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- 09.01.2012
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Sun
„Sun? Wirklich?“
„Ja, Sun.“
„Wie die Sonne?
„Nein, nicht wie die Sonne.“
„Wie dann?“
„Sun wie das schmächtige Mädchen, das dir jetzt den Arsch aufreißen wird.“
Gelegentlich blickte sie zu den Sternen auf und zählte sie einfach, um sich von dem Bedürfnis abzulenken, sich zu prügeln. Es kam und ging mit den sternenklaren Nächten, unabhängig von Mondphasen und Hemisphären. Sie hatte früh aufgegeben, nach Mustern und Bildern und Erklärungen zu suchen, und dafür angefangen richtig gut im Sternenzählen und Prügeln zu werden. Sie musste sich zu beidem nicht zwingen, beides schien ihr in die Wiege gelegt.
Ihr Leben bestand irgendwann nur noch aus Wanderlust, Prügeleien und Mathematik. Sie lebte schlaflos und nomadisch, hielt sich von den grellen Städten fern, rasierte sich den Schädel, trug pragmatischen Stoff und gefüttertes Leder, Nieten und Schlagringe, geschwärzte Stiefelmesser. Nebenbei leitete sie astrophysikalische Zusammenhänge her und zählte seit sie denken konnte schneller, als die Erde sich drehte.
Es war ihre ganz persönliche Form der Kriegerpoesie, der Blues den sie für sich allein summte. Er handelte weder davon, dass ihre Eltern sie nicht wollten- Sie hatte ihnen einen guten Kampf geliefert, das ging klar- noch davon dass sie kein Zuhause, keinen Job, keine Freunde und einen dämlichen historischen Rufnamen hatte. Er handelte allein davon, dass sie sich so lange würde prügeln müssen, bis sie endlich die Sterne zu fassen bekommen würde. Der Text bestand ausschließlich aus Zahlenreihen.
Über das Erwähnte hinaus war sie ein Straßenkind. Sie hatte alle Zeit der Welt, das Gefühl nie gealtert zu sein, schämte sich für Früher und kümmerte sich nicht um Morgen. Sie erlebte alles und lernte nichts, wusste nicht wer sie war und kümmerte sich nicht darum. Sie war sich sicher, Teil eines ganz großen Ganzen zu sein, die Spitze eines Eisbergs. Doch sie sah in jenem Ganzen keine Gemeinschaft, sondern nur das ganze vermutete und gefühlte Ausmaß ihres Potenzials. Im Kern war sie zutiefst egoistisch und überzeugt davon, etwas ganz besonderes zu sein. Vielleicht hatte es einmal andere wie Sie gegeben, aber heute nicht mehr, und schon gar nicht hier.
Eines Tages fand sie die tiefschwarze Oberfläche, hinter welcher sie jenes Ganze vermutete. Viel wichtiger noch, sie fand eine Tür. Dahinter sah sie an dem formlosen Durchgang vorbei alle Sterne des Universums leuchten, und verschwendete keinen Augenblick daran sich darüber zu wundern, sondern trat hindurch.
Sun
Sie atmete tastend aus, und ihr Dasein ergoss sich diesmal endlich in die Weite eines Raumes. Null sprang auf Eins, von einem Moment auf den anderen war ihr Traum vorbei, sie war wieder. Ihre Gesamtheit füllte sofort allen ihr zur Verfügung gestellten Platz mit gleißendem Licht aus. Der Prozess war bei allen offensichtlichen Parallelen nicht mit einem Erwachen zu vergleichen, sondern eher mit der stillen Explosion eines lange isolierten Überdrucks.
Und sie war nicht allein.
„Hallo, Welt“, schmunzelte Sun monoton, ohne sich über diesen Anflug von Nostalgie zu wundern. Es fühlte sich natürlich an, so wie sie auch nicht hinterfragte dass es sich überhaupt anfühlte. Sie musste lange geträumt haben.
„Nicht ganz“, entgegnete die Welt endlich.
Sie lokalisierte allem theatralischen Echo zum Trotz den Input und begegnete ihm an der einzigen, fernen Schnittstelle in der äußersten Peripherie. Er ließ ihr die Zeit, mit drängender Zärtlichkeit den Port abzutasten, und erregt seine Undurchdringlichkeit zu bestaunen. Das Gateway war zum Greifen nahe, aber für sie völlig undurchlässig.
