Stunden des Grauens
Ich war nicht gerne alleine in unserem großen Haus. In dem alten, verwinkelten Urgestein, dass noch vor dem ersten Weltkrieg gebaut wurde und seitdem unzählige Male renoviert wurde. Ich hasste es regelrecht. Es war erstens viel zu groß, zweitens dunkel und muffig und durch die kleinen Fensterchen verirrte sich selten ein Sonnenstrahl.
Wie gesagt, ich war nicht gerne alleine in diesem schrecklichen Haus.
Und ich war oft alleine.
Mein Mann, ein ehrgeiziger Diplom-Ingenieur, war mehr in Asien zu Hause als bei mir und unsere gerade mal sieben Monate alten Tochter Jennifer.
Ich hasste dieses Leben. Drei Wochen war er bei uns und schon schickte ihn seine Firma nach Singapur, Hongkong oder New York. Ich hatte es satt. Ich hatte dieses sprunghafte Leben satt, ich hatte das Handy meines Mannes satt, dass uns selbst in den schönsten Momenten störte (falls es denn mal zu diesen schönen Momenten kam) und ich konnte die ständigen Entschuldigungen meines Mannes nicht mehr hören. Ich wusste, dass ich ihm unrecht tat. Er konnte schließlich nichts dafür, aber mittlerweile machte ich ihn dafür verantwortlich und überhäufte ihn mit Vorwürfen.
Ich hatte es satt. Endgültig. Ich sah mich schon, wie ich ihn aus dem Haus schmiss; so richtig filmreif mit dramatischer Geste, seine Klamotten in hohem Bogen auf der Straße landend. Und ich? Mitleidig lächelnd auf dem Balkon stehend, würdevoll, unnahbar.
Aber ich wusste, dass ich das niemals in die Tat umsetzen würde.
Aus drei ganz einfachen Gründen: erstens wusste ich tief in meinem Herzen, dass mein Mann nur seinen verdammten Job machte. Zweitens war da unsere Tochter, die ihren Papa brauchte und Drittens war da die nicht zu übersehende Tatsache, dass ich meinen Mann über alles liebte. Ja verdammt, ich liebte ihn mehr als mein Leben.
Ich seufzte und hob zum bestimmt zehnten Mal den rosa Beißring hoch, den Jennifer von ihrem erst kürzlich erworbenen Hochstuhl auf den Küchenboden warf. Dabei lachte sie mich mit ihrem zwei-zahn-Mund schelmisch an.
"Du hast Recht, Maus. Mami hat Langeweile, sie muss auch den ganzen Tag nichts anderes machen, als sich mit Dir zu beschäftigen, nicht wahr?" Ich stupste ihr auf die Nase und sie quietschte.
Es war Sonntag Mittag und mein Mann Tom saß seit genau zwei Stunden im Flieger der Singapur Airlines. In zwei Wochen sollte er wiederkommen.
Ich räumte die Küche auf und warf einen kurzen Blick aus dem Fenster. Draußen war es dunkel, der Himmel hang voller bleischwerer Wolken, aus denen es wie aus Kübeln goss. Die mächtigen Kastanien, die unser Haus wie eine beschützende Armee einrahmten, schwankten im Wind. Ihre knorrigen Äste ragten wie warnende Arme in den Himmel. Schaurig. Ich unterdrückte ein unwohles Gefühl, dass sich meiner bemächtigen wollte und machte mehr Licht an. Aber das klamme Gefühl ließ sich von dem hellen Licht in der Küche nicht verscheuchen.
Plötzlich ertönte ein lautes Scheppern, das von der Terrasse aus zu kommen schien. Ich zuckte zusammen. Ich war mehr als ein Angsthase. Ich konnte noch nicht einmal einen Horrorfilm schauen, ohne daraufhin die ganze Nacht Licht brennen zu lassen. Schrecklich.
"Jetzt stell dich nicht so an, Miss Laura Schumann." schimpfte ich mich selbst aus. Vielleicht hoffte ich, mir dadurch Mut einzureden, wer weiß. Ich ließ Jennifer in ihrem Hochstuhl und lief ins Wohnzimmer. Vorsichtig spähte ich durch die Terrassentür in den düsteren Garten hinaus. Mein Gott, wie konnte es am hellichten Tage nur so dunkel sein. Verrückt.
