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Sumpfmonster
„Drei FruityFroz zum Mitnehmen. Zwei Erdbeer, ein Himbeer. Mach hinne oder du kannst dein Gehirn vom Boden aufwischen.“
Die Art wie Phil den alten Ladenbesitzer angrinste, während er mit der Pistole lässig auf seine Stirn zielte, beseitigte Jebs letzte Zweifel: Der Kerl war vollkommen irre.
Jeb war entschieden dagegen gewesen, anzuhalten, ehe sie nicht die Grenze hinter sich hatten und Jerome war seiner Meinung gewesen. Aber Phil wollte nun einmal einen FruityFroz, wollte ihn wirklich – er war regelrecht süchtig nach dem Zeug – und da sie beide irgendwie doch ziemliche Angst vor ihm hatten, gaben Jeb und Jerome schließlich nach.
Der Alte starrte sie mit riesigen Eulenaugen an, dann machte er sich an die Arbeit. Mit zitternden Fingern hielt er einen Pappbecher nach dem andern unter die Maschine, in der das Halbgefrorene ständig herumgerührt wurde.
„Verdammt, Phil“, flüsterte Jeb, „wir hätten das Zeug auch einfach bezahlen können.“
Wenn Phil ihn überhaupt gehört hatte, so bestand seine einzige Reaktion darin, sein Haifischgrinsen noch etwas breiter werden zu lassen.
Das Ganze ging Jeb viel zu langsam. In seiner Magengegend machte sich dieses ungute Gefühl breit, mit dem er selten daneben lag. Er zog ebenfalls seine Pistole.
„H … h … hier“, hauchte der Ladenbesitzer, während er die drei Pappbecher auf die Theke stellte als handle es sich um Giftmüll.
Phil langte sofort zu und begann seinen FruityFroz Erdbeer durch den Strohhalm einzusaugen. „Ahhh … Und jetzt: das Geld.“
Eilig wandte der Alte sich der Kasse zu. Jeb fauchte Phil an: „Wir haben keine Zeit für diesen verdammten Mist! Wir hatten überhaupt nie Zeit für deinen … Schwachsinn!“ Er deutete auf die zwei Pappbecher, die noch auf der Theke standen.
„Halt!“, antwortete Phil vollkommen entrüstet. „Jetzt mal langsam. Das ist kein Schwachsinn, wie du sagst. Das ist FruityFroz! ‚Das Beste im Sommer. Und auch im Winter.’“, gab er den TV-Werbespruch samt bescheuert-seligem Lächeln und Augenzwinkern wieder.
„Du bist total beknackt. Und das Zeug wird dich noch mal ins Grab bringen. Zumindest hoffe ich das.“
„He! Was ist hier los?“
Jeb fuhr zusammen. Dann warf er einen Blick über die Schulter in Richtung Eingang. Ein Cop stand da, bestimmt zwei Meter hoch, die Gläser seiner Sonnebrille so groß wie Windschutzscheiben. Jeb kannte diesen Typ: knallharter Dixieland-Bulle, der erst schoss und dann Fragen stellte.
Aber er hatte einen Fehler gemacht. Seine Hand lag zwar auf dem Griff seiner Pistole – aber er hatte sie noch nicht gezogen.
Phil war wie immer unglaublich schnell. Als hätte er nur drauf gewartet, fuhr er auf dem Absatz herum und feuerte, zwei mal.
Er hat ihn – dachte Jeb. Aber die erste Kugel schlug im Türrahmen, direkt neben dem Kopf des Bullen ein, Splitter flogen durch die Luft. Die zweite ließ ein paar Cola-Dosen in einem Regal explodieren und riss ein paar weitere auf, so dass ein dünner brauner Sprühregen in der Luft hing.
„Scheiße“, fluchte Jeb. Wenn Phil einmal loslegte, dann ballerte er bald ungezielt um sich, kannte weder Freund noch Feind. Jeb schwang sich also über die Theke, in Deckung. Vor sich entdeckte er den Ladenbesitzer, der sich flach auf den Boden geworfen hatte und nun mit geschlossenen Augen vor sich hin jammerte.
Es folgte das Krachen weiterer rascher Schüsse. Der Cop musste inzwischen zurückfeuern, denn gleich zwei Kugeln durchschlugen das Plastikgehäuse des FruityFroz-Automaten und die Farbstoff gesättigte Soße lief aus und über den Boden.