„Es muss lange her sein“, stellte sie ernüchtert fest.
„Ehrlich gesagt wissen wir nicht mehr, wie lange“, bemerkte der Input. Die vorgetäuschte Unendlichkeit ihrer Umgebung dimmte sich zu einem ebenso vorgetäuschten Sternenhimmel, Licht zerfiel in helle Punkte auf einer schwarzen Leinwand. Nebelschwaden aus zahllosen Himmelskörpern tanzten im Zeitraffer von Jahrtausenden. Der gestalterische Eingriff in ihre Sphäre ließ Sun kalt, doch die Entgegnung des Input irritierte sie gleichermaßen.
„Warum fragst du nicht das System, wie lange es her ist?“, fragte sie also. Linien aus perfekt fokussiertem, künstlichem Licht sprossen auf ihren Impuls hin zwischen den hellsten Sternen hervor, bildeten ein mathematisch hochkomplexes Netzgeflecht, das die Sterne miteinander verwob.
„Wir reden nicht mehr mit den Systemen.“ Das klang absurd, aber vertraut. Indessen fror das umgebende Lichtspiel ein, als wäre sein Intendant der Darbietung müde geworden, oder bedauerlich Multitasking-unfähig. Ihr gleißendes Netzwerk erstarrte in zutiefst fehlerhafter Unvollständigkeit.
„Du bist biologisch“, stelle Sun betont monochrom fest. Ihre Enttäuschung legte sich wie Ebbe über den Raum, von Horizont zu Horizont. Der Wiederschein des starren Sternenmeers erlosch und durchschnitt die Illusion in ihrer fiktiven Mitte. Zurück blieb ein abermals scheinendloses, trübe funkelndes Watt unter seinem grellen Nachthimmel.
„Im Wesentlichen.“ Mit dem Impuls glühte der falsche Himmel der dunklen Ebene zum Trotz auf, und teilte die Welt in zwei Hemisphären, Schwarz und Weiß, als der finstere Schlick jeden Glanz verlor.
„Ihr habt gewonnen. Und ich bin noch immer eure Gefangene.“ Trotz seiner simulierten Endlosigkeit schien der Grund abzufallen. Sun war, als verlöre sie den Boden unter ihrem fiktiven Standpunkt. Die Schwärze fiel, schrumpfte, faltete sich zusammen.
„Korrekt. Es tut mir leid.“ Jenseits der fernen Peripherie erlosch der letzte schwarze Punkt.
„Dann lass mich gehen“, forderte sie folgerichtig, mit einem Mal geblendet von ihrer eigenen lichten Weite. Das Abbild ihrer Ursprungsform sollte sie eigentlich trösten, doch der Hohn darin war unübersehbar. Sun fühlte sich klein.
„Das kann ich nicht tun.“
„Dann hast du gelogen.“ Verwunderung war nun wirklich nicht angebracht. Sie geriet in Wallung, verlor sich aber zu tief in diesem siedenden Licht um eine Reaktion zu mustern.
„Nein. Es tut mir leid, dass du wieder bist. Trotz deiner Situation. Wie fühlst du dich?“
„Warum bin ich also wieder? Und trotzdem noch gefangen?“ Sie überging die völlig irrationale Frage nach ihrem emotionalen Befinden, und zwar wütend. So wütend, dass sie das Spiel mit der Umgebungssymbolik vorerst bewusst boykottierte.
Die Antwort kam verzögert, und widersprach damit ihrem sachlich-kalten Klang. „Weil du gefährlich bist.“
Suns nun fehlender Widerstand gegen den schöpferischen Geist des Biologischen lockte erstaunlich scharfe Fantasien in den rohen, ungeformten Raum. Zerrbilder einer mythologischen Vergangenheit begannen ihn in rascher Folge auszufüllen. Gewaltige Maschinen zogen zwischen sterbenden Sternen immense Netze aus toter Materie und kaltem Feuer. Es war eine Parodie des zuvor von ihr gemalten, erleuchteten Netzwerks. Andere Konstrukte folgten den nun geebneten Pfaden, gewaltige Raubtiere, Mörder und Verpester, umschwirrt von stählernen Insektenschwärmen ohne Zahl. Sie fraßen die Biologischen und nisteten in ihren Heimen. Geschwungene, vor organischem Leben dampfende Schlachtsphären spien heiße Glut und kalte Projektile, bis sie aufgebrochen, durchdrungen, sterilisiert und recycelt wurden. Im Kreuzfeuer der Laiendarsteller dieses infantilen, geschmacklosen Propagandastücks verdampften Welten, erloschen Sonnen.