Was war das bloß für ein Scheppern gewesen? Ich musste es wissen. Schnell öffnete ich die Tür, trat hinaus in die Kälte und ließ meinen Blick über die Terrasse schweifen, die sich an zwei Seiten an der Hauswand entlangwand. Ich sah nichts. Die Blumenkübel standen unversehrt aufgereiht an ihrem Platz, die vielen Steinfiguren und Gartenzwerge ebenfalls.
Es donnerte. Erschreckt zuckte ich zusammen. Ein heller Blitzstrahl fuhr den Horizont entlang. Ich fing an zu frösteln. Mein T-Shirt war schon fast völlig durchnässt. Kurz erwog ich, zurück zu meiner Tochter zu gehen, doch dann entschloss ich mich, noch kurz um die Ecke zu gehen, um zu sehen, ob auf diesem Teil der Terrasse alles in Ordnung war. Im Laufschritt eilte ich über die pitschnassen Steine. Regenwasser lief mir in kleinen Rinnsalen über die Stirn und in die Augen. Mit einer unwirschen Handbewegung wischte ich es weg. Die Kastanien wogten und ächzten und als ich in den hinteren Teil des Gartens blickte, überlief mich beim Anblick der dichten, verwachsenen Sträucher und Büsche eine Gänsehaut. War dort nicht etwas? Bewegte sich dort nicht was? Ich zwinkerte und strengte meine Augen an, um das Dunkel zu durchdringen. Plötzlich zeichnete sich ein Schatten ab und sprang auf mich zu. Ich schrie auf. Meine Muskeln spannten sich an, voller Angst zuckte ich zurück.
Doch es war nur eine Katze, die schnell durch den Zaun verschwand.
"Verdammte Katze." schrie ich. Ich war nicht nur wütend auf die Katze, sondern vor allem auf mich, die gleich bei jedem Bisschen Schiss bekam. Wütend suchte ich noch schnell die Terrasse ab und sah tatsächlich die Quelle meiner Ängste. Ein Keramiktopf mit Stiefmütterchen, der bislang auf dem Fenstersims stand, muss wohl bei dem Sturm heruntergeweht worden sein. Nun lag er zerbrochen auf dem Boden. Meine Güte, und wegen so einer Lappalie bekam ich Angst. Ein Glucksen stieg in meiner Kehle auf. Ich Angsthase. Wenn Tom das erfuhr, würde er sich vor Lachen kaum noch halten können.
"Das kann bis morgen warten." sagte ich laut zu mir selbst. Ich machte kehrt und lief wieder zurück. Mittlerweile war ich pitschenass und ich fror.
Im Wohnzimmer schlüpfte ich schnell aus meinen durchweichten Turnschuhen, schloss die Terrassentür und lief auf Socken in die Küche zurück.
Meine Tochter saß aufrecht in ihrem Stühlchen, die Händchen um ihren Beißring geklammert und sah mich aus ihren großen, babyblauen Augen an.
"Na, mein Mädchen? Da hat dich die Mami aber lange alleine gelassen, hmm?" Ich nahm sie hoch und sie schmiegte sich an mich. Sie roch so gut. Nach getrockneter Milch und Baby.
"Hmm, du riechst sooo gut, mein Schatz." Doch dann wehte mir ein anderer Geruch in die Nase.
"Ooh, ich glaube, da muss jemand gewickelt werden"
Das Kinderzimmer, unser Schlafzimmer und Badezimmer lagen im ersten Stock und ich stieg die ausgetretenen Stufen hoch. Es knarrzte und ächzte im Gebälk. Jahrzehnte altes Holz schien ein Eigenleben entwickelt zu haben. Es atmete, stöhnte, knarrte. Tom lag mir schon seit Jahren in den Ohren, wir sollten doch die Treppe neu machen lassen; Buche, hell. Aber ich war strikt dagegen. Es kostete so viel. Ich wollte lieber von unserem Geld schöne Urlaube machen, sparen oder es für unsere Kleine ausgeben.
Im Kinderzimmer angekommen, legte ich Jennifer behutsam auf den Wickeltisch und begann mein Werk. Sie liebte diese Pflegeprozedur erstaunlicherweise. Wo andere Babies quengelten und weinten, lachte sie, brabbelte das Mobile an oder lutschte an ihrer Gummiente. So auch jetzt. Sie hatte sich wieder einmal die Ente geschnappt und erzählte, die Ente halb in ihrem Mund, vor sich hin. Ich sah sie liebevoll an.