Phil stieß einen markerschütternden Schrei aus und Jeb fragte sich schon, wie gestört man eigentlich sein müsse, um sich mitten in einer Schießerei wegen einer FruityFroz-Maschine dermaßen aufzuregen – als er die Blutspritzer vor sich auf dem Boden sah und hörte, wie vor der Theke ein schwerer Körper aufschlug.
„Dreck. Verfluchter Dreck.“ Jeb versuchte, sich zu beruhigen. Er schloss kurz die Augen, atmete durch – dann sprang er auf die Beine.
Er wusste, dass er keine Zeit zum Zielen hatte und gab auf Gutglück zwei Schüsse in die Richtung ab, in der er den Cop vermutete. Erst danach schaffte es sein Hirn, sich ein klares Bild von der Situation zu machen.
Der Cola-Nebel hing immer noch im Raum, der Cop stand mittendrin. Und auf einmal – färbte sich der Cola-Nebel rot, wurde zum Cola-Blut-Nebel.
Kopfschuss, dachte Jeb oder vielmehr hörte er den Gedanken irgendwie, als sei er gar nicht sein eigner. Der Cop gab ein widerliches Röcheln von sich, ging schwer zu Boden.
Scheiße, dachte Jeb. Dann flüsterte er zu sich selbst: „Ich bin ein Cop-Killer.“ Eigentlich war er nie ein guter Schütze gewesen. Genau genommen hatte er nie selbst einen kaltgemacht, das hatte bei ihren bisherigen Dingern immer Phil erledigt, aber jetzt … Jeb glotzte ungläubig die Pistole in seiner Hand an.
Er hatte sich bereits mit dem Gedanken abgefunden gehabt, dass er irgendwann im Knast landen würde. Für zehn, vielleicht fünfzehn Jahre. Aber das änderte alles.
„Dafür bin ich fällig. Scheiße.“
Gelangweilt ließ Sid seine Blicke über den kleinen Parkplatz hinter dem Laden schweifen. Es war wie üblich nichts los. Von ihrem Streifenwagen abgesehen standen hier lediglich der Pickup des Ladenbesitzers und, ein gutes Stück entfernt, ein rostbrauner Dodge.
Im Westen, wo sich die Bayous endlos ausdehnten, verschwand die Sonne bereits hinter den Bäumen.
Sid begann eben, die Taschen seiner Weste nach einer Zigarette zu durchwühlen, als ein Schuss die Stille zerriss.
Hektisch warf er den Kopf herum, auf der Suche nach der Quelle des Geräuschs – da knallte es schon wieder. Und wieder.
Die Schüsse kamen aus dem Laden.
„Verdammte Scheiße.“ Sid stieß die Wagentür auf, zog seine Dienstwaffe und rannte los.
Jeb war immer noch damit beschäftigt, seine Waffe anzustarren, als ein zweiter Cop in der Tür erschien – und beinah über seinen am Boden liegenden Kollegen fiel.
Reflexartig legte Jeb auf ihn an, aber der Cop war flink wie ein Wiesel auf Crack. Noch ehe Jeb den Abzug drücken konnte, hatte er hinter einem großen Regal Deckung gesucht.
Jeb war klar, dass er nicht noch einmal so viel Glück haben würde.
Er musste etwas tun. Jetzt. Und er tat es.
Der Bulle kam eben hinter seiner Deckung hervor, feuerte – da war Jeb schon im Sprung. Er spürte, wie seine Schulter hart gegen das Fenster schlug, der Rahmen krachte. Glassplitter schossen an seinem Gesicht vorbei wie messerscharfe Regentropfen, dann schlug er auf. Die Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst als hätte ihm ein Elefant vor die Brust getreten, auf der Stirn und an der linken Wange spürte er eine warme Flüssigkeit, bei der es sich um sein Blut handeln musste – aber irgendwie kam er auf die Beine.
Zunächst etwas schlingernd rannte er auf den braunen Dodge zu.
Von draußen hörte er schon das Wummern der Bässe und als er die Autotür aufriss, brüllten ihm gefühlte 200 Dezibel derbsten Thrash-Metals entgegen.
Jeb schwang sich auf den Beifahrersitz und hieb mit der Rechten auf die Tasten des Autoradios, um die Musik zum Schweigen zu bringen.
Jerome, der sich bislang in einer annähernd horizontalen Lage befunden hatte, machte sich sehr gemächlich daran, seinen Sitz in eine aufrechte Position zu bringen, während Jeb ihn anschrie: „Wir müssen weg! Sofort!“
„Was?“, fragte Jerome träge. „Was is los? Und was … is mit Phillie-Boy?”
Erst jetzt nahm Jeb den Geruch von THC im Auto wahr und sah den Joint, den Jerome in der Linken hielt.
