und dieses Etwas dann ein Signal zur Erde geschickt hatte? Und keine Antwort bekam? Oder eine Antwort erhielt, sie aber nicht verstehen konnte? Das überfordert mich. „Was war deine Frage?“ tippte er nach einigen Minuten zögerlich ein. Wer weiß, wie lange das noch dauert.

WAS WOLLT IHR VON MIR?

„War das deine Frage?“

JA!

Endlich! Erleichtert lehnte Parker sich etwas zurück. Also hatten die da unten vor zwanzig Jahren Mist gebaut. Die Mission war kein Reinfall gewesen. Jetzt streng dich an, befahl er sich. „Wir haben versucht, Kontakt zu dir aufzunehmen.“

ICH WOLLTE MEINE RUHE!

Verdutzt fuhr sich Parker durchs Haar. Etwas stimmt hier nicht. Er hatte fast den Eindruck, als ob sich jemand von der Erde aus ins System gehackt hatte... Und wenn es so wäre? Das hier klingt nicht wie ein allmächtiges intelligentes Wesen. „Warum hast du die anderen Menschen getötet?“

DAS HABE ICH NICHT GETAN!

Nicht? Wer denn sonst? „Wer dann?“

DAS HABE ICH NICHT GETAN!

Es wird immer verwirrender. Scheiße! Parker überlegte. Wenn nicht dieses Etwas seine Crew hatte wahnsinnig werden lassen, wer dann? Er wollte gerade eine neue Frage stellen, als der Monitor wieder zu flackern begann. Was kommt jetzt?

UM 17:50 UHR WIRST DU STERBEN!
UM 17:50 UHR WIRST DU STERBEN!
UM 17:50 UHR WIRST DU STERBEN!

Verblüfft war Parker nicht imstande, zu reagieren. Er versuchte es, aber sein Verstand ließ ihn in Stich. Was sollte denn das jetzt? Nach einigen Sekunden hatte er sich wieder gefaßt. Doch nun funktionierte der Bordcomputer gar nicht mehr. Die Station geriet ins Trudeln. Auf den vielen Monitoren war nur noch der eine Satz zu lesen. In dicken fetten und weißen Großbuchstaben...

UM 17:50 UHR WIRST DU STERBEN!

„Scheiße!“ murmelte Parker. Das wars dann wohl.

Epilog

Die Sonne am blauen Himmel schien in einem wunderschönen hellen Orange. Samantha Bowens fuhr mit ihrem Mercedes Cabrio Richtung Süden. Mexikanische Grenze. Von dort aus mit dem Flugzeug nach Spanien und anschließend nach Peking. Ihre Aufgabe war erfüllt. Der Schläfer an Bord der orbitalen Mond-Station hatte das Nervengas zur richtigen Zeit ausgesetzt. Weder sie noch ihre Vorgesetzten in Peking konnten ahnen, daß Cole Parker diese Attacke überstehen würde. Aber nun... „Aus und vorbei!“ sagte Samantha lächelnd. Die Chinesen waren sehr geduldig gewesen. Zwanzig Jahre hatten sie gewartet, angefangen von der Manipulation der GA2032-Mission, die sie mit falschen Signalen zum Scheitern brachten, bis hin zur kontrollierten Übernahme des Bordcomputers der Station. Sie hatte Spaß gehabt, Commander Parker mit kindischen Fragen und Antworten zu verwirren. „Um 17:50 Uhr wirst du sterben!“ Samantha lachte laut auf und schaltete das Radio ein. Gerade rechtzeitig, um die neuesten Meldungen zu hören: „...04. Oktober 2053. Diese Nachricht erreichte uns vor wenigen Minuten. Offenbar sind zur gleichen Zeit die orbitale Mond-Station, die NASA-Zentrale und die ESA-Zentrale Opfer einer verheerenden Explosion gewurden. Wir wissen noch nichts...“ Samantha schaltete zufrieden mit dem Kopf nickend das Radio wieder aus und beschleunigte. Schade, dachte sie. Schon ärgerlich, daß dieser arrogante Madden nicht draufgegangen ist. Aber letztendlich war es ihr egal. Wenn sie erst einmal in Sicherheit war, würde das überhaupt keine Rolle mehr spielen. Madden? Wer war schon Madden! „Blöder Wichser!“ Samantha Bowens fuhr Richtung Süden. Mexikanische Grenze. Und sie hatte eine hervorragende Laune...