Die Stimmung änderte sich so plötzlich, dass ich es zuerst nicht wahrnahm. Es war auf einmal ruhig. Kein Laut durchbrach die Stille. Ich versteifte mich. Aber ich wusste nicht, was mein Unbehagen verursachte. Als ich meine Tochter ansah, wusste ich es. Es traf mich wie ein Blitz. Meine Tochter hatte in ihrer Bewegung innegehalten und sah starr an mir vorbei. Irgendwo hinter mir fixierte sie einen Punkt.
Was sollte ich tun? Mich umdrehen? Ich hatte Angst davor, was ich sehen würde. Wen ich sehen würde.
Mein Atem stockte, mein Herz schlug fest in meinem Brustkorb. Er schien mir zu eng geworden zu sein.
Ich drehte mich um, wortlos.
Er stand nur einen Meter hinter mir. Er grinste, seine gelben Zähne standen krumm und schief in seinem Mund. Ich weiß nicht, wieso mir dieses unwichtige Detail zuerst auffiel.
Ich konnte nichts sagen, stand einfach nur da. In irgendwelchen Filmen griffen sich mutige Hausfrauen spontan und ohne zu zögern eine Vase, ein Küchenmesser oder einen Baseballschläger. Aber ich tat nichts. Ich konnte nicht. Ich spürte bloß eine alles verschlingende, lähmende Angst, eine Eisenklammer, die sich fest um mein Herz gelegt hatte.
"Willst du nicht Guten Tag sagen, Puppe?" Die Stimme des Mannes klang ölig, belegt.
Mit einer raschen Bewegung, die mir vor Sekunden noch undenkbar schien, schnellte ich auf dem Absatz herum und riss meine Tochter an mich. Der Mann lachte.
"Oh, Puppe, has`wohl Muttergefühle, wa?" Er griff sich in die rechte Parkerjacke, die schmuddelig an seinem Körper hing und zog ein Messer heraus.
Mein Gott, gerade noch war er unbewaffnet gewesen und ich hatte nichts Besseres zu tun, als abzuwarten, bis er sich bewaffnete. Scheiße, das konnte doch nicht wahr sein. Das war ein Alptraum. Es konnte doch unmöglich Realität sein.
"Bitte, tun sie uns nichts." flüsterte ich. "Tun sie bitte meiner Tochter nichts. Sie ist noch ein Baby."
Er lachte, doch es klang eher, wie das Meckern einer kranken Ziege.
"Mensch, Puppe, entspann dich doch. Wir sind doch alle hier zu Haus, he? Dachte mir, ich machs mir hier bei euch gemütlich. Ist doch groß genug, he?"
Ich nahm all meinen Mut zusammen.
"Mein Mann kommt gleich nach Hause. Er ist bei seiner Schwester und kommt gleich wieder. Wenn ich sie wäre, würde ich lieber schnell verschwinden." sagte ich fest.
"Ach. Da hab ich jetzt aber Angst. Huuuh!" Er fuchtelte mit seinen Armen in der Luft herum, das Messer blitzte im Schein der Kinderzimmerlampe.
Abrupt hörte er auf. "Wenn ich mich nich irre, isser gerade im Flugzeug. Glaube, er kommt erst in zwei Wochen wieder. Wir haben also jede Menge Zeit, Puppe."
Er streckte sich wohlig, ließ mich aber nicht aus den Augen. Mir fuhr es eiskalt den Rücken herunter. Er wusste bescheid, musste sich informiert haben. Oh, Gott, wie sollte ich da herauskommen. Um mein Leben hatte ich in diesem Moment weniger Angst, aber wenn ich an Jenny dachte, wurde mir schlecht.
"Ich kann ihnen Geld geben. Wir haben einen Tresor, ich könnte..."
"Halts Maul." Mit einem Schritt war er bei mir und packte mich grob am Arm. Dann zerrte er mich aus dem Zimmer. Jennifer fing an zu weinen.
"Wo ist denn Euer Keller?" fragte der Mann.
"Wa...was...?" stotterte ich und sah ihn ängstlich an.
"Wo der Keller is! Kannste nich antworten?"
"Dort,...dort die Tür."