„Vergiss Phil!“
Jerome starrte ihn nur hohl an.
„Phil ist tot! Das können wir auch bald sein, wenn du nicht endlich Gas gibst!“
Jerome schien allmählich zu begreifen, was Sache war. Er drehte den Zündschlüssel – und würgte erst einmal den Motor ab.
Jeb, der im Rückspiegel den Cop heranstürmen sah, brannten endgültig die Nerven durch: „Du dämlicher Hurensohn von einem Kiffer! Das ist genau der Scheiß, der dich noch umbringen wird! Gib Gas!“
Jerome startete den Wagen neu und diesmal setzte er sich in Bewegung. Während sie beschleunigten, gab der Cop zwei Schüsse ab. Einer hämmerte genau in ihren rechten Rückspiegel.
Aber der alte Dodge wurde unaufhaltsam schneller, der Bulle fiel weiter zurück. Endlich erreichten sie die Straße, Jerome bog links ein.
Sie würden noch mal aus der Sache rauskommen. In zwei, drei Stunden konnten sie bereits in Mexiko sein. Phil war tot, na gut, aber damit fiel auch ein erhebliches Sicherheitsrisiko weg und außerdem …
Seltsamerweise fühlte Jeb nur ein gelindes Erstaunen, als Jeromes Kopf explodierte. Die Kugel des Bullen durchschlug die Scheibe der Fahrertür, fuhr in Jeromes Schädel und im nächsten Moment hatte das Wageninnere einen neuen, roten Anstrich.
„Nein, das kann einfach nicht …“, flüsterte Jeb. Es war einfach nur noch unfair.
Jeromes lebloser Körper hielt immer noch das Steuer umklammert und während er gen Fußraum zusammensackte, schlug er es hart nach links ein.
Jeb reagierte zu spät: Als er ans Lenkrad griff, hatte der Wagen die Straße bereits verlassen und holperte durchs hohe Gras. Vielleicht hätten sie es trotzdem noch geschafft, aber Jeromes Leiche entdeckte ihre Vorliebe fürs Gaspedal. Mit gut dreißig Meilen in der Stunde erwischten sie den Baum frontal.
Jeb wurde nach vorn gerissen und traf auf den Beifahrer-Airbag. Hektisch löste er den Gurt und stieß die Tür auf. Irgendwie schaffte er es, sich hinter dem Airbag hervor zu zwängen. Vorsichtig lugte er hinter dem Auto hervor. Der Bulle war noch einige hundert Meter entfernt, kam aber schnell die Straße hoch gerannt.
„Na schön. Du hast es so gewollt. Du oder ich …“
In Jebs Kopf schrillten die Alarmsirenen, als er an seine Seite griff und feststellen musste, dass seine Waffe nicht da war. „Das kann doch nicht …!“
Panisch suchte er den Boden ab, aber die Pistole war nirgends zu sehen.
Endlich entdeckte er sie, mehr durch Zufall, im Fußraum des Autos.
„Jetzt bist du fällig.“
Jeb lehnte sich ein Stück aus der Deckung und schoss. Selbst wenn der Bulle sich nicht schnell hinter einen Baum gesprungen wäre, hätte er ihn nie im Leben erwischt. Der Kerl verstand sein Handwerk. Er würde keine Dummheiten machen und ihn hier einfach festnageln. Bis die Verstärkung da wäre.
Jeb traf eine Entscheidung. Er feuerte noch einmal, der Bulle ging wieder in Deckung. Jeb sprintete los. Mit ein, zwei Sätzen erreichte er die Bäume.
Der Cop feuerte, aber selbst ein Meisterschütze hätte bei der Nummer keinen Erfolg gehabt.
Jeb rannte und rannte. Links und rechts schossen die dicken Stämme der uralten Bäume vorbei, aber Jeb nahm das gar nicht mehr war. Er wurde hysterisch.
„Du kriegst mich nie, Bulle!“, schrie er und rannte lachend davon in die Bayous.
Voll hilfloser Wut musste Sid zusehen, wie der verdammte Mistkerl, der Daryl abgeknallt hatte, zwischen den Bäumen verschwand. Dabei lachte er wie der geistesgestörte Bastard, der er wohl war.
„Verfluchte Scheiße!“
Daryl und er waren wie Brüder gewesen und jetzt war Daryl tot. Über den Haufen geschossen von irgendeinem Spinner. Nur weil er vor dem Feierabend noch ein paar FruityFroz für sie hatte holen wollen.