ENDE

copyright by Poncher (SV)

14.09.2002

 

Hi Ponch!

Nach den ersten beiden Absätzen hoffte ich auf eine spannende, intelligente SF-Story.
Leider wurde ich darin nicht ganz bstätigt, was meiner Ansicht nach eine Ursache hat: Es wird viel zu viel palavert. Okay, klingt merkwürdig, wenn gerade ich das sage, aber der Handlungsstrang wird von vielen der Dialoge nicht weitergeknüpft.
Ich glaube, der Story würde eine Straffung gut tun.

Was die Auflösung anbelangt kann ich nur meiner Enttäuschung Ausdruck verleihen: Zugegeben, es ist mal "was anderes" als das, was man erwartet hätte. Aber dass alle scheinbaren Alien-Einflüsse letzendlich terranischen Ursprungs waren, schien mir wie eine erzwungene Plotwendung. Zumal ich es für extrem unwahrscheinlich halte, dass dieses Komplott tatsächlich möglich wäre.

Eine altbekannte Schwäche bei dir ist mal wieder die quasi nicht existente Charakterisierung. Es wird zwar viel gesprochen, aber die Gefühle bleiben doch außen vor. Daran solltest du noch feilen.

So. Damit eines klar ist: Ich finde die Geschichte nicht schlecht, im Gegenteil: Die meisten deiner SF-Geschichten haben Substanz und sind flott zu lesen! Ich denke nur, dass man etwas mehr daraus hätte machen können.

Ach, übrigens:

Natürlich regnet es, schollt sie sich selbst.

...schalt sie sich selbst.

 

Hallo Poncher,

nette, interessante Geschichte, die mich gut unterhalten hat.

Durch die Datums- und Zeitangaben konnte ich dem Fortgang der Story gut folgen. Auch die Rückblende war dadurch (und durch die Dialogwiederholung) sehr gut zu erkennen.

In punkto Dialoge schließe ich mich allerdings Rainer an. Ich finde, dass da in der ersten Hälfte relativ viel Geplänkel dabei ist, das die Geschichte ein wenig in die Länge zieht. Ich denke, du hast das eingebaut, um die Dialoge lebensecht zu machen, aber dadurch kommt (für mich) leider nur sehr langsam Tempo auf, und die Spannung wird "zerdehnt".

Den Schluss fand ich okay.

Noch einige Anregungen:

Wir können das uns nicht erlauben.
Für mich würde sich "uns das" besser anhören.

Anstatt "Identify-Card" würde ich "ID-Card" schreiben. Wenn jemand ständig mit diesen Karten zu tun hat, wird er doch in der Regel die abgekürzte Form verwenden.

Sie verstand. "Verstehe. Ein Unfall da..."
Wortwiederholung

"Das ist kein zivilier Bereich mehr?"

Eine Frage noch: Kann es sein, dass du gerne mit den Namen herumspielst? :D
Cole Parker/Ganymed (Tikowa!)
Carl Madden/Nancy Malden (Karl Malden)
Patton (der US-General)
Bruce Woodens (Bruce Willis)
Walkinshaw (F1-Rennstallbesitzer)

Viele Grüße

Christian

 

Joah, Danke fürs Rauskramen und Lesen. Weiß nicht mehr so genau, ist ja schon lange her. Waren bestimmt zwei Wochen, die ich gebraucht habe. Naja, im Nachhinein die gesamten Anlagen in die Luft fliegen zu lassen, scheint doch übertrieben zu sein. Sei es drum.

Grüße nach DS9 und an die anderen, die den Text gelesen haben!

Poncher

 

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