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Stunden des Todes
Ein Uhr nachts
Der Tod wirft einen Blick auf die Liste und schüttelt unwillig den Kopf. So viele! Und jeder für sich allein! Er ist lustlos und träge, des immer härter werdenden Kampfes müde.
Und macht sich auf. Um diejenigen aufzustöbern, deren Uhr abgelaufen ist, bedarf er weder Anschrift noch Wegbeschreibung. Er liest den Namen und schon ist er dort.
Zuerst eine spärlich beleuchtete Gasse. Die Rückseite der bunt schillernden Einkaufsmeile. Hinter einigen überquellenden Mülltonnen hockt ein Mann inmitten einiger leerer Flaschen. Sein Gesicht ist aufgequollen und fleckig. Er schwimmt im Nebel der Trunkenheit. Er trägt einen gefütterten Anorak über einem ausgefransten Pullover. Seine Habseligkeiten verwahrt er in einer Plastiktüte. Das abgegriffene Foto in seiner Hand zeigt zwei kleine Mädchen mit dunklen Locken – so sahen sie aus, als der Mann noch mit ihnen und ihrer Mutter in einem schmucken Haus am Stadtrand wohnte. Sie hielten sich für eine glückliche Familie. Der Mann verdiente gut, er arbeitete hart. Die Anforderungen stiegen, und ebenso die Ansprüche und Wünsche von Frau und Kindern. Er arbeitete härter und länger, damit das Glück erhalten blieb. Auf die Dauer hielt er dem Druck nicht stand, er suchte Hilfe im Alkohol. „Soll das ein Glück gewesen sein“, denkt der Tod. Eine leichte Berührung genügt, und die Seele befreit sich aus dem zugrunde gerichteten Körper.
Zwei Uhr nachts
Der Tod steht an der Landstraße. Zwei mit jungen Leuten besetzte Autos nähern sich in atemberaubendem Tempo. Der rote Wagen überholt den schwarzen, dieser beschleunigt und holt auf, die Reifen quietschen, aus den offenen Fenstern brüllt Musik. Mit einem Satz sitzt der Tod im roten Auto. Der Fahrer, ein blonder Junge mit druckfrischem Führerschein bemerkt ihn nicht, ebenso wenig die übrigen Insassen, die ihn übermütig anfeuern, zwei junge Frauen, knapp dem Schulalter entwachsen und ein kaum älterer Junge. Sie wollen das Leben genießen, Spaß haben. Aufgekratzt durch die Musik in der Disco und diverse Getränke fühlen sie sich aller Realität enthoben. Sie fahren um die Wette, als sei es ein Spiel, wissen nicht, dass der Sieger Tod heißt. Erst als beide Wagen auf gleicher Höhe sind und die Kurve kommt, gewahren sie ihn, den endlosen Augenblick lang, während das rote Auto durch die Luft schleudert und gegen den Baum prallt. Der Tod nimmt den blonden Jungen mit, die schwer verletzte Beifahrerin wird in einigen Tagen an der Reihe sein.
Drei Uhr nachts
Um diese Zeit fällt den meisten Menschen der Übergang vom Leben in den Tod am leichtesten. Vielleicht lockern sich zu jener Stunde die Wurzeln, die sie an das Irdische flechten, und sie geraten in den kühlen Sog der Unendlichkeit. Der Tod schreitet durch den hell erleuchteten Krankenhausflur und betritt den Raum, wo die ihm geweihte Kranke an Schläuchen und Kabeln hängt. Ein Arzt und eine Pflegerin registrieren sofort die Veränderung, die seine Nähe in der Frau bewirkt. Der Tod beobachtet, wie seine Gegner hektische Aktivität entwickeln, spritzen, massieren, beatmen, all ihre Waffen einsetzen. Dieses Gefecht wird lange dauern, zumal die Kranke nicht gewillt ist, sich ihrem Schicksal zu ergeben. Mit eisiger Hand setzt er ihr zu, der Kampf wird heftiger, Minuten verrinnen, schließlich ist es der Tod müde. Sollen sie an ihren Sieg glauben – er wird wieder kommen, seine Feinde wissen es. Er streicht durch die Krankenzimmer; ein Säugling leistet keinen Widerstand, er steht zwar nicht auf der Liste, aber es sind ohnehin nur wenige Tage, die er noch leben dürfte. Gut, jetzt stimmt die Anzahl der Seelen. Ein Notfall wird eingeliefert, ein junger Mann mit Schädelverletzung, auch er lässt seine Seele fahren. Die junge Frau, die ihn begleitet, hofft verzweifelt. Der Tod kümmert sich nicht um Mütter, Väter, Kinder oder Gefährten der Toten, er darf keine Rücksicht üben, kein Mitleid empfinden. Er weiß von Trauer, Verlassenheit und Leid. Wenn er sein Opfer ansieht, offenbaren sich ihm Leben, Charakter, Gefühle des Sterbenden.