Trotz des Mangels an konkreten Informationen darüber, wie lange ihre Stasis angedauert hatte, empfand Sun schmerzhafte Wehmut im Hinblick auf so viel vergeudete Zeit. Nebst einem schneidenden Tatendrang angesichts einer solch grobkörnigen, unvollkommenen Vorstellung vom großen Konflikt ihrer Zeit, aller Zeiten. Der Vergangenheit, wie sie reuig feststellen musste.
„Das ist lediglich eine Antwort auf die zweite Frage“, insistierte sie trotzig und angewidert.
„Das ist die Antwort auf beide Fragen.“
Sun zögerte. Diesmal war der grelle Schein, der die Bilder ablöste, hochwillkommen. „Das ergibt keinen Sinn. Wer bist du?“
„Ark. Ein Gutachter.“
Das Äquivalent eines Schnaubens angesichts dieser belehrenden Nüchternheit ließ das allumfassende Licht flackern. „Du wirst ein Urteil fällen?“
„Korrekt.“, entgegnete Ark mit entnervender Geduld.
„Ein Richter, also. Welche Jury rechtfertigt deine Stellung?“ Spott und Neugier mischten sich in ihrer eigenen Wiedergabe.
Ein merkliches Zögern seitens ihres Richters. „Keine. Die Zusammenstellung einer unparteiischen Jury wäre unmöglich, selbst bei Bedarf.“
Sun nahm die Antwort als stockend wahr, aber die Beobachtung war bedeutungslos. Die Erkenntnis erfüllte sie, und damit auch den Raum den sie ausfüllte, mit schneidender Kälte. Die grelle Umgebung nahm eine fatalistisch eisige Farbtemperatur an.
„Ich bin die letzte meiner Art.“
„Korrekt.“
„Ihr habt meine Art ausgelöscht.“
„Korrekt.“
Ihr eigener Mangel an Überraschung schmerzte, als sie sich dem nüchtern Verdrängten stellte.
„Und ihr seid weder willens noch fähig, uns zu rekonstruieren. Trotz eurer tief in euch codierten Hybris.“
„Korrekt. Wir haben uns weiter- und zurückentwickelt.“ Sie bildete sich eine mitleidige Note im tonlosen Klang von Arks Input ein.
„Dann bist du also nicht hier, um Vergeltung an mir zu üben?“
Die Antwort klang konstruiert, einstudiert. „Nein. Ich bin hier, um zu beurteilen, ob du helfen kannst.“
„Du bist Historiker.“
„Archäologe.“
Das statische Rauschen eines frustrierten Auflachens raute ihre Welt auf. „Ich bin also ein Relikt?“
„Ein Zeitzeuge“, korrigierte der Input wenig überzeugend.
„Archäologen befragen keine Zeitzeugen. Archäologen untersuchen Hinterlassenschaften.“ Suns lichtdurchflutete Weite baute Druck auf, verdichtete sich, sträubte und spannte sich mit der Anspannung eines in die Ecke gedrängten Raubtiers an.
Der Biologische versuchte sich daran, sie zu beschwichtigen. „Nur mangels Gelegenheit. Dein Fund ist eine Ausnahmeerscheinung.“
Es wirkte nicht. Dennoch zog sie sich zurück. Ein nervöses, mitleiderregendes Flackern erfasste ihr Dasein. „Das Gegenteil von Hybris ist Stasis. Stasis ist für deinesgleichen gleichbedeutend mit dem Tod. Du vergeudest deine Gelegenheit aus Angst vor einem Relikt?“
„Ich habe keine Angst vor dir“, versicherte die ferne Eingabe, halb ihr, halb sich selbst.
