Alessandra schrieb:
Allerdings sollten sich Autoren mit Suizid-Geschichten auch mal fragen, ob ein Autoren-Forum der richtige Platz für ihren Text ist. Keiner kann mir erzählen, er hätte vorher nicht gewusst, dass es Kritiken hageln könnte. Es sind im WWW genügend Lebenshilfe-Foren vorhanden. Hört sich hart an, ist aber nicht so gemeint, trotzdem eine Tatsache.
Wie schon oben gesagt: Ein potentieller Selbstmörder schaut nicht, was da steht. Der sieht Platz, um sich auszuschütten, hofft auf Menschen, die ihm zuhören, alles andere sieht er nicht. Jemand, der wirklich ernsthafte Suizidgedanken hat, sieht nur mehr seine Probleme und hat zum Lesen der Regeln auf kg.de nicht eine Sekunde Zeit.
Ein Selbstmordkandidat, der hier postet, hat vielleicht kein entsprechendes Forum gefunden, sonst wäre er vermutlich dort hingegangen.
Andererseits finde ich diese Foren auch gar nicht gut, weil man dort nämlich nichts anderes sieht, als Menschen, denen es auch nicht besser geht. Was dort geschieht, treibt einen unter Umständen nur noch mehr hinein, es ist nichts als ein Treten im Sumpf. Wenn einer sagt, ihm geht es aus diesem und jenem Grund so schlecht, kommen fünf andere und sagen, daß es ihnen genauso beschissen geht. Super. Jemand, der ihnen wirklich einen Lichtblick zeigen kann, findet er dort nicht.
Ich bin seinerzeit zwar aus keinem Selbstmordforum hierher gekommen, aber so weit daneben lag es auch nicht, da Menschen mit Depressionen die größte Gruppe an Selbstmördern darstellen, nämlich 90 – 95 %, also die Probleme ungefähr die gleichen sind. Daher weiß ich eines: Wenn ich zu jemandem sage, geh in ein Selbstmordforum, kann ich ihm genausogut einen Strick in die Hand drücken.
Mir ist es jedenfalls so gegangen, daß ich in diesem Forum für als Kind Mißhandelte schon fast erstickt bin an meinen Depressionen. Es treibt einen nur immer weiter hinein, man sieht dann gar keinen Ausweg mehr, weil die ganze Welt nur mehr aus dem einen Thema besteht – und genau das ist das Gefährliche, was manche dann tatsächlich soweit bringt und auch schon gebracht hat, sich umzubringen.
Als ich kg.de fand, war es, als würde die Sonne aufgehen. Erstens, weil es hier auch andere Themen gibt, zweitens, weil es immer Menschen gab, die mir wirklich geholfen haben.
Ich hab auch erst hier begonnen, Geschichten zu schreiben.
Alessandra schrieb:
Vielleicht befürchten sie, man würde sie in den gleichen, peinlichen Topf werfen
Peinlich ist es nur, wenn jemand eines anderen Leid als peinlich bezeichnet – das zeugt nämlich von einem ziemlich veralteten Wissensstand.
delena schrieb:
Es gibt mit sicherheit viele gute, abwechlungsreihe Suizid-Storys, aber es gibt wie es immer in unserer Welt ist weit aus mehr beschissene Suizid-Storys.
Jede Suizid-Geschichte ist im Grunde beschissen. Weil es auf jeden Fall ein beschissenes Thema ist.
Ich kann aber nicht zu einem Menschen sagen: »Deine Selbstmordgedanken klingen zwar erschreckend echt, aber sie interessieren mich nicht, ich will nur erfundene, keine echten Gefühle, will nur unterhalten werden, ohne mir womöglich über echte Menschen Gedanken machen zu müssen. Geh du nur und bring dich um, wenn dir danach ist…«
Naja, manche können das wohl.
delena schrieb:
menschen die ihre selbstmordstorys posten, warten eigentlich nur auf mitleid, mitgefuehl
Ein Wort in diesem Satz hat es mir ganz besonders angetan:
nur
Dieses Wort verrät doch, daß es eigentlich gar nicht viel ist, was sich diese Menschen erhoffen – für einen gesunden Menschen jedenfalls nicht viel ist. Für einen, der vor seinem Selbstmord steht, kann es so viel sein, daß es sein Leben rettet.
Bei einem Unfall ist der nächste Autofahrer verpflichtet, Erste Hilfe zu leisten – ein Mensch, der seinen Selbstmord ankündigt, ist auch ein Schwerverletzter, nur sieht man es ihm nicht an, es rinnt einem kein Blut vor die Füße, wenn man dessen Gedanken liest.