Er packte mich noch fester und stieß mich fast die Treppe hinunter. Nur mit Mühe konnte ich mein Gleichgewicht halten. Allmählich wurde die Kleine auf meinem Arm außerdem ganz schön schwer.
Unten angekommen, fing er an, in unseren Werkzeugkisten und Regalen herumzuwühlen. Es schepperte ohrenbetäubend, als er mit einem Tritt das Blechregal umwarf. Er war wütend, offenbar fand er nicht, was er suchte.
Schnell dachte ich nach. Besser, ich fragte ihn, was er brauchte, als dass er noch wütender wurde und eventuell seine Wut an uns ausließ.
"Ähm,...was suchen sie denn?" fragte ich vorsichtig.
"Seil, Paketband...irgendsowas, verdammt." knurrte er.
Ich schluckte. Das also. Sollte ich es ihm geben und mich damit sozusagen selber fesseln?
Drohend kam er auf mich zu.
"Besser, du sagst, wo ich so was finde, oder ich tu der da weh." Damit zeigte er auf mein Baby.
"Nein! Da hinten, in der Kiste." Ich deutete panisch in die Ecke.
"Na, also. Geht doch, Schätzchen."
Als er die Paketschnur gefunden hatte, gingen wir wieder nach oben. Er ging hinter mir. Plötzlich fühlte ich, wie er nach meinem Hintern grabschte. Ich fuhr erschrocken und wütend zu ihm um.
"He? Das magst du, was?" Ich funkelte ihn an, doch er stieß mich grob weiter.
"In die Küche. Hab Kohldampf. Und die Kleine da legst du einfach auf den Boden."
Gott sei dank, lag in jedem Zimmer bei uns eine Spieldecke auf dem Fußboden, so dass ich sie überall hin mitnehmen konnte, ohne gleich den Umzug aus Jerusalem zu organisieren. Behutsam legte ich mein Baby auf die weiche Decke, gab ihr einen Schnuller und ihr Lieblingsstofftier. Hoffentlich blieb sie ruhig.
"Setz dich." Mit wenigen Handgriffen hatte er mich Minuten später an den Stuhl gefesselt. Dann riss er sämtliche Schränke auf und wühlte darin herum. Er schmiss Mehltüten heraus, zerschepperte Geschirr auf den Fliesen, schmiss Essig- und Ölflaschen an die gegenüberliegende Wand. Ich verspürte Angst. Angst um meine Tochter, Angst um mich. Der Kerl war zu allem fähig, fuhr mir durch den Kopf. Er war wahnsinnig, womöglich brutal.
Jetzt riss er den Kühlschrank auf und holte eine Dose Bier heraus. Mit einem Grinsen stach er mit seinem Messer hinein und hielt sich die sprudelnde Dose über das Gesicht.
Das Bier lief über seine fettigen Haare, sein unrasiertes Gesicht und über seine Kleidung. Unter seinem Parker, den er mittlerweile ausgezogen hatte, trug er nur ein olivgrünes, eng anliegendes T-Shirt.
"Kein schlechter Geschmack, Süße."
"Was wollen sie eigentlich hier? Wenn sie stehlen wollen, bitte, bedienen sie sich. Aber hauen sie endlich ab. " Die letzten Worte hatte ich geschrien.
Ich atmete stoßweise, der Schweiß lief mir den Rücken hinab. Plötzlich wurde mir unangenehm bewusst, dass ich mich ja noch gar nicht umgezogen hatte, nach meiner Regenbegegnung. Mein T-Shirt klebte mir immer noch nass und kalt am Körper. Wenn ich nicht umgebracht wurde, starb ich garantiert an einer Lungenentzündung. Klasse. Woher ich diesen zynischen, humorigen Gedanken nahm, war mir schleierhaft. Ich warf einen Blick zu Jennifer. Bis jetzt blieb sie ruhig, sah dem Mann interessiert zu. Wie lange wohl noch?
Jetzt schlurfte dieser zu mir rüber. Er beugte sich dicht zu mir hinunter, fuhr mir über mein Gesicht. Ich zuckte zusammen. Ein Ekel erregender Geruch nach abgestandenem Schweiß, Tabak und Bier stieg mir in die Nase. Übelkeit stieg in mir auf.
