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Sumpfnesseln
»Ihr Antrag auf Aussetzung der Gentests ist abgelehnt, mein Junge.«
Der alte Bürokrat hielt den Bescheid kurzsichtig vor sich. Er blinzelte zu seinem Besucher hinüber.
»Nun schauen Sie doch nicht so betrübt, nicht wahr? Haben Sie wirklich geglaubt, Sie kämen damit durch?«
»Eine gewisse Chance bestand, oder?«
Der Antragsteller kratzte sich hinter dem Ohr.
Der Alte nickte.
»Sie sprechen auf das Antimetamorphosegesetz an, nicht wahr?«
Sein Gegenüber schnaubte.
»Natürlich. Schließlich ist es geltendes Recht. Jeder kann sich auf dieses Gesetz berufen und ...«
Der Alte fiel ihm ins Wort.
»Jeder könnte sich auf dieses Gesetz berufen, wenn es noch eine Gesellschaft gäbe, die diese Berufung akzeptierte, nicht wahr?«
Der junge Mann schlug mit der Hand auf den Tisch.
»Das Gesetz ist erlassen worden, damit die Bürger frei entscheiden können, ob sie sich verändern lassen wollen oder nicht! Es ist faschistisch, die Bürger zu diesen Experimenten zu zwingen.«
Der Alte zuckte die Schultern, das zusätzliche Paar Arme machte willenlos die Bewegung mit.
»Freie Bestimmung über den eigenen Körper? Die gibt es nicht mehr. Der Körper ist Allgemeingut. Ihr Körper ebenso wie meiner, nicht wahr?«
»Der Körper ist ein Tempel. Man darf ihn nicht durch Experimente entweihen!«
»Oha, ein Jünger des Tempels. Das erklärt Einiges, nicht wahr? Wie fühlt man sich als Totengräber einer Rasse?«
»Sie… was erlauben Sie sich? Nur weil Sie Staatsdiener und Genopfer sind, haben Sie noch lange nicht das Recht, meinen Glauben zu beleidigen.«
»Nun mal langsam, Junge, nicht wahr? So laut müssen Sie nicht sprechen, auch wenn ich alt bin. Unsere Rasse ist zum Aussterben verurteilt. Sie ist so alt, das unser Genom völlig homogen ist, nicht wahr? Es gibt keine Varianten mehr, spontane Mutationen kommen nicht mehr vor.«
Der Besucher verdrehte die Augen.
»Bla, bla, es gibt außer uns kein intelligentes Leben im Universum, bla, wir haben keine Kolonien auf anderen Planeten, bla, schwätz, die Umwelt ist völlig geregelt, die einzelnen Gene so stabil, dass nichts mehr passiert. Pah. Ich kenne die Propaganda.«
»Wir können uns nicht mehr weiterentwickeln, also werden wir zwangsläufig sterben, nicht wahr? Stagnation ist der Tod!«
»Diese verlogene Selbstgefälligkeit, mit der unsere Führer die Heiligkeit unserer Körper entweihen! Sehen Sie sich doch an. Sie haben sogar Haare!«
»Und einen Schwanz. Und ich trage sie mit Stolz, nicht wahr? Ich habe meinen Anteil an den Anstrengungen unserer Rasse geleistet, nicht unterzugehen. Aber Sie«, der Alte streckte einen dürren Zeigefinger in Richtung seines Besuchers,»Sie sind dabei, ein Genverbrecher zu werden.«
Der junge Mann zuckte kurz zusammen und sah zu Boden.