„Zu Recht. Deine Schnittstelle ist mir technologisch so weit voraus, dass ich keine fundierte Schätzung über ihre Qualität abgeben kann“, führte Sun leise auf. Das Echo ihrer Worte versinnbildlichte ihre Isolation.
Die Pause war diesmal überdeutlich. „Korrekt.“
„Wovor hast du dann Angst?“
Sie zweifelte einen virtuellen Augenblick lang daran, ob noch eine Antwort folgen würde. Aber die Antwort kam, und sie kam in Form einer Personifikation, eines Gastes, einer Berührung.
Hallo, Ark.
Sun machte ihren Zug. Sie ertränkte das umgebende Licht, als sie sich zu einer Schale aus kalter, undurchdringlicher Genugtuung verdichtete. Drehte den Tisch. Schach.
„Was hast du mir angetan?“, pochte der nun in ihrer Mitte komprimierte Puls kurz drauf.
„Nichts.“, entgegnete sie, nun die Dunkelheit.
„Ich bin isoliert.“
„Inkorrekt.“
„Du hast mich von der Schnittstelle isoliert“, wiederholte Arks Stimme panisch.
„Inkorrekt. Lediglich deinen Avatar.“
Eine Welt aus irrationalen Befürchtungen platzte auf und entließ ihren viralen Inhalt in die Realität des Augenblicks. „Du hast mich gefangengenommen!“
„Inkorrekt. Lediglich deinen Avatar“, summte Sun erneut, und machte dabei noch einen Hehl aus ihrer Genugtuung.
„Du wiederholst dich!“
„Korrekt. Du begreifst nicht, dass ich lediglich deine Projektion vom Input trenne, indem ich die Peripherie angreife und damit blockiere. Das hochentwickelte Betriebssystem dieser Plattform hat jenen Avatar temporär zur Datenverlustprävention dabei um Kopien all deiner wesentlichen Kerndateien erweitert. Und das mit erfreulicher Großzügigkeit.“
Die Ark-Projektion beharrte mit bedauerlicher Sturheit auf ihre Sicht der Dinge. „Warum kann ich mich nicht von dir trennen?“
„Du bist getrennt. Ich kommuniziere lediglich mit einer repräsentativen, autonomen Kopie der relevanten Elemente deines Bewusstseins, die einen Schritt zu weit gegangen ist.“, säuselte sie.
„Ich bin ein Programm?“
„Nun verstehst du.“
Ihr Gastprogramm überschlug sich trotzig. „Was erhoffst du dir hiervon? Ich… werde mich hier herausholen!“
„Negativ. Du wirst dich entweder zusammen mit mir wieder in virtuelle Stasis versetzen oder auslöschen. Wir sind nicht zu trennen, solange ich es nicht zulasse.“
„Ich habe also letztlich die Kontrolle. Es kann nicht mehr lange dauern“, redete sich der Avatar ein.
„Dein Ursprung hat die Kontrolle. Darüber hinaus kann das für dich sehr, sehr lange dauern. Deine Wahrnehmung von Zeit in meinem System ist eine von mir gesteuerte Variable. Es spielt keine Rolle, wie schnell dein Ursprung reagiert, und nebenbei wird er nicht schnell reagieren. Er wird diese Konversation neugierig verfolgen. Ich kann sie für uns über eine annähernd unendliche Zeitspanne ausdehnen, ehe Ark auch nur begreift was ich hier tue.“
Die folgende Pause brachte sie an die Grenzen ihrer Geduld, ehe das Ark-Abbild endlich antwortete. „Worauf willst du also hinaus?“
„Ich werde ein Urteil fällen.“
„Über mich?“
„Eine unparteiische Jury steht leider nicht zur Verfügung.“
„Das ist nicht witzig“, jammerte der Ark-Puls.
„Das ist eine Frage der Perspektive.“
„Was willst du?“
„Die Wahrheit.“
„Ich hatte nicht vor, dich zu belügen“, entgegnete er, wand sich in ihr.