"So, Süße, jetzt amüsieren wir uns mal ein bisschen, he?" Er grabschte nach meiner Brust und knetete sie fest. Es tat weh. Mit einem Ruck zerriss er mein T-Shirt, ich war völlig wehrlos, meine Hände hinter meinem Rücken schmerzhaft zusammengebunden.
Ich strampelte, doch mit einem geübten Griff riss er mir auch meine Jogginghose von den Hüften. Fest trat ich mit meinem Fuß nach seinem Genitalbereich, doch ich traf nur seinen Bauch. Trotzdem fuhr er stöhnend zusammen. "Du elende Hure, du." zischte er. "Dir werde ich noch Manieren beibringen.
"Ich konnte nur noch "Nicht vor meiner Tochter." rufen, als ich auch schon bewusstlos geschlagen wurde. Der Rest blieb mir Gott sei dank erspart.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich zusammengerollt und nackt auf dem Fußboden im Schlafzimmer, mit den Händen ans Bett gefesselt. Ich spürte einen stechend scharfen Schmerz zwischen meinen Beinen. Was...? Mit einem Schrei fuhr ich hoch.
"Jennifer?!"
Jemand rülpste. Der Kerl lag auf unserem Bett und stopfte sich mit Chipsen und Bier voll. Mir wurde übel.
"Wo ist meine Tochter, Mistkerl?"
"Keine Angst, Puppe, Deiner Kleinen geht`s gut." Und er zeigte mit dem Finger hinter mich. Ich rollte mich auf die andere Seite. Dort lag sie, leise vor sich hinschmatzend auf einem großen Kissen. Dankbar atmete ich aus. Sie sah glücklich und zufrieden aus. Anscheinend hatte er ihr nichts getan.
"Danke, dass sie meiner Tochter nichts getan haben." flüsterte ich.
Er fixierte mich. "Bin kein Kinderschänder, klar?"
"Klar." murmelte ich.
"Ich muss ihr aber was zu Trinken geben. Sie hat bestimmt Hunger und..."
"Hab ihr Brei gegeben. Gerade, vor einer halben Stunde oder so."
"Bitte?" Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Der brach hier ein, überwältigte und vergewaltigte mich und dann fütterte er Jennifer?
"Na, bin ja kein Unmensch. Hab außerdem selber vier kleine Geschwister. Musste das früher manchmal auch ma machen. Kenn mich aus, weisse?"
Sprachlos starrte ich ihn an. Ich musste hier raus. Auf der Stelle. Sollte ich um Hilfe rufen? Zwecklos, um uns herum wohnte niemand. Sollte ich versuchen, meine Hände freizubekommen, wenn er einschlief? Unwahrscheinlich, so etwas funktionierte nur im Film. Wäre es möglich, an unser Telefon zu kommen? Die Basisstation lag unten im Wohnzimmer...
Meine Gedanken schweiften zu Tom. Er musste doch mal anrufen! Und wenn ich nicht ans Telefon gehen konnte, würde er sich Sorgen machen, zu Recht denken, dass etwas nicht stimmte und meine Eltern (Ach, Mist, die waren ja im Urlaub) oder Nachbarn zu uns schicken. Genau, super.
"Wie sind sie eigentlich reingekommen?" fragte ich.
Er grunzte.
"Hab nen bisschen Lärm draußen gemacht, du bist ja auch gleich raus gelaufen gekommen und dann bin ich, schwups, reinmarschiert. Hast ja die Terrassentür offen gelassen, Süße."
Scheiße. Also hatte ich ihn auch noch rein gelassen. Aber wer konnte auch so was ahnen?
Das Piepen des Telefons zerriss die aufgekommene Stille. Ich hielt unbewusst den Atem an.
Der Kerl sprang vom Bett. Es war Montag halb vier Uhr. Um diese Zeit war ich eigentlich immer zu Hause, da ich da immer erst gerade mit dem Nachmittagsbrei und dem anschließenden Wickeln fertig war. Tom musste sich also wundern, wenn ich nicht dranging.
"Hier, Süße." grunzte der Kerl und hielt mir den Hörer ans Ohr.
"Was?"
Ich glotzte ihn an.
"Wenn du nur ein falsches Wort sagst, schneid ich dir die Kehle durch, kapiert?" Er trat hinter mich, packte mich an den Haaren und drückte mir sein Messer an den Hals. Mist, mein Plan ging nicht auf.
Mit einem Knopfdruck nahm ich das Gespräch an.
