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- 18.06.2015
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Sturm
Heiner Müller
Vera
Ich hab’ unter dem Baum gesessen, weil ich hab’ geweint, weil der Papa hat mit mir geschimpft, weil ich hab’ Kuchen genommen. Dort drüben war ich und hab’ geweint und niemand hat mich gesehen. Und dann ist der Wind gekommen, ganz fest und ich hab’ mich an den Baum gedrückt und es hat Hagel gegeben. - Weiss nicht. - Es hat das Zelt kaputt gemacht. Alle sind weg. In die Kirche, ganz schnell, und alle haben geschrien, so ganz laut. – Nein. Weiss nicht. Ich will zu Papa.
Vincent
Ich hatte die Fotos im Kasten und damit war mein Job getan. Danach stieg ich auf den kleinen Hügel da hinten. Ein solches Gewitter sieht man nicht alle Tage. Grandios. Zuerst die Wolken. Zersägte Gehirne. Schwarzer Blumenkohl. Kennen Sie Independence Day? Die Ufos schweben über den Städten und man weiss nicht, was die Aliens vorhaben? Etwa so. Das Licht war fantastisch. Als gäbe es zwei Sonnen, die sich zugleich verfinstern. – Ja, das Gewitter auch. Und nachdem alles vorüber war. Das Festzelt völlig zerfetzt. Der weisse Stoff im Matsch. Die Wiese übersät mit Hagelkörnern, dazwischen rote Pappteller. Kuchenstücke, angebissen und in Panik weggeworfen. Grandios.
Dann rannten auf einmal zwei Gestalten auf den Festplatz. Die suchen etwas, dachte ich mir, und ich habe mich gefragt, was es sein könnte. Muss was Wichtiges sein, dachte ich mir. – Ja, bevor sie ihn sahen. - Ein dunkles Bündel, unscharf und verschwommen. Es hatte sich in ein paar Ästen verfangen, die in den Fluss ragen. Ich zoomte. Kennen Sie Blow up? Etwa so. Das war schon krass. Sie können die Fotos gerne haben, wenn Sie möchten.
Erika
Eine furchtbare Tragödie. Aber es gab Vorzeichen. Ich habe in meinem Leben viele Katastrophen erlebt, das müssen Sie wissen, und stets gab es Vorzeichen. Vor jeder grossen Flut sind die Pottwale gestrandet, massige Menetekel, der grauenhafte Gestank liess keine Zweifel offen. Ich bin an der Küste aufgewachsen, müssen Sie wissen. – Heute? Schwarze Mückenschwärme, dicht über dem Boden und über dem Fluss, was sehr ungewöhnlich ist. Die Luft fühlte sich an wie ein heisser nasser Lappen auf dem Gesicht. Die Natur hielt inne und holte Atem für den grossen Befreiungsschlag. Wie oft habe ich erlebt, wie sich die Natur holt, was ihr gehört, wie sie mit ihrer Wucht unsere Zivilisation zersplittert und zerstört. Und heute war es wieder soweit.
Die Unglücksfamilie kenne ich nicht so gut, müssen Sie wissen. Aber dass das Kind alleine am Fluss spielen durfte, da fehlen mir die Worte. - Schreiben Sie das jetzt alles auf?
Hanspeter
Das Mädchen, das ich getauft habe, war äusserst ruhig. Normalerweise schreien sie ja, wenn das Wasser sie berührt, aber die kleine Jessica schaute mich bloss mit grossen Augen an und ich dachte mir, das sei ein ganz besonderes Kind.
Nach der Zeremonie gesellte ich mich zur Festgesellschaft, trank ein Glas Bowle. Ich unterhielt mich mit einigen Gästen über Politik und fallende Aktienkurse, über düstere Prognosen und mögliche Auswege. - Weshalb? Denken Sie, ich bete den ganzen Tag und die Welt sei mir egal?
Dann fielen die ersten Regentropfen. Rasch rückte die Front näher, die Pappeln, die sonst wie Lanzen in den Himmel ragen, krümmten sich, Hagelkörner schlugen ein. Wir rannten den Fluss entlang zurück zur Kirche, ich geriet in die Rosenbeete und die Dornen zerkratzten meine Beine.
Noch einmal davongekommen, dachten wir alle, als wir in der Kirche standen. Einige lachten. Doch auf einmal rief jemand: „Ich dachte, er sei bei dir!“ und wir ahnten, dass etwas nicht in Ordnung war.
Eine Wahrheit steht fest: Was immer ist, ist richtig. Und der Herr prüft uns in diesem Glauben. Gottes Taten sind zu gross, als dass wir Menschen sie verstehen könnten, aber vielleicht ist das gemeint: Trost sollen wir einander spenden in finsteren Zeiten, einander Halt geben, als Gemeinschaft stark sein.
Isabelle
Catering Le Canard. Französischen Spezialitäten. Aber nur zu verdienen ein bisschen Geld, weil ich bin Studentin, en réalité. Jahr von Austausch. - Je ne sais pas. Ist nicht die erste Gewitter gewesen seit Entstehung von die Welt. Ein bisschen von Wind. Der – le tente - war ein bisschen defekt. War nicht schlimm. Aber alle machen wie die Apocalypse. Alle rennen wie die Hühner. Tous les Hipsters mit die grosse iPhone. Chez nous wir würden tanzen in die Regen in diese Situation. – Unfall? Il y a eu un accident? Mon dieu!
Nick
Der arme Julian. Da kriegt er dieses süsse Mädchen und macht ein grosses Fest, alle fröhlich und so und dann stirbt ein Kind. Hat ja niemand gewusst, dass die überhaupt eingeladen waren, die Eltern. Ich meine, so unter uns, die machen es einem nicht gerade einfach, sie zu mögen. - Nicht, dass Sie jetzt meinen, ich... Das ist natürlich sehr, sehr traurig. Ich stehe noch immer unter Schock, das können Sie mir glauben.
Sie müssen sich das mal vorstellen. Wir stehen alle am Flussufer und sehen zu, wie der Vater seinen Jungen beatmet, und können nichts tun. Der Kleine sah aus, als sei er aus Wachs, die Haut war so ganz grau. Der Vater hat nicht aufgehört mit dem Beatmen, ich meine, mir war klar, dass das nichts mehr bringt, aber da geht man ja nicht hin und sagt, er solle es sein lassen. Schliesslich kam dann die Ambulanz.
Eine wirklich furchtbare Geschichte. Für mich war es ja auch schlimm. Ich habe die ganze Zeit über nicht gewusst, wo meine Tochter ist. – Wie? Ach so. Klar. Ich rufe sie.
Vera
Ich hab’ gesehen, also es ist der Hagel gekommen und alle sind gerannt. So alle zusammen. Ich hab’ gesehen, die sind voll in den kleinen Bub gerannt. Und dann ist er umgefallen. Und dann ist er in den Fluss gefallen, so platsch, und niemand hat es gemerkt. Und dann hab’ ich die Augen ganz fest zugemacht. Weil ich hab’ Angst gehabt, der Bub kann nicht schwimmen. Der ist noch ganz klein, der Bub. Dann hab’ ich gewartet und ich hab’ nicht mehr hingesehen und ich hab’ noch mehr weinen müssen und plötzlich ist der Papa gekommen. Er war nicht mehr böse. Er hat mich ganz fest gedrückt, der Papa.