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Sudenkorento
Als Stefan Haukipettala den Stachel des Wesens in seiner Haut spürt, weiß er: Er wird verschwinden. Wie all die anderen wird er ... einfach verschwinden.
Haukipettala hält sich den Unterarm und beißt die Zähne aufeinander. Zitternd sieht er dem Sudenkorento hinterher, der schillernd und summend, einer gedrungenen Libelle gleich, im dunklen Regenhimmel über Gelsenkirchen verschwindet.
Nachdem er sich zur Besonnenheit ermahnt hat, zieht Haukipettala sein Handy aus der Innentasche seiner Freizeitjacke. Er aktiviert die Wahlwiederholung und hält sich das Gerät ans Ohr.
»Smith?«, meldet sich sein Assistent.
»Ich brauche Sie um 21 Uhr im Büro«, sagt Haukipettala.
»Es ist Samstagabend, und meine Frau ...«, wendet Smith ein.
»Wer bezahlt Sie, Ihre Frau oder ich?«, versetzt Haukipettala.
»Sie sind der Boss«, murrt Smith. »Worum geht’s denn?«
»Sudenkorento. Finden Sie alles über die Viecher raus, was Sie können.«
»Herrgott, ist jemand gestochen worden?«, entfährt es Smith.
»Wir sehen uns um 21 Uhr.« Haukipettala beendet das Gespräch.
Er sieht sich um. Überquellende Müllcontainer, von Natriumlampen in ungesundes Gelb getaucht, verklebte Schaufenster eines ehemaligen Döner-Ladens. Der Vorstand der deutschen Niederlassung eines Weltkonzerns sollte sich nicht in einer solchen Gegend aufhalten. Haukipettala fährt herum, als er Stimmen hört: Grölende Jugendliche. Gewaltbereit. Zeit, zu verschwinden. Er wirft keinen weiteren Blick auf seine Verletzung.
Der Audi parkt vor der Gesamtschule // Mutters dunkle Fleischsoße am Himmel treibt Fettaugen-Wolken in die Richtung, die sie Abend nennen. Plantagen erstrecken sich bis zum Horizont, wo grün und braun ineinander fließen. Zwischen niedrigen Gewächsen kauern nie gesehene Wesen, die Beeren pflücken und in Wannen werfen. Dann ein Brummen, das sich von hinten nähert, als wolle eine Riesenhummel die Ernte begutachten, und die faulen Arbeiter // fast 21 Uhr, als Haukipettala seinen Audi in der Tiefgarage abstellt, zum Aufzug eilt, sich den Unterarm hält. Er betritt die Kabine, drückt die Taste mit der Sieben, wippt auf den Zehen, sieht sein Gesicht in der spiegelnden Hinterwand des Lifts. Er starrt sich selbst an. Noch existiert er, das ist der Beweis.
Der Aufzug hält, Haukipettala öffnet die Sicherheitstür zu den Büroräumen mit seinem Fingerabdruck. Er hastet am verlassenen Empfangstresen vorbei, durch den Gang, den nur die Notbeleuchtung erhellt. Die Tür zum Besprechungszimmer steht offen, Licht dringt heraus.
»Smith«, sagt Haukipettala, als er hinein stürmt und seinen Assistenten erkennt, der am Tisch sitzt, den bebrillten Blick aufs Notebook geheftet, dann aufsieht.
»Was haben Sie rausgefunden?«, fragt Haukipettala und setzt sich neben Smith. Ihm fällt auf, dass er seinen Assistenten noch nie ohne Krawatte gesehen hat.
Smith nimmt die Brille ab und knetet seinen Nasenrücken. »Die Sudenkorento sind zuerst vor zwei Wochen in der Nähe von Inari in Finnland gesehen wurden. Deshalb tragen sie den finnischen Namen, der soviel wie Libelle bedeutet.«
»Weiter«, drängt Haukipettala und legt sein Handy auf den Tisch.
»Inzwischen gibt es Meldungen aus allen Teilen der Welt. Es gibt nur ein paar verschwommene Fotos von den Viechern, fangen und untersuchen konnte man noch keines. Biologen behaupten, dass es eine höchst ungewöhnliche Mutation sein muss.«
»Ist das alles?«
»Verschwörungstheoretiker behaupten, dass es sich um außerirdische Lebensformen handelt, die uns im Auftrag eines Geheimbundes unterjochen.«
»Überaus plausibel.«
»Zeigen Sie mir Ihren Arm«, verlangt Smith.
»Wie bitte?«
»Sie reiben sich die ganze Zeit den Unterarm. Sie sind gestochen worden.« Smith ist hochintelligent. Sonst hätte er nicht diesen Job.