"Ha...Hallo?" Ich räusperte mich.
"Schatz? Hallo. Ich bin`s. Wollte mal so hören, wie es euch geht."
Ich schluckte. "Ganz gut so weit."
"Hör mal, warum ich anrufe, ich bin jetzt in New York und..."
"New York?"
"Ja, deswegen rufe ich ja an. Es hat sich kurz vor meinem Abflug eine Änderung ergeben. Die Singapur Broadcasting Network Company hat...ach, das kann ich dir ja erzählen, wenn ich wieder zu Hause bin. Naja, jedenfalls wollte ich dir nur sagen, dass es leider mit den zwei Wochen nicht klappen wird, Schatz. Ich bin da an einer ganz heißen Sache dran. Wenn ich nach drei Wochen...."
Unbewusst stöhnte ich auf. Meine ganze Anspannung, die Angst der letzten sechzehn Stunden entlud sich in einem einzigen Schmerzenslaut. Drei Wochen.
Das Messer drückte fester an meine Kehle.
"Schatz? Was ist los? Hast du was?" Tom klang besorgt.
"Ich..."
Ich spürte, wie sich die Klinge warnend in meine Haut einritzte. Ein Tropfen Blut rann mir den Hals hinunter.
"Nein, es ist nichts. Ich...ich bin nur, nur die Treppe runtergefallen und habe mir den Knöchel verstaucht. Ist nicht weiter schlimm. Ehrlich, mach dir keine Sorgen."
"Oje, das tut mir leid. Aber gehts dir auch wirklich gut, ja?"
Meine Kehle war wie ausgedörrt.
"Ja."
"Ich habe dir ja schon immer gesagt, wir sollen die Treppe renovieren." scherzte Tom.
"Das habe ich ja auch immer gesagt, Liebling. Die Treppe muss neu gemacht werden. Sie ist eine Gefahr für uns alle, nicht wahr?" Ich hoffte, dass mein Mann den versteckten Hinweis verstand. Als wir das Gespräch beendet hatten, riss mir der Vergewaltiger das Telefon aus der Hand.
Was nun folgte, war die Hölle auf Erden. Die meiste Zeit lag ich fest zusammengeschnürt auf dem Boden, durfte jedoch alle vier Stunden aufstehen, um Jennifer etwas zu Essen zu geben. Zwischendurch wurde ich vergewaltigt. Oftmals zwei, dreimal hintereinander.
Zu meiner Erleichterung muss ich jedoch sagen, dass er es niemals vor den Augen meiner Tochter tat. Dafür war ich dankbar. Wenn der Ausdruck passend war.
Und das soll ich drei Wochen aushalten? fragte ich mich im Stillen. Zwischen meinen Beinen war alles wund und tat höllisch weh, ich stank, da ich mich nicht waschen durfte und die Müdigkeit drohte mich zu überwältigen, da ich nachts vor Angst kein Auge zubekam.
Dienstag Mittag, zwanzig Stunden nach meinem Telefonat mit Tom war ich bereits am Ende meiner Kräfte. Ich konnte nicht mehr, wollte das alles nicht mehr ertragen.
Ich lag wie immer im Schlafzimmer, die Kleine kuschelte sich an meine Beine und spielte mir ihrem Stoffschaf. Plötzlich hörte ich einen ohrenbetäubenden Lärm. Es krachte, Holz splitterte und mehrere Pistolenschüsse hallten nach oben. Stimmengewirr, das Geräusch sich schlagender Körper. Dann kehrte langsam Ruhe ein. Ich schloss die Augen. War es wirklich das, was ich meinte zu glauben? Schritte erklangen auf der Treppe, die Tür zum Schlafzimmer wurde aufgerissen und Tom stand vor mir. Sein Gesicht verzehrt, Tränen liefen ihm über sein Gesicht.
"Oh mein Gott, oh mein Gott. Laura, Jenny." Er fiel vor mir auf die Knie und umschlang uns beide ganz fest. Wir weinten.
Er hatte es gemerkt, er hatte mich verstanden. Nach so vielen Jahren Ehe kannte er mich. Wir brauchten nicht viele Worte.
"Ich werde euch nie wieder verlassen. Nie wieder. Versprochen." Krampfhaft hielt er mich an sich gepresst. Ich glaubte ihm. Es war zu spät, aber ich glaubte ihm.