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Stunden der Verzweiflung
Es gibt mehr Dinge, als nur das, was man sieht - Depressionen, Angst und Verzweiflung öffnen Pforten zu einer ganz anderen Welt.
Es war Nacht. Man konnte einem ergrauten, streitenden Ehepaar aus einer Nachbarwohnung Aufmerksamkeit schenken. Er saß angeheitert in einem Sessel, die Flasche in seiner Hand. Des alten Mannes Tochter war kürzlich ertrunken. Sie war 16 Jahre alt. Ein Schatten strich am Fenster vorbei. Man konnte einen nahezu unhörbaren Schrei, einer Jungen Frau, wahrnehmen. Das einzige, über was der alte Mann Kenntnis verfügte, war, dass er betrunken war. Seine Frau schrak auf und grämte sich. Sie trat vor die Haustür um nachzusehen, doch die Umgebung war ruhig. Im Nachbarhaus erglimmte ein Licht, doch nur kurz, dann wurde es wieder finster. Inmitten der düsteren Nacht wachte die Frau auf. Sie hatte einen Albtraum. Als der Schrei einer Frau ertönte, nahm sie einen finsteren Mann durch das Fensterbild wahr. Er blickte zu ihr, schaute weg, drehte sich um und verschwand. Sie suchte die Konversation mit ihrem Mann, doch dessen Wahrnehmung schien noch nicht besonnen. Anschließend legte sie sich wieder ins Bett und schlief ein. Nach geringer Zeit erwachte sie erneut. Diesmal wegen einem anderen Traum: Sie sah ihre Tochter durch das Fenster, leidenschaftlich umklammert von einem finsteren Mann. Wieder schaute er sie mit bösartigem Gesicht an, packte die Tochter des Ehepaars, schaute weg, drehte sich um und verschwand wieder. Die alte Frau hatte keinerlei Kraft mehr, um ihren Lebensgefährten zu wecken. Sie presste sich ein Kissen auf ihren Kopf und schlief erneut ein - Gequält von der Stimme ihrer Tochter, die zuerst lachte und dann schrie. Am nächsten Morgen schleppte sie sich in die Küche um ein kaltes Glas Milch zu trinken. Sie ließ sich auf einen Stuhl nieder und brach anschließend zusammen. Sie lag deprimiert am Boden und völlig kraftlos. Sie versuchte es ihrem Mann zu schildern, dass diese Vorkommnisse und Träume eine Bedeutung zu haben scheinen. Doch der hätte vor Begeisterung schier einschlafen können. Er fing an sie auszuschimpfen - Sie wäre verrückt - doch sie gab keineswegs auf. Sie dachte an Visionen, dass dies passierte oder noch passieren könnte. War ihre Tochter nur Scheintot? Sie legte sich auf das Sofa, mit geschlossenen Augen, nachdenklich, über das, was passiert sein könnte. Der Mann, von dem sie träumte, war relativ alt, er sah aus wie ein Fischer, mit längeren, ungepflegten Haaren. Ihre Tochter, so jung, so unschuldig, so unerfahren, liebte alles was sie sehen und anfassen konnte, angeblich ertrunken, im wundervollen Wasser, im Meer voller Farben, so schön wie kein anderes. Sie liebte das Meer schon von Anbeginn ihrer Denkzeit. Sie stellte sich vor, dass sie eine Meerjungfrau wäre, dass sie schwimmen konnte, wohin sie wolle. Doch sie schwamm zu weit, zu weit für eine so unerfahrene Tochter, die vor nichts zurückschrecken wagte. Von den Eltern alleine gelassen, vom Meer verschluckt.
Als es Mittag war, aß die Frau ein halbes Brötchen, sie schaute das Fenster hinaus, ein Fahrrad fuhr hinweg, sie weinte. Abends, sie schaltete das Radio stumm, setzte sich auf das Sofa, dachte nach, sie erhoffte sich, dass sie einschläft, damit sie wieder von dem alten, finsteren Mann träumen konnte, der ihre Tochter eventuell in den Armen hielt. Und sie schlief ein, wieder hörte sie den Schrei, aber nicht der ihrer Tochter, dann sah sie den Mann, die Tochter in dessen Armen, vielleicht fürchtete sie sich, doch sie lachte, sie lachte den älteren Mann an und küsste ihn. Dann wachte sie auf und fragte sich nur. Als ihr Mann am nächsten Morgen, auf dem Sessel, aufwachte, brannte das Licht im Schlafzimmer. Seine Frau saß im Zimmer ihrer Tochter, auf einem Stuhl, nachdenklich, mit weiten Augenrändern. Man könnte vermuten, dass sie weinte. Er schlich sich in das leer geräumte Zimmer, setzte sich auf einen der kalten Stühle und weinte. Für ihn schien der Augenblick unerträglich. Die beiden umarmten sich, als wäre alles vorbei. Sie hatten von nun an nur noch sich selbst. Keiner der zwei rührte sich, bis der Abend anrückte. Erst dann wagte sich die alte Frau aus dem Zimmer heraus und setzte sich in die Küche. Sie fing erneut an sich in Tränen zu übergießen. Der ältere Mann, mit dem finsteren Gesicht blickte wie erstarrt durch das Fenster. Er schaute die Frau an, schaute weg, ihre Tochter kam zu ihm in die Arme, er packte sie, fest wie ein Fels, nun lächelte er, der Schrei ertönte, der Mann, es schien, als wolle er nach irgendetwas in seiner Hosentasche greifen, er drehte sich um und verschwand wie immer, mit der Tochter.
