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Stunde Null im Kreissaal
Ich wurde geboren aus dem Zentrum der gescheiterteten Hoffnungen. Die Traurigkeit klebte an mir wie eine Plazenta-Schicht, die mich schon damals zu ersticken drohte. Natürlich habe ich geschrien. Wütend über die Geburt eines vergeblichen Lebens riss ich an der Nabelschnur, wollte den Kanal aus mir herausreissen, doch es war zu spät. Ich atmete bereits die Ausdünstungen der Welt, so wie sie später für mich sein sollte: Ein Gemisch aus Sterilium, Schweiß und Blut und das süßliche Parfum der Hebamme, die ein merkwürdiges Wesen aus Fisch und Blume zu sein schien.
Auch eine weitere Komponente des Lebens stellte sich kurz danach ein: Der Zustand der vollkommenen Auslieferung. Dieser erste große Kontrollverlust über das eigene Schicksal hat wahrscheinlich die Lüge der Selbstverwirklichung erschaffen, nach dem wir später alle streben und für die manche sogar sterben würden. Man hätte dieses modische Wort gar nicht erfinden müssen. Es hätte auch ein altes getan: Flucht!
Aber die ist nicht möglich. Erst recht nicht als 3500 Gramm schweres Bündel, das erst einmal darauf hin überprüft wird, ob es überhaupt die physischen Vorraussetzungen hat, die Träume der Eltern, Verwandschaft oder Menscheit zu erfüllen.
Da diese Untersuchung sich als erfolgreich erwies, konnte bereits mit dem durchrechnen des Kosten-Nutzen Faktors begonnen werden. Eine Rechnung deren wahre Höhe sich Eltern immer erst nach Jahren erschließt.
Noch ganz in Gedanken, ob es jetzt Buddha oder Jesus sei, der da grade aus der großen Wunde gepresst worden war, verlässt die Bagage den Kreissaal. Der Arzt schnüffelt interessiert an seinen Handschuhen und ruft: "Der Nächste!"