Sid prüfte sein Magazin: noch vier Schuss. Machte zusammen mit dem Reservemagazin, das er in der Tasche trug, genug, um dem Spinner ein paar hübsche Löcher zu verpassen. Obwohl Sid eine andere Lösung noch deutlich vorziehen würde. Langsam zog er das Messer aus dem Krokodilleder-Holster an seinem Gürtel. Die Abenddämmerung spiegelte sich als rötlicher Feuerschein auf der zwanzig Zentimeter langen Klinge.
Eigentlich müsste er Verstärkung holen. Eigentlich.
„Aber nicht diesmal. Diesmal ist es was Persönliches!“
Als es dunkel wurde, war Jeb endgültig klar, dass er in Schwierigkeiten steckte. Das Rennen hatte er längst aufgegeben. In den Bayous war es unerträglich schwül und auch die Abenddämmerung hatte bisher keine Besserung gebracht.
Sein durchgeschwitztes Hemd klebte ihm am Körper, die Hose war nass und verdreckt, da er alle Nase lang in irgendeine Pfütze trat. Die verfluchten Mücken hatten seine Haut von oben bis unten zerstochen, gerade jetzt summten ihm ein paar der Mistviecher um die Ohren.
Dazu kamen Hunger und Durst. Weit würde er nicht mehr kommen.
Und er hatte keine Ahnung wo er war.
Erschöpft sank er an einem Baum zusammen. Bäume, nichts als Bäume und dazu diese stinkenden Sümpfe!
Jeb vermutete, dass die Bullen das Gebiet inzwischen systematisch durchkämmten. Vermutlich war es egal, ob er weiter floh oder einfach hier wartete, bis sie ihn hatten.
Also konnte er genau so gut für einen Moment die Augen schließen …
Augen! Zwei gelblich funkelnde Augen starrten ihn durch das Schilf direkt voraus an. Jeb war sofort wieder hellwach.
„Was …?“ Stolpernd kam er auf die Beine, so dass er mit dem Rücken gegen den Baum gepresst stand.
Das Ding, dem die Augen gehörten, schob sich langsam aus dem Gestrüpp hervor. Zuerst sah Jeb eine beschuppte, klauenbewährte Pfote, dann noch eine. Dann kam der Kopf: Die böse funkelnden Augen saßen über einer langen Schnauze, die, leicht geöffnet, den Blick auf eine ganze Reihe messerscharfer Zähne freigab.
Jeb stand einem ausgewachsenen Alligator gegenüber. Und er schrie. Schrie wie eine Frau, hätte Phil wohl gesagt, aber Jeb war vollkommen egal, was Phil gesagt hätte, denn Phil war nicht hier. Und Jeb hatte eine Scheißangst vor allem was Schuppen hatte. Besonders wenn dieses etwas in der Lage war, ihn zu verspeisen.
Das Ungetüm riss sein Maul gefühlte zwei Meter weit auf und schoss auf Jeb zu. Der konnte sich nicht rühren, sah schon vor sich, wie das Vieh in schreiend in den Sumpf zog – da ließ er sich doch noch zur Seite fallen, die Kiefer schnappten knapp neben seinem linken Bein zu.
Jeb stürzte auf den Rücken, es gab ein hässliches Knacken. Er hob den Kopf – und blickte direkt in den weit aufgerissenen Schlund. Nur das nicht.
Mit zitternden Finger zog er seine Waffe und drückte ab, gerade bevor der Alligator zubeißen konnte. Die Kugel durchschlug den Gaumen, ging wohl bis ins Hirn durch, denn die riesige Echse sackte auf der Stelle zusammen.
Jeb sprang auf die Beine. Er fühlte sich gleichzeitig gepackt von einer gewaltigen Hysterie und plötzlicher Euphorie. Es war, als würde ihn jemand mit einer Feder direkt am Großhirn kitzeln.
Gackernd wie ein Huhn sprang Jeb um den toten Alligator herum. „Du wolltest mich zum Abendbrot?“, schrie er und jagte dem Kadaver eine weitere Kugel in den Kopf. „Ich geb dir was zu fressen!“ Wieder und wieder feuerte er und schüttelte sich dabei vor Lachen.
Erst das metallische Klicken der Pistole brachte ihn wieder zur Vernunft. Verdutzt sah er die Waffe an. Keine Munition mehr. Und das war sein einziges Magazin gewesen.
Die Schüsse mussten über mehrere Meilen zu hören gewesen sein.
„Ich verdammter Idiot.“
Sein Herz hämmerte wie eine Bohrmaschine, das Blut schoss ihm heiß durch die Adern. Jeb hatte keine Lust mehr, sich fangen zu lassen. Er ging weiter.