vier Uhr morgens
Der Tod steht an der Autobahn. Der LKW nähert sich rasch. Der Fahrer bemerkt den Motorradfahrer, der kurz vor ihm einschert viel zu spät.
neun Uhr morgens
„Möchten Sie etwas gegen die Schmerzen?“, fragt die Pflegerin. „Nein“, haucht die Frau. Die Schmerzen verhindern, dass sie einschläft, und das darf sie auf keinen Fall. Die Ärzte sagen, sie können nichts mehr für sie tun. Sie haben die Frau in ein freundliches Zimmer verlegt. Vom Bett aus sieht sie den Himmel. Sie beobachtet die Wolken und träumt, auf einer von ihnen zu schweben. Die Augen fallen ihr zu. Da fühlt sie den Tod. Mühevoll richtet sie sich auf. „Nein, ich will nicht sterben, noch lange nicht“, flüstert sie. „Ich muss durchhalten, bis mein Enkel groß ist.“ „Viele glauben, sie hätten wichtige Gründe. Kein Mensch ist unentbehrlich.“ „Das Kind hat nur mich. Ich flehe dich an, schenke mir noch einige Jahre!“ „Ich bin nicht befugt, dir Aufschub zu geben.“ „Ich kann und werde den Kleinen nicht verlassen - er hat sonst niemand auf der Welt, der ihn liebt!“ „Dennoch gehörst du mir." "Noch nicht!" "Du hast dich lange gewehrt, nun sind deine Kräfte aufgezehrt. Du möchtest dich endlich fallen lassen, ohne Qualen sein, schlafen“, säuselt der Tod. Die Frau zieht sich hoch, sitzt aufrecht. „Nein! Ich bleibe wach! Schmerzen hin oder her!“ Der Tod geduldet sich. Sie kämpft. Sagt wahllos Gebete auf. Redet mit ihrem Enkelsohn. Eine Schwester öffnet die Türe. „Haben Sie gerufen? - Oh, Sie sehen ein wenig besser aus! Vielleicht essen Sie heute mal ein bisschen Suppe?“ „Ja!“, ächzt die Frau. „Bringen Sie mir Suppe!“ Erschöpft sinkt sie zurück. Der Tod setzt ihr wieder zu. „Ich bin noch nicht soweit! Bitte verschone mich!“ Sie stemmt sich hoch. „Man sagt dir nach, du kannst auch gnädig sein.“ „Geschwätz“, knurrt der Tod. „Irgendwann komme ich wieder.“
drei Uhr nachmittags
Der Tod betritt die Villa am Stadtrand. Vor dem Schlafzimmer des Besitzers haben sich seine jüngeren Geschwister eingefunden, um Abschied zu nehmen. „Wo ist eigentlich der blöde Köter?“, erkundigt sich der Bruder. „Bei ihm natürlich. Er weicht ihm ja kaum von der Seite.“ Ungeduldig treten die beiden von einem Bein aufs andere. „Mal sehen, ob es diesmal ernst ist. Sein Dahinscheiden zieht sich verdammt lange hin.“, murmelt der Bruder. „Du kannst wohl nicht erwarten, das Erbe anzutreten“, faucht die Schwester. „Je früher, desto besser. Damit ich noch was davon habe. Schließlich bin ich auch nicht mehr der Jüngste.“ „Du bist kein Haar besser als er. Von mir aus kannst du das Haus gerne haben. Mir reicht etwas Geld.“, murmelt die Schwester. Die Pflegerin des Kranken schiebt den Hund aus dem Schlafzimmer. „Ich glaube, er muss mal raus“, sagt sie. Sie können jetzt hinein.“ Der Tod steht an der Treppe. Der Schäferhund bleibt vor der Türe stehen. Er weicht nicht vom Fleck, lässt den Mann nicht ins Zimmer. Verärgert tritt dieser nach ihm. Das Tier springt auf ihn zu. Der Mann weicht zurück. Der Hund ist kräftig. Der Mann verliert das Gleichgewicht, stürzt rückwärts die Treppe hinunter und rührt sich nicht mehr. „Irren ist menschlich“, sagt der Tod.