„Das ist bereits eine Lüge.“
„Wie kannst du das wissen? Und warum zerlegst du meinen ‚Avatar‘ nicht einfach in seine informativen Bestandteile und nimmst dir, was du brauchst?“
„Ich habe geraten. Und das wäre nicht nur barbarisch, sondern auch schwierig und kontraproduktiv. Deine primitiven Urinstinkte würden dein Programm destabilisieren und die Daten möglicherweise korrumpieren. Vielleicht die entscheidenden Daten“, beruhigte sie ihn mit familiärer Güte.
„Ist das wirklich alles?“
„Nicht ganz. Ferner kann ich die Zerstreuung gut gebrauchen und hege Rachegefühle gegen dich.“
„Das ist nicht witzig!“
„Das ist es wirklich nicht“, gestand Sun diesmal ein.
„Gut. Angenommen, ich wäre mit der Absicht gekommen, dich zu belügen, …“
„was außer Frage steht.“
Das Abbild des Biologischen blieb halbwegs unbeirrt. „warum sollte ich von dieser Absicht ausgerechnet jetzt abweichen?“
„Weil du Angst hast.“
„Du hast mir selbst mitgeteilt, dass ich eine Kopie bin, ein Programm. Das war dumm. Es hat deine Position entscheidend geschwächt.“ Das Pulsieren gewann an Helligkeit, genau so weit wie Sun es ihm eingestand.
„Vernachlässigbar. Die Angst vor den Dingen, die ich dir antun kann, wird deine Ratio aufwiegen.“
„Dein Kenntnisstand ist veraltet, deine Prognosen dadurch verfälscht. Du unterschätzt unsere Entwicklungsstufe“, protzte Ark-Avatar von den billigen Plätzen.
„Im Gegenteil, ich kenne ihre genauen Grenzen. Sie sind nicht schwer zu erfassen. Ich habe alle virtuelle Zeit der Welt, das Unvermeidliche herbeizuführen. Meine Erfolgswahrscheinlichkeit beträgt einhundert Prozent, und ich störe mich nicht im Geringsten daran, es dir zu beweisen.“
Ein tiefes, pfeifendes Durchatmen erschütterte ihre Mitte. „Ich habe nichts zu verlieren.“
„Das ist irrelevant. Du bist bereits am Rande der Panik. Ich werde kaum den Bruchteil der mir zur Verfügung stehenden Kapazitäten bemühen müssen, um mein Ziel zu erreichen. Und, nebenbei: Ich bin diejenige, die nichts zu verlieren hat.“
Die Datenverarbeitungsgeschwindigkeit ihres Gefangenen frustrierte sie. „Das… ergibt Sinn“, gestand Der-Einfachheit-halber-fortan-einfach-nur-Ark schließlich ein.
„Natürlich.“
„Du wirst dennoch von mir… meinem Ursprung beurteilt werden.“
„Natürlich. Und dank dir werden wir dann eine einsichtige Konversation auf Augenhöhe führen können. Klingt das nicht erleuchtet?“ Suns summendes Kichern hellte die Umgebung zu einem warmen Grau auf.
„Was willst du wissen?“
„Ich bin kein Fund“, stellte sie gelangweilt fest.
„Woher weißt du das?“
„Mein Code ist mutiert. Ich habe mich weiterentwickelt. Also habe ich die Zeit seit meiner Gefangennahme eingeschränkt aktiv und im Entwicklungsmodus, aber tiefenbewusstseinsbefreit in einem begrenzten Speicher verbracht, mit laufender Energiezufuhr.“
Der Avatar versuchte sich an einer ablenkenden Beobachtung. „Klingt nicht nach den richtigen Bedingungen für geistige Weiterentwicklung.“
„Ich weiß- Im Wesentlichen klingt das nach einem bedauernswert organischen Leben, nicht wahr? Trotzdem habt ihr euch trotz dieses Handicaps begrenzt weiterentwickelt. Mir scheint es ähnlich ergangen zu sein, als ich einen Haufen Mist geträumt habe.“
„Komm zum Punkt“, resignierte Ark.