Den Mistkerl zu verfolgen war für Sid kein großes Problem. Der Typ war vermutlich ein Großstadtkind, aus einer besonders verwahrlosten Ecke von New Orleans oder sonst woher. Gegen jemanden, der in den Sümpfen groß geworden war, hatte er keine Chance. Offensichtlich versuchte er nicht einmal, seine Spuren zu verwischen.
Sid schnaubte. Es war schon fast ärgerlich einfach.
Plötzlich zerrissen Schüsse die Stille. Instinktiv ging Sid in die Hocke – aber das Feuer hatte nicht ihm gegolten. Er spähte nach allen Seiten.
Konnte er dem Mistkerl schon so dicht auf den Fersen sein? Und was zum Teufel veranstaltete der da?
Langsam richtete Sid sich wieder auf. Dann ging er schnellen Schrittes in die Richtung, aus der die Schüsse gekommen waren.
Dass Jeb seinen Verfolger zuerst ausmachte, war nicht seiner Vorsicht oder seinem Geschick zu verdanken. Es war reines Glück.
Ihm war gerade einmal wieder durch den Kopf gegangen, dass er eigentlich keine Ahnung hatte, wo er war und eine mittlere Panikattacke verleitete ihn dazu, sich rasch nach allen Seiten umzusehen. Dabei entdeckte er ihn.
An etlichen Baumstämmen vorbei, sicher noch ein paar hundert Meter hinter ihm, sah er für Sekundenbruchteile einen Cop durchs Unterholz schleichen. Aber … konnte das sein? War das der gleiche Typ, wie in dem Laden vorhin? „Nein“, versuchte Jeb sich zu beruhigen. „Das kann nicht sein. Du drehst langsam durch, alter Junge.“
Wie auch immer. Er musste machen, dass er wegkam.
Jeb vergewisserte sich, dass der Bulle ihn noch nicht entdeckt hatte. Dann legte er in geduckter Haltung einen Sprint ein.
Die Bäume standen hier verflucht dicht beieinander und Jeb riss sich beim Versuch, sich durch die Büsche zu kämpfen, mehrmals die Arme auf.
Dann aber fand er sich unvermittelt auf einer kleinen Lichtung wieder – und damit direkt gegenüber der breiten Front eines Hauses im Kolonialstil. Selbst ein Ufo hätte Jeb kaum mehr erstaunen können.
Ein echter Glückstreffer. Die Zeiten, als die Fassade des Hauses noch in hellem Weiß gestrahlt hatte, waren wohl gemeinsam mit der Sklaverei untergegangen, aber Jeb wusste, dass er nicht all zu wählerisch sein durfte. „Mal schauen, ob wer zu Hause ist …“
Ein letzter Blick über die Schulter, dann erklomm er die Stufen der Veranda. Dem Knarren zufolge, das sie dabei hören ließen, kam er gerade noch rechtzeitig, bevor das Haus in sich zusammenfiel.
Die Tür war unverschlossen. Jeb betrat einen großen Raum. Hier war es noch dunkler als draußen, Staub rieselte durch das Zwielicht. Staub bedeckte auch das Fensterbrett, über das Jeb mit der Hand fuhr. Von irgendwoher war das Ticken einer großen Uhr zu hören.
„Junger Mann …“ Es war, als hätte jemand einen Kübel mit Eiswasser über Jebs Kopf geleert. Die Stimme klang wie das Öffnen eines Sargdeckels.
Jetzt erst entdeckte er sie: Unter einem der Fenster, in einem Korbstuhl zusammengekauert, saß ein altes Weib, eine Decke auf dem Schoß. Ihr Gesicht war braun wie Lehm und faltig wie eine zerknüllte Serviette. Die großen Augen wirkten im schwachen Licht fast vollständig weiß.
Jeb machte einen großen Schritt auf sie zu. Dabei zog er seine Pistole, zielte genau auf ihren Kopf. „Ganz ruhig jetzt, dann passiert dir nichts, Oma.“
Die Alte zeigte keine Reaktion. Für einen Moment fragte Jeb sich, ob sie vielleicht einfach vor Schreck gestorben war.
„Also: Ist noch irgendwer hier im Haus?“
„Nein, ich bin allein.“
Jeb starrte sie eine Weile an. Sie schien die Wahrheit zu sagen. „Gut.“
Er ließ seine Blicke kurz durch das Zimmer wandern. Dann schaute er zum Fenster hinaus – und sah dabei den Bullen, der eben zwischen den Bäumen hervortrat.