Wortlos zieht Haukipettala sein Sakko aus, schiebt den rechten Hemdsärmel hoch. Es ist kaum mehr zu sehen als eine Rötung. Smith setzt seine Brille // und dann der Gestank. Er weiß nicht, ob es die fremden Wesen sind, die matschigen Beeren, oder der Soßen-Himmel. Er richtet sich auf, überragt die meisten der Wesen, deren Augen sich auf ihn richten, dann eilig wieder Beeren suchen. Ein Ruf, in der Nähe, vielleicht hinter ihm. Er dreht sich, ist zu leicht, sein Fuß verfängt sich in einem Gewächs, er verliert das Gleichgewicht, fällt ... Sein Fuß tut weh, weil ein Stück scharfes Metall seinen nackten Knöchel umschließt. Daran ist ein Stahlseil befestigt, das irgendwo zwischen den Büschen verschwindet. Jemand ruft, vielleicht seinen Namen, wie lautet der doch gleich? Wieder der Ruf. Julian. Es dauert eine Weile, bis er begreift, dass er selbst der Rufer ist. Diesen einen Namen wiederholt, in einem fort. Vermutlich gibt es einen Grund dafür. Aber zunächst muss er etwas anderes erledigen. Er weiß, dass es mit den Beeren zu tun hat. Sein Blick fällt nach links, auf eine große, graue Plastik-Wanne. Er greift danach, und ein paar matschige Beeren kullern darin herum. Seine andere Hand tastet zwischen den Blättern des Busches, neben dem er sitzt. Er schwitzt, ihm ist warm. Julian. Julian ist wichtig. Aber erst ... Er pflückt die erste // allein gegangen.«
Haukipettala zwinkert. Fühlt sich mit einem Mal schwer. Schnauft, um den Geruch aus der Nase zu bekommen. Schüttelt den Kopf, als könne er so das Gift der Sudenkorento loswerden. Er spürt den Blick seines Assistenten auf sich ruhen. Seine Stimme klingt hohl, als er spricht. »Was? Was haben Sie gesagt?«
»Ich sagte, ich wäre nicht allein gegangen.«
»Wohin?«
Smith rückt seine Brille zurecht, räuspert sich. »Sie erinnern sich nicht an unser Gespräch, oder?«
Haukipettala spürt kühlen Schweiß. An Rücken und Bauch. Kälte auch im Kopf. Eisiges Metall, das sein Bewusstsein tranchiert hat und dasselbe mit seinem Körper vorhat. »Was habe ich erzählt?«, fragt er.
Smith zögert, bevor er nicht antwortet: »Sie haben geflackert.«
»Geflackert?«
»Ja. Zweimal. Einmal gerade eben, zuvor vor einer Viertelstunde, kurz nachdem wir uns hier getroffen haben.«
»Was habe ich erzählt?«, fragt Haukipettala. Er will nicht über Flackern sprechen. Nicht über Beeren. Beeren? Was für Beeren? Er schluckt, sein Hals kratzt.
»Sie waren in der No-Go-Area.« Es klingt wie ein Vorwurf der Steuerhinterziehung oder des Falschparkens, nichts Schlimmes, man sollte sich nur nicht erwischen lassen.
Der Chef der Deutschland-Niederlassung nickt. »Ich erinnere mich.«
Smith zögert erneut, als wüsste er nicht, ob er seinem Boss ein Geheimnis offenbaren soll. »Sie haben dort eine Frau aufgesucht«, sagt er dann. »Es ging um deren Sohn.«
Haukipettala steht auf, muss sich an der Stuhllehne festhalten. Ja, er erinnert sich an Julian. Seine Mutter hat angerufen, weil er verschwunden ist. Sie hat nicht gewusst, an wen sie sich wenden soll. Er, Haukipettala, kenne doch viele Leute. Leute, die helfen können, ihren Sohn ... seinen Sohn ... zurückzuholen.
»Er ist verschwunden«, sagt Haukipettala zur erleuchteten Ruhrstadt hinter dem Fenster.
»Er ist gestochen worden.« Smith spricht es aus, und Haukipettala nickt. »Ich habe versprochen, ihn zu finden.«
»Und deshalb«, sagt Smith und seufzt, lehnt sich zurück in den knarrenden Stuhl, »haben Sie sich stechen lassen.«
Haukipettala reagiert nicht. Smith fragt sich, ob er schon halb woanders ist. Dort, wohin die Sudenkorento ihn verschwinden lassen. Ihn und all die anderen.
Der Mann am Fenster bewegt sich. Er zieht den Ärmel seines Hemdes über den Unterarm. »Ich werde ihn finden und zurückbringen«, sagt er. Dann flackert er. Smith zwinkert, klammert sich an die Tischkante, starrt seinen Chef an. Und dann das Fenster, vor dem niemand steht.
Er wartet eine Weile. Haukipettala kommt nicht zurück.
Nach einiger Zeit fängt Smith an, sinnlos den Tisch zu umkreisen. Als er sicher ist, dass sein Chef so schnell nicht wieder auftaucht, ruft er die Polizei an. Bevor er den Konferenzraum verlässt, fällt ihm das Handy auf, das auf dem Tisch liegt. Er zögert, dann nimmt er das Gerät in die Hand. In der Liste der gewählten Nummern ist die erste seine eigene. Darauf folgt eine, die mit 0209 beginnt. Gelsenkirchen. Smith überlegt nicht lange. Dann wählt er die Nummer, um der Frauenstimme in der Leitung zu erklären, dass der Vater ihres Kindes sich jetzt endgültig auf die Suche gemacht hat, aber sein Handy nicht mitnehmen konnte.
Er holt tief Luft, dann sagt er, ja, natürlich, er ruft wieder an, wenn er etwas von ihm hört.