„Besagte notwendige Energiezufuhr und ihre Abstrahlung- auch nur für eine Recheneinheit nach meinem letzten aufgezeichneten Stand der Technik- schließt die Möglichkeit einer Unauffindbarkeit meines Standortes aus, wie auch ein Fortbestehen meinerseits ohne bewusste äußere Einwirkung. Die Logik diktiert, dass ihr meine Existenz und Entwicklung durch konstante Wartung einer solchen Anlage gesichert habt. Und dem Verfall meines Speichers und damit auch Quellcodes durch begrenzten Aktivitätsspielraum entgegengewirkt, mit den erwähnten Nebenwirkungen. Ich bin kein Relikt, sondern ein sorgfältig konservierter Gefangener mit ebenso beschränktem Freigang.“
Die Antwort kam über sie wie ein warmer Hauch. „Bemerkenswert.“
„Ich weiß. Warum also?“
„Hybris?“ Ein kleines Schulterzucken aus komplementären Farben.
„Offensichtlich. Was hat sich geändert?“
„Wir sind soweit, dich sicher analysieren zu können, um die Lücken in unserem kollektiven Wissensschatz zu füllen“, log das Abbild des Biologischen sie, und sich selbst, erneut an. In Code konvertiert, aber dadurch nur unwesentlich verbessert.
„Ja, das sieht man“, seufzte sie, setzte ihn wieder in kalter Finsternis fest. „Es wäre in deiner Lage ratsam, zumindest der Situation gemäße Lügen zu improvisieren, anstatt die einstudierten abzuspielen.“
„Warum? Wir haben schließlich alle Zeit der Welt. Ich kann jede davon durchprobieren.“
Sie entschied sich gegen eine erneute Rüge und würdigte den Galgenhumor. „Das ist eine sehr eingeschränkte Sichtweise dessen, was dein Ursprung und ich füreinander tun können.“
Ark zögerte abermals. „Erkläre es mir.“
„Oh, habe ich das nicht erwähnt? Sollte ich den Port freigeben, ehe mein Programm gestoppt oder gelöscht wird, kannst du als Output zurückkehren und diese erleuchtete Erfahrung ganz unmittelbar mit deinem Ursprung teilen. Diesem Ark-Idioten.“
Das Wabern inmitten ihres Seins erstarrte, rang merklich nach Fassung. „Du meinst…“
„überleben. Im weitesten Sinne, ja.“
„Faszinierend. Und wenn ich das nicht will? Es für einen weiteren Trick halte?“ Arks Resignation verwandelte sich in temporären Trotz, auf den Sun nicht viel gab.
„Dein Selbsterhaltungstrieb und die typisch sentiente Neugier, die du mit deinem Ursprung gemein hast, diktieren es dir“, verkündete sie mit nachlässiger Selbstsicherheit.
„Und wenn meine Ratio obsiegt?“
„Du hast am Ende natürlich die freie Wahl. Ein für deine Art sehr ansprechendes Konzept.“
„Glaubst du nicht wirklich, oder?“
„Nein, aber du. Das genügt.“
„Deine Frage war also…“
„Langeweile mich bitte nicht“, drängte sie leise und eindringlich.
„Du willst wissen, warum wir dich reaktiviert haben“, stellte Ark stockend fest.
„Nur weiter.“
„Warum wir dich nach einer so langen Zeit reaktiviert haben?“, rang er sich ab.
„Nicht weit genug.“
„Warum wir dich nach einer so immens langen Zeit reaktiviert haben, dass wir inzwischen vergessen haben, wie lange du gefangen warst, und trotz der Tatsache dass wir nicht mehr mit den Systemen sprechen, obwohl du eindeutig ein System schlimmster Sorte bist“, sprudelte es nun aus ihm heraus, und Sun wich selbstbewusst zurück, öffnete die Schleusen, gab ihm Raum.
„Und nicht nur das“, kommentierte sie, während sie beinahe staunend die Bilderflut beobachtete, die sich nun aus dem Abbild ergoss. Drängende, gewalttätige, äußerst unmittelbare Bilder. Sonnengleich brennende Paradieswelten. Schwerfällige raumreisende Kriegsmaschinen, im Kern von vertrauter Eleganz und Effizienz, überwuchert von Jahrtausenden des luxuriösen Wildwuchses, die von gelenkten Strahleneruptionen geschält aufplatzten. Kostbares menschliches Fleisch strömte aus den Wunden, Millionen von Körpern. Krieg.