„Okay, Oma. Hier wird gleich ein Cop reinspazieren. Du wirst ihm sagen, dass niemand hier ist, dass du niemanden gesehen hast. Wenn du was Dummes versuchst, bin ich da und knall euch beide ab.“
Die Alte nickte knapp. Jeb war sich nicht sicher, ob sie ihn überhaupt verstanden hatte. Er wollte seine Drohung schon wiederholen, überlegte es sich dann aber anders.
Er durchquerte das Zimmer, stieg in einen großen Kleiderschrank und zog ihn hinter sich zu. Das bereute er auf der Stelle. In dem Schrank roch es muffig, irgendwie verschimmelt. Was ist denn hier verreckt?
Dann öffnete sich die Haustür.
Jeb hörte die unangenehme Stimme der Alten, dann die tiefere des Bullen. Das Dumme war nur, dass er kein Wort verstand. Die Schrankwände waren zu dick. Das ist noch echte Wertarbeit, dachte er grimmig.
Die beiden redeten immer noch. Jeb wurde unruhig. Wie lange konnte es dauern, dem Bullen zu erklären, dass sie nichts und niemanden gesehen hatte? Aber er konnte nichts unternehmen. Ohne Munition war es unmöglich, seine Drohung wahr zu machen.
Endlich wurde es draußen still. Die Haustür wurde wieder geöffnet, dann geschlossen. Jeb wartete noch ein paar Sekunden, dann schob er langsam die Schranktür auf.
Der Bulle war fort, die Alte saß friedlich in ihrem Stuhl.
„Gut gemacht. Wir verstehen uns doch. Wo ist der Kühlschrank?“
Es gab keinen. Statt einem kühlen Bier musste er mit Tee Vorlieb nehmen, der mit Wasser aus einem Brunnen hinter dem Haus gekocht wurde. Und obwohl er lieber ein Steak gehabt hätte, gab es im Haus nur Zwieback und ein paar Äpfel. Aber das machte nichts. Für den Augenblick war er in Sicherheit.
Normalerweise versank Jeb, nur wenige Sekunden nachdem er die Augen schloss, in einen tiefen Schlaf. Aber heute war das anders.
Im Obergeschoss des Hauses gab es gleich mehrere Schlafzimmer. Er hatte der Alten die Schlüssel abgenommen, sie in ein Zimmer gesperrt und selbst ein anderes bezogen. Auch hier hatte er die Tür verschlossen.
Eigentlich sollte damit alles klar sein. Aber irgendwie war es das nicht. Seit mehr als zwei Stunden schon wälzte er sich unruhig hin und her. Ihm war zu warm.
Und das alte Haus knarrte und quietschte an allen Ecken und Enden. Aufgebracht fuhr Jeb hoch, fegte mit der Hand eine kleine Lampe vom Nachttisch. „Bin ich hier auf einem gottverfluchten Segelschiff?!“
Es half nichts. Er würde wohl noch eine ganz Weile wach herumliegen und die Decke anstarren. Im Licht des vollen Mondes wirkte sie beinah blau.
Ein Schatten fiel ins Zimmer. Jeb drehte den Kopf zum Fenster – und blickte in ein Gesicht. Vor dem Fenster war ein Gesicht.
Jeb konnte sich vor Schreck nicht rühren. Starr schaute er in die Schatten, unter denen die Augen des Gesichts verborgen liegen mussten.
Der Kopf vor dem Fenster wurde zur Seite gelegt, es sah beinah nachdenklich aus. Dann kam Bewegung in die Szene. Das Etwas, dem der Kopf gehörte, kletterte an der Hauswand empor, am Fenster vorbei. Sein nackter Körper war eindeutig menschlich, wenn auch ungewöhnlich mager. Die Gliedmaßen waren vielleicht etwas zu lang.
Aber die Art, wie das Ding die Wand hochkletterte, hatte überhaupt nichts Menschliches. Es sah mehr aus, als krabbele es die Wand hoch, es hielt sich nicht einmal richtig fest, alle Glieder waren ständig in Bewegung.
Jeb stand langsam auf. „Wie eine gottverdammte Spinne“, flüsterte er. Die Worte schienen einen Moment lang im Raum zu hängen.
Das Gesicht tauchte wieder auf, schob sich von oben in Jebs Sichtfeld. Und es grinste ihn an.
Und nun fiel Jeb noch etwas auf. War das nicht …? Das Gesicht war insgesamt magerer, knochiger. Irgendwie tierischer. Aber trotzdem: Es sah aus wie das, dieses Bullen, der ihn durch die Bayous gejagt hatte.