Die alte Frau träumte schon wieder. Als sie erwachte, schleuderte sie eine Nachttischlampe an die Zimmerwand. Der Mann wachte vor Erschrecken auf und brüllte sie an, sie solle aufhören mit diesen sinnlosen Halluzinationen. Sie rannte in das ehemalige Zimmer ihrer Tochter, wo es sonderbar ruhig scheint, wunderschön. Sie schmiss sich auf das Bett und weinte. In diesem Augenblick spürte sie etwas, sie spürte diesen Mann, diesen Schmerz, ihre Tochter leidend, wie sie sich es vorstellte. Die Augen des Mannes verschafften ihr Ängste, ohne zu wissen, was sie dagegen tun sollte. Der Mann schaute ihr ganz tief in die Augen, sie bekam ihn nicht mehr aus dem Gedächtnis heraus. Es war wie festgebunden, er blickte sie mit düsteren Augen an, fast als wolle er ihr Schaden zufügen. Dann dieser Schrei vor ihrer Tür, sie konnte sich nicht ausmahlen ob sie einen reellen Schrei hörte, sie rannte zur Haustür, öffnete sie und der Mann schaute ihr wieder in die Augen. Sie rief die ganze Zeit, dass er nicht existiere, völlig verzweifelt, sie beruhigte sich etwas. Er blickte furchterregender, die alte Frau wurde immer ängstlicher, wie geschockt an der Haustür, konnte sie nur schreien, dass er weggehen sollte, verschwinden, wie in ihren Träumen. Ihr Ehemann wurde wütend, rannte an die Haustür, sah wie sie sich mit ihrer Hand vor ihrem Gesicht hin und her schlug und ihn verscheuchen wollte. Der Mann ging ihr nicht aus dem Kopf. Ihr Ehemann packte sie, verzweifelt, schloss die Tür und schenkte ihr ein Glas Wasser ein. Sie desillusionierte sich.
Nachts, die alte Frau träumte wieder, sie schrie und wachte auf. Der Mann, verzweifelt hört er den Worten seiner Frau zu, die fluchend in das Zimmer ihrer Tochter stürmte. Sie hatte wieder eine Halluzination, sie träumte von dem Schrei, dann wachte sie auf, ging an das Fenster. Wie immer stand der ältere Mann mit dem finsteren Gesicht dort, schaute sie an, lächelte kaum, mit einem düsteren Blick, als ob er etwas zu verbergen hätte. Ihre Tochter fällt ihm in die Arme, sie lächelte, küsste ihn, er griff sich in die Hosentasche, holte ein Messer hervor, erstach seine Geliebte, schaute sich um, drehte sich weg und verschwand. Er fuhr zum wundervollen Meer, schmiss sie samt Kleidung ins Wasser, sie ging unter, sie gleitete durch das ruhige Gewässer im Mondlicht. Dann stieg der Mann ins Auto, mit dem er herfuhr, er sah das Wasser an, lächelte und verschwand wieder. Die Frau kam zur Besinnung, fuhr sofort, mitten in der Nacht zum Meer, genau zu diesem Meer, wo ihre junge Tochter angeblich ertrank, die alte Frau wusste nicht, was sie tat. Sie stand nicht lange dort, sie sprang unbewusst ins Meer, schwamm auf den Meeresgrund um ihre Tochter zu holen, die gar nicht mehr dort sein konnte. Sie schwamm zu weit, zu weit für eine so alte Frau, sie ertrank im Meer, im wundervollen, farbigen Meer. Es glänzte im Mondlicht. Sie ging unter. Niemand konnte jemals erfahren, was wirklich mit der alten Frau und ihrer Tochter geschah. Man konnte es sich nur vorstellen.