»Genverbrecher ... So, wie Sie es sagen, klingt es tatsächlich verabscheuungswürdig.«
»Es ist verabscheuungswürdig, nicht wahr? Wie kann man sich nur dem Dienst am eigenen Volk verweigern?«
»Wer sagt, dass wir Jünger uns verweigern? Wir kämpfen für die Reinerhaltung unserer Rasse. Nur eine reine Rasse kann überleben. Wer sagt denn, dass wir aussterben? Wer sagt denn, dass wir nicht unsterblich werden können?«
»Die Vererbungslehre. Wenn wir uns nicht mehr anpassen können, weil unser Genom keine Anpassungsfähigkeiten mehr hat, wird uns die sich ändernde Umwelt irgendwann auslöschen. So einfach ist das. Evolution bedeutet immer währende Veränderung, nicht wahr?«
»Evolution muss ein Ziel haben. Irgendwann ist der Prozeß abgeschlossen. Und wir Jünger des Tempels sind dieser Abschluß.«
Der Mann vor dem Tisch des Beamten kratzte sich noch intensiver hinter dem Ohr.
Der Beamte kniff die Augen zusammen.
»Wissen Sie, was die Sumpfnesseln sind?
»Wie? Nein, nie gehört.«
»Sumpfnesseln waren die tödlichste Krankheit, die wir je gekannt haben, nicht wahr? Sie tötete fast ein Drittel der Weltbevölkerung vor einigen tausend Generationen. Schließlich entwickelten unsere Rasse eine natürliche Immunität dagegen.«
»Das ist doch gut?«
»Das ist schlecht. Unser Genom enthält nach wie vor die Immunität gegen die Sumpfnesseln, nicht wahr? Gegen die Variante, die vor Tausenden Jahren herrschte. Eine Weiterentwicklung hat nicht stattgefunden.«
»Und?«
»Die Sumpfnesseln sind wieder da.«
»Ist das nicht egal?«
»Sie begreifen nicht, oder?«
»Was begreifen?«
»Es ist eine neue Variante, gegen die wir nicht immun sind, nicht wahr.«
»Dagegen werden unsere Wissenschaftler ein Heilmittel finden. Auch eine so fürchterliche Krankheit rechtfertigt nicht die Genexperimente, die so harmlos "Forschung zum Fortbestand der Rasse" genannt werden.«
»Aha. Wie lange wird es dauern, glauben Sie, um ein Heilmittel zu entdecken?«, fragte der alte Mann.
Der Jüngere zuckte die Schultern.
»Ich weiß nicht. Ein paar Jahre vielleicht?«
»Oder ein paar Jahrzehnte? Den Betroffenen kann es einerlei sei, nicht wahr? Nach der Ansteckung folgt der unausweichliche Tod in sechs Monaten.«
Der Besucher schwieg.
»Die Befallenen haben nur die Chance, sich als Metamorphosekandidaten zur Verfügung zu stellen. In der Hoffnung, dass die Gentests ihren Körper soweit verändern, dass die Krankheit nicht tödlich verläuft, nicht wahr?«
»Ach ja? Welchen Sinn hätte das?«
»Eine Chance auf das Überleben«, sagte der alte Beamte mit dramatischer Stimme. Er lehnte sich zurück und betrachtete den jungen Mann über die gefalteten Hände hinweg.
»Wissen Sie eigentlich, junger Mann, was die ersten Symptome der Sumpfnesseln sind?«
»Nein, natürlich nicht. Wie Sie mir gesagt haben, ist diese Krankheit schon seid tausenden von Jahren nicht mehr aufgetreten.«
»Unerklärlicher Juckreiz hinter den Ohren.«
Der Besucher ließ die Hand sinken, mit der er sich kräftig hinter dem Ohr gekratzt hatte.
»Und ein Zucken des Auges«, fuhr der alte Beamte fort.
Sein Gegenüber kniff das linke Auge zu. Es zuckte weiter.
Die Stimme des Beamten war freundlich.
»Das Aufnahmebüro für freiwillige Gentestpersonen ist zwei Stockwerke tiefer, nicht wahr?«
Ein Moment herrschte Schweigen in dem kleinen Büro.
»Ich ... ich muss dann mal gehen«, brachte der junge Mann schließlich hervor.
»Auf Wiedersehen«, verabschiedete ihn der Alte.
Als die Tür leise zuschlug, lachte der Beamte laut auf.
»Sumpfnesseln, also wirklich. Diese Jugend.«
Er betätigte den Rufknopf auf seinem Schreibtisch.
»Der Nächste.«