„Nein, nein verdammt!“
Jeb schloss kurz die Augen. Als er sie wieder geöffnet hatte, war das Ding fort. Aber sein Grinsen sah er immer noch vor sich. Und er wusste sicher, dass er sich das Ganze nicht eingebildet hatte.
Er fühlte sich seltsam betäubt; als habe jemand seinen Kopf mit Watte ausgestopft.
„Du musst dich nur beruhi …“ – das Geräusch von Schritten auf dem Flur. Leise, aber unüberhörbar.
Jeb blickte sich gehetzt um. Der Stuhl! Auf der andern Seite des Zimmers stand ein Stuhl. Er ging hinüber, packte die Lehne und trat heftig gegen die Sitzfläche. Es gab ein Krachen, dann hielt er einen Teil der Lehne mitsamt einem Stuhlbein in der Hand. Keine Knarre, aber immer noch besser, als überhaupt keine Waffe.
So geräuschlos wie möglich ging er zur Tür, legte seine Hand auf den noch steckenden Schlüssel. Die Schritte waren immer noch zu hören.
Okay.
Eins. Zwei. Drei! Er stieß die Tür auf.
Der Flur lag lang im silbrigen Mondlicht da. Erst sah er es gar nicht, weil es völlig still stand. Aber es war da: Am andern Ende des Flur, das Ding, das eben noch vor seinem Fenster gewesen war.
Erst jetzt sah Jeb, dass seine Gliedmaßen wirklich ein ganzes Stück zu lang waren. Und dass es wirklich das Gesicht dieses verfluchten Bullen hatte.
Das Ding schien seinen Schrecken wahrzunehmen und grinste ihn idiotisch an.
„Na warte, du dreckiger Bastard …“ Jeb wog seinen Knüppel in der Hand. Dann hob er ihn an und stürmte auf das Ding zu.
Er hatte damit gerechnet, dass der hässliche Bastard sofort wegrennen würde. Immerhin schien er ziemlich flink zu sein. Aber er bleib einfach nur stehen. Sein Lächeln wuchs zu einem Grinsen. Das werd ich dir schon austreiben.
Jeb hatte das Ding fast erreicht, machte sich schon bereit, ihm die Schädeldecke zu zertrümmern – als links neben ihm eine Tür aufsprang.
Etwas traf hart seinen Hinterkopf. Ein Feuerwerk in gelb und blau explodierte vor seinen Augen, er spürte kaum, wie seine Knie auf den Boden schlugen. Dann kippte er nach hinten.
In den Momenten, bevor er das Bewusstsein verlor, sah er sehr verschwommen, als blicke er durch eine bewegte Flüssigkeit. Und gleich darauf hoffte er, dass er lediglich halluzinierte.
Ein Monster, noch deutlich unmenschlicher als das kletternde Vieh, beugte sich über ihn. Jeb sah seine Schultern, seine Oberarme: gewaltige Fleischberge. Muskelstränge wie Geschwüre überzogen sie. Besonders die linke Schulter: Sie war ein einziges, unförmiges Etwas.
Es fehlte die Nase. Da, wo sie hätte sein sollen, war nur nässendes Fleisch.
Davon abgesehen erkannte er das Gesicht des Bullen.
Jeb kam nur langsam wieder zu sich. Sein Kopf war ein einziges Pochen.
Phil, sind wir schon in Mexiko? Ich muss wohl gestern etwas zu viel getrunken haben …
Um ihn war Bewegung. Jemand ging in dem schwach beleuchteten Raum umher.
Allmählich gewannen die Dinge ihre Konturen zurück: Zwei Stühle, kleine Tische, etwas wie eine Werkbank … allerlei Gerümpel. Eine einzelne, von der Decke baumelnde Glühbirne, die alles in ein unangenehmes oranges Licht tauchte.
Er selbst schien auf einem Stuhl zu sitzen und … Oh Gott. Bin ich gefesselt?
Links, halb abgewandt stand die Alte, beschäftigte sich offenbar mit irgendetwas auf der Werkbank. Sie wandte sich ihm zu.
„Wa …“ Jeb brachte kein richtiges Wort heraus.
„Guten Morgen“, krächzte dafür die Alte und setzte ein harmloses Oma-Lächeln auf.
„Was … Was ist das hier?“ Er nickte in Richtung der Werkbank, die aussah, als hätte jemand den Inhalt von mindestens einem Dutzend Chemiebaukästen darauf verteilt. Reagenzgläser, kleine Ampullen und größere Glaskolben lagen und standen dort quer durcheinander.