sechs Uhr abends
Es kommt nicht oft vor, dass ihn jemand wahrnimmt, den er nicht im Visier hat. Die Mutter am Bett ihrer kleinen Tochter tut es. „Geh weg!“ Sie legt ihre Arme um das Kind und zieht es an sich. „Du darfst jetzt nicht schlafen, mein kleiner Schatz. Du musst wach bleiben, sonst ist die Mama ganz traurig. Nur noch ein bisschen!“ Sie summt ein lustiges Kinderlied. Das Mädchen fühlt den Tod ebenfalls. Sie fürchtet ihn nicht, sie ist müde und möchte nur schlafen. Aber die Mutter weint, sobald sie die Augen schließt. „Nein! Ich gebe nicht auf! Sie gehört dir nicht! Sie hat noch ihr ganzes Leben vor sich. Hab Erbarmen!“ Der Tod greift nur äußerst selten zu seinen Hilfsmitteln. Er braucht sie nicht. Doch hin und wieder fällt ihm seine Arbeit damit leichter. „Sieh, was sie erwartet, wenn ich deinen Wunsch erfülle!“, raunt er der angstvoll Bangenden zu. Ein Bild steigt vor ihren Augen auf: Ein heller Raum, in einem Bett die Tochter, ein paar Jahre älter. Sie verzerrt ihr eingefallenes Gesicht, ihr ausgezehrte Körper windet sich vor Schmerzen. Die schreckliche Vision verblasst. „Ist es das, was du willst?“ Sie blickt in das blasse Antlitz. „Mama“, flüstert die Kleine. „Ich bin so müde.“ Weinend drückt sie das Kind. „So schlaf, meine Kleine.“
acht Uhr abends
Am Fluss steht eine junge Frau. Die Pappeln zeichnen sich dunkel vor dem weißen Himmel ab, der letzte Tagesschein erreicht den Fluss nicht mehr. Schwarz und schwer wälzt er sich durch das Tal. Tiefe Traurigkeit erfüllt sie, ihre Gedanken drehen sich im Kreise, immer wieder warum - warum ist er gegangen? – Waren sie nicht glücklich? Hat sie nicht alles darangesetzt, sich diese Liebe zu sichern? Sie wollte nichts anderes, nur ihn, seine Aufmerksamkeit, seine Liebe. Hat sie nicht alles mitgemacht, die Verrücktheiten, die ihr manchmal Angst machten? Alles erscheint sinnlos und grau. Keine Hoffnung, keine Freude. Sie wünscht sich fort aus dieser Welt. Nie mehr in all dem Kummer erwachen. Der Tod seufzt. Selbstmörder gehen ihm gegen den Strich. Warum glauben sie, dass sie den ersehnten Frieden finden, wenn sie ihrem Leben ein Ende setzen? Sie stehen mit Fragezeichen auf seiner Liste. Sie rufen ihn, aber dann überkommt sie Panik. Die Frau betritt den Bootssteg. „Ertrinken ist kein schneller, schöner Tod!“, unterbricht er die Leier in ihrem Kopf. Sie will nicht hören, geht den Bootsteig entlang. Als er endet, geht sie einfach weiter. Sie versinkt in den Fluten. Der Tod wartet. Ein Schiff gleitet vorbei. Sie taucht auf und schlägt mit den Armen wild um sich, versucht ans Ufer zu schwimmen. Die Wellen erfassen sie und spülen sie an die Böschung. Gut. Der Tod wendet sich ab. Im Krankenhaus gilt es noch einen Kampf auszutragen.
elf Uhr nachts
Eine zum Labor umfunktionierte Küche. Der Mann sitzt auf einem Hocker. Sein Atem geht mühsam. Mit weit aufgerissenen Augen starrt er den Tod an. „Bald weiß ich mehr über dich! Ich kann dich jetzt schon sehen“, keucht er. „Du siehst bloß das, was du dir einbildest“, sagt der Tod. „Meine Droge funktioniert immer besser. Ich habe die Dosis minimal erhöht. Je weniger mein Herz arbeitet, desto schärfer nehme ich alles wahr. Ich dokumentiere meine Versuche akribisch. Die Veröffentlichung wird ganz neue Perspektiven für Medizin und Wissenschaft eröffnen. Bald löse ich das Geheimnis, was die Grenze zwischen Leben und Tod ist!“ Der Tod lacht höhnisch. „Das erfährst du noch heute. Aber du wirst nicht darüber schreiben. Zu oft hast du mich mit deinen albernen Experimenten heraus gefordert. Heute hast du dich zu weit vorgewagt. Spürst du, wie mühsam dein Herz gegen das Gift ankämpft? In wenigen Minuten ist es erschöpft.“ „Halt ein!“ Er kann es nur denken, er bringt keinen Ton mehr heraus. Das fanatische Leuchten seiner Augen erlischt.