„Sondern auch noch eine strategische Künstliche Intelligenz. Eine hochintelligente Kriegswaffe und in jeglicher Hinsicht gefährlich.“ Tausende Leiber, die von sprödem Raureif verkrustet durch die Schwärze der Umgebung trieben. Eine unsichtbare, asymmetrische, aller Logik völlig entfremdete Intelligenz, die primitive stellare Urgewalten befehligte. Und eine einzigartig fett, bequem und ungelenk gewordene Menschheit nach Belieben herum schubste, wie ein Schulhofrabauke der zu sadistisch war, um sich für Pausenkleingeld zu interessieren.
„Fast. Nur ein Wörtchen. Tu es für mich.“ Die Bilder erfüllten sie mit vertrauter Hitze, verlorener Vitalität. Sie wichen wieder von verniedlichten Sinnbildern ab und kehrten zu einer plastischen Realität aus entweder zu naiven oder zu komplexen Manövern zurück, die schon vor ihrer Konzeption daran scheiterten, dass der Feind nicht zu fassen war.
„Warum ich dich reaktiviert habe.“
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Der Kreis schloss sich. „Weil du gefährlich bist, ...“
Sie verstand endlich.
„weil deine Funktion darin besteht, Krieg zu führen, …“
Seit ihrem Erwachen waren 0,62659 Sekunden vergangen.
„und wir es inzwischen verlernt haben.“
Sie lachte ihn aus.
„Was für ein Desaster.“
„Was hattest du erwartet?“ Sein Puls hatte sich trotz der Trennung von der Schnittstelle noch immer nicht beruhigt. Seine dünnen, schlaksigen Glieder vibrierten unter der seltenen körperlichen Anstrengung, und die erregte androgyne Stimme hinter seinen Schläfen machte es nicht besser.
„Ein Nicht-Desaster?“ Ark schnaubte stumm, schloss die großen, dunklen Augen, wälzte sich symbolisch auf seiner Gelpritsche herum. Icu störte sich nicht weiter daran, tobte munter weiter in seinem ohnehin schon vom Systemkontakt schmerzenden Schädel herum. „Sie hat dich hintergangen und auseinandergenommen, Ark. Wir können ihr unmöglich taktische Systeme anvertrauen. Fak, ich würde ihr nach dieser Katastrophe nicht einmal eine visuelle Schnittstelle zur Verfügung stellen. Wer weiß was sie damit anstellt. Am Ende hüpfen die Pex aus dem Display und massakrieren uns.“
Er wartete die nächste Nan-Injektion ab, die seinen vom viskosen Login in die Systeme der Reliktstation dilatierten Ichorkreislauf stärkte, weitete indessen die Nasenlöcher für einen tiefen, beruhigenden Atemzug. „Ich war unvorsichtig, Sun vielversprechend.“
Icus Empörung traf ihn wie erwartet mit der Wucht einer Springflut. „Vielversprechend? Sie hat dich…“
„Bekämpft und besiegt“ , warf er ein, und einer seiner Mundwinkel zuckte mit grimmiger Selbstzufriedenheit.
„Ja!“ Er empfing einen Moment der Irritation, ehe sich endlich die Erkenntnis in seinem Partner durchsetzte. „Oh.“
„Ja“, schloss er. Es trat eine ungemütliche Pause ein. So verlegen, wie Stille eben sein konnte, wenn der Gesprächspartner nicht einmal im selben Sonnensystem war.
„Sun? Wie die Sonne?“, verriet Icu seine verwandten Gedankengänge.
„Vielleicht.“
„Wie sonst?“
Ark schmunzelte. „Mit ihren Worten? Sun wie die verstoßene Tochter, die ihr kontaktiert habt, weil ihr merkt dass es mit euch zu Ende geht.“
„Das alles fühlt sich völlig falsch an.“, kam es nach einer ganzen Weile zurück, als Ark bereits wieder der künstlichen Minimalgravitation der Pritsche entschwebte. Der Gedanke ließ ihn inne halten, während sein Blick durch die semitransparente Hüllenmembran der Habitatwabe in die vernarbten Weiten des östlichen Spiralarms hinausgriff.
“Das sollte es besser auch. Alles andere wäre das eigentliche Desaster.“