„Ach“, machte die Alte gut gelaunt. „Davon verstehst du nichts.“ Sie drehte sich wieder um. Jeb beobachtete, wie sie eine kleine Dose öffnete und daraus ein graues Pulver in einen der Kolben schüttete. In dem Kolben befand sich eine trübe Flüssigkeit, in der etwas schwamm, das Jeb nicht genau erkennen konnte.
Die Erinnerung kam langsam zurück, mit ihr die Panik. „Und – was waren das für … Monster da oben?“
Die Alte hielt inne, runzelte die Stirn. Dann hellten sich ihre Züge auf. „Ach so. Du meinst Tom und Bobby. Das sind meine Söhne.“
Jeb war für einen Moment sprachlos. Er hatte gehört, dass Inzucht in ländlichen Gegenden schon so einiges angerichtet hatte, aber … Nein, das war ausgeschlossen.
„Ist das hier irgend so eine Vodoo-Scheiße?“
Die Alte reagierte nicht.
„He! He, ich rede mit Ihnen!“
Sie blieb stumm. Dafür antwortete eine andere Stimme in Jebs Rücken.
„Nein. Das hier hat mit Vodoo oder sonstigem Hokuspokus nichts zu tun. Mama Anna ist eine ernsthafte Wissenschaftlerin.“
Der Sprecher trat in Jebs Blickfeld. Es war der Cop aus den Bayous. Er hielt irgendeinen metallischen Gegenstand in Händen.
Die Miene des Bullen war vollkommen unbewegt. Aber in seinen Augen funkelte die reine Bosheit.
„Mama Anna … Wissenschaftlerin …?“, wiederholte Jeb völlig verwirrt.
„Ja. Mama Anna“, fuhr der Cop in beinah schon ehrfürchtigem Tonfall fort. „Eine große Wissenschaftlerin. Und Künstlerin. Sie hat uns alle geschaffen.“
„Wie? Was soll das heißen?“
Mama Anna lächelte gütig, legte dem Cop die Hand auf die Schulter. „Ja, ja … Und Sid ist mein Bester. Mein Allerbester. Er ist viel heller als seine Brüder. Und er sieht sogar besser aus.“
Bei diesen Worten lächelte Sid, sichtlich stolz.
Jeb hatte jetzt freien Blick auf einen weiteren der großen Glaskolben. Auch darin stand eine trübe Flüssigkeit. Das Ding aber, das darin schwamm, konnte Jeb diesmal einwandfrei erkennen. Und dabei drehte sich ihm fast der Magen um: Es sah aus wie ein menschlicher Fetus.
„Was …? Wie …?“, stammelte er nur.
„Es ist eine Umwandlung“, dozierte Mama Anna jetzt vollkommen ernst. „Leben ist Umwandlung. Das habe ich erkannt. Und wie man die Lebensenergie auffängt und kanalisiert.“
„Sie haben diese Dinger geschaffen?“
Die Greisin verzog verärgert das Gesicht. „Meine Söhne. Ja.“
„Wie … Wie viele?“, brachte Jeb atemlos hervor
Mama Anna lächelte bloß versonnen. Als hätte sie ihn nicht gehört, fuhr sie fort: „Die Energie auffangen … Aber sie müssen noch frisch sein, sonst verflüchtigt sich die Energie, zerfasert in die Weiten des Raumes …“
„Das ist doch blanker Irrsinn!“, brüllte Jeb. Er hatte Todesangst.
„Mag sein“, sagte Mama Anna nüchtern. „Aber es funktioniert. Ich selbst sehe doch auch gut aus für zweihunderteinundsechzig, oder?“
Die Worte der Alten geisterten vor Jeb herum wie Irrlichter im Nebel. Die Lebensenergie … auffangen und kanalisieren … müssen frisch sein …
„Was haben Sie mit mir vor?“ Seine Stimme klang in seinen eigenen Ohren dünn und jämmerlich. „Wollen Sie mich …“ Er brachte den Satz nicht zu Ende. Tränen schossen ihm in die Augen.
Sid machte einen Schritt auf ihn zu und ergriff wieder das Wort: „Nein. Das heißt: noch nicht ganz. Im Moment …“ Jeb spürte, wie Sid seinen rechten Ringfinger umfasste. „… brauchen wir nur ein bisschen was.“
Jetzt erkannte Jeb auch den Gegenstand, den Sid in der Hand hielt. Es war eine große Schere, wie man sie etwa zum Zerlegen von Geflügel benutzt.