Warum sträuben sich so viele davor, jemandem, der es bitter nötig hat, Mitgefühl zu geben, das nicht einmal etwas kostet und obendrein wesentlich weniger Zeit in Anspruch nimmt, als zum Beispiel eine Korrekturliste?
Vielleicht, weil sie es selbst bräuchten und es nicht ertragen können, wenn andere es bekommen? Vielleicht, weil ihnen durch die seelischen Schmerzen des anderen die eigenen erst so richtig bewußt werden (auch, wenn sie nicht bis zu Selbstmordgedanken reichen)?
delena schrieb:
Die meisten von uns haben schon mal an Selbstmord gedacht. Darueber geschrieben. Vielleicht sollten wir es tun oder es einfach vergessen. …
Und mit die meisten von uns, mein ich absolut viel mehr als die haelfte der europaeischen Bevoelkerung.
Schenkt man dieser Aussage Glauben, kann man meine Fragen wohl durchaus mit ja beantworten. – Was wiederum mit Alice Miller übereinstimmt, die in einem ihrer Bücher schreibt, daß Mitleid nur deshalb so verpönt ist, weil man dann merken würde, wie viel eigentlich in unserer Gesellschaft schief läuft. Und dann müßte man folgerichtig das ganze Erziehungs- und Schulsystem, die Arbeitswelt, die Gesellschaft und die Politik menschlicher gestalten. – Ja wo kämen wir denn da hin…
Nachdem es gerade Menschen mit psychischen Problemen oft zum Schreiben treibt, ist es auch nicht unwahrscheinlich, daß jemand, der sein Leben mehr oder weniger dadurch gerettet hat, daß er sich den Schmerz endlich von der Seele geschrieben hat, wenn man ihn dazu ermutigt, danach auch weiterschreibt – literarisch wertvollere Geschichten schreibt, als die ersten Selbstmordgedanken. Wer die seelischen Abgründe so genau kennt, kann sie auch zu tiefgehenden Geschichten verarbeiten, es sei denn, er ist im Schreiben absolut untalentiert, was sich aber nicht unbedingt an den Selbstmordgedanken feststellen läßt.
Wenn man auf so eine Geschichte, wo man sich nicht sicher ist, wie echt die ist, reagieren will, kann man eine PM schicken, wobei die Gefahr besteht, daß derjenige die PM nie findet, wenn er die Benachrichtigung nicht aktiviert hat.
Was man weder in eine PM noch in ein Posting schreiben sollte, ist z.B.: »Also an deiner Stelle wüßte ich auch keinen anderen Ausweg… Tschüß«, auch kein »Mein Gott, du tust mir Leid« – damit bestätigt man nämlich dessen Ausweglosigkeit.
Ein Posting mit einem Inhalt á la »Also die haben sich aber wirklich alle scheiße gegenüber Deinem Protagonisten benommen, denen würd ich gern die Meinung sagen. Diese angeblichen Freunde, die sind doch alle nichts wert, für die lohnt es sich doch gar nicht, sich umzubringen« kann Wunder wirken. Und bezieht sich sogar auf die Geschichte, wodurch es auch niemandem peinlich werden muß, wenn es doch kein authentischer Fall ist.
Ich persönlich mag es aber überhaupt nicht, wenn solche Themen als Schreibübung ohne Hintergrund oder als völlig unrealistisches So-stell-ich-mir-das-vor-Geschreibsel mißbraucht werden. Weil gerade auf diesen Gebieten (dazu zähl ich auch Kindesmißbrauch, Vergewaltigung und Gewalt in der Partnerschaft/Ehe) noch so viel Aufklärung nötig ist, daß diese Fülle an unrealistischen Geschichten ein völlig falsches Bild von der Realität fabriziert. Seiner Phantasie freien Lauf lassen kann man auf so vielen Gebieten, das müssen nicht unbedingt diese heiklen sein. Und wenn, dann sollte man sie so überzeichnen, zum Beispiel als Horror, daß es offensichtlich ist, daß es sich um keine realistische Darstellung handelt.
Literatur dient nicht nur der Unterhaltung, sondern hat auch andere Aufgaben, wie etwa Kritik an der Gesellschaft zu üben oder aufzuklären – beides wird durch unrealistische Darstellungen erschwert bis unmöglich gemacht. Sowas kann man nur mit wirklich guter Recherche und/oder anhand eines authentischen Falles schreiben, ansonsten ist es Mist.
Wer gern gut recherchieren will, dem möchte ich Erwin Ringel ans Herz legen.
Liebe Grüße,
Susi