Stumpfe Hörner
Ramirez kaute auf seinen Lippen. Er blutete schon wieder. Immer wenn er versuchte zu rechnen, biss der Junge sich die Unterlippe blutig. Sein Blick war feurig und schien in eine Ferne gerichtet zu sein, die sich weit über den Deckenbalken befinden musste.
Toni stand mit verschränkten Armen neben seinem Gesellen und konnte schon den Dampf pfeifen hören, als die Maschine in Ramirez' Schädel allmählich in Fahrt kam. Gleich würden aus seinen Ohren schwarze Wölkchen stoßen und stinken.
Toni konnte sich das Lachen nicht verkneifen.
„Lass gut sein, Ramirez. Hör auf zu rechnen. Herr im Himmel. Hör auf oder ich bringe dich dazu! Du siehst um einiges intelligenter aus, wenn du nicht nachdenkst. Junge, hörst du überhaupt zu?“
Ramirez erwiderte Tonis Blick, starrte jedoch weiterhin durch seinen Meister Tonio hindurch.
Er tauchte immer noch in dem kleinen Tümpel. Und Toni wusste, das Wasser in Ramirez' Kopfteich war trübe und fischfrei. Außerdem mittlerweile mit dem beißenden Geruch von Alkohol durchtränkt. Es dauerte lange den Grund zu erreichen, um mit etwas Brauchbarem wieder aufzutauchen.
Toni ließ den Jungen noch einen Moment grübeln und wendete sich stattdessen dem Bullen zu. Der Bulle stand aufrecht in einer körperbetonten, abgedunkelten Holzbox und schnaufte wie ein Dieselmotor.
Quasi atmende Holzkisten mit Hörnern dran, dachte Toni sich immer, wenn er den Stall unter der Arena betrat. Er fasste durch ein Loch und streichelte das Tier sanft hinter dem aufgeregt zuckendem Ohr, liebkoste sein seidiges Fell.
„Ruhe, Todavíano. Mein Bester. Wir wissen beide, dass du wahrscheinlich besser rechnen könntest, als der dumme Ramirez.“
„Neun“, sagte Ramirez und hob beide Fäuste wie ein Boxkämpfer in die Höhe.
„Vier mit fünf ist neun. Und vier mit vier sind acht. Zwei mit eins ist vier. Zwei mit drei sind fünf. Da hast du es, du kleiner Hitzkopf. Nenn mich Albert Einstein.“
„Hast du mich gerade wirklich einen kleinen Hitzkopf genannt?“, fragte Meister Tonio.
„Ich sprach mit dem Bullen.“, sagte Ramirez und nickte zum Tier.
„Natürlich“, Toni überlegte: „Zwei plus eins macht Drei, Albert.“ Er trommelte mit dem Handballen dreimal an die Holzlatten der Startbox. „Eins, zwei, drei.“
Ramirez verschloss die Augen und stöhnte.
„Und jetzt komm, Junge. Hilf mir endlich die Hörner stumpf zu schleifen oder ich bringe dich dazu!“
Toni griff nach der groben Hornfeile und streichelte dem mächtigen Tier über den Nacken, unter dessen Haut sich Muskeln wie Hügel wölbten.
Das Tier wackelte mit dem Kopf und schlug dabei seine Hörner an die schmalen Öffnungen der Holzbox. Nur die stolzen Hörner waren frei. Der Rest steckte in einem kleinen Gefängnis.
„Komm Ramirez. Pack das Linke an. Ich schleife derzeit das Rechte“, und Ramirez gehorchte seinem Meister, während Toni das stolze Horn stumpf machte.
Ramirez starrte Löcher in seine eigenen Luftschlösser, schnappte dann mit dem Unterkiefer.
„Können zwei und eins nicht auch vier sein?“
„Nein“, sagte Toni.
„Warum nicht?“
„Weil du dumm bist, Ramirez. Lenk mich nicht ab.“
„Wenn ich das mit dem Rechnen nicht hinbekomme, wer soll dann Clara bei den Hausarbeiten helfen? Du vielleicht?“
Toni strich sich die Feile über das Knie.
„Wenn du nett fragst, Ramirez ...“, er hob das Kinn und betrachtete mit suchendem Habichtblick sein Werk.
„... wenn du nett fragst, gebe ich deiner Clara Nachhilfe. So schwer können die Aufgaben noch nicht sein. Hier Ramirez, übernimm das andere Horn. Ruhig, Todavíano.“
Ramirez packte die übrige Krone des schwarzen Bullen und rieb sie verträumt mit seiner Feile.
„Toni?“
„Was nun?“
„Was wenn zwei und eins vier sind?“, fragte der Geselle und Toni spürte tatsächlich soetwas wie Angst in den Worten des Jungen. Nur ganz schwach.
Der Junge darf nicht mehr trinken, dachte er mitleidig.
„Was wenn alle immer nur davon ausgehen, dass zwei und eins gleich drei sind und es gar nicht mehr wissen? Vielleicht war es ja einmal so, aber kann es nicht irgendwann auch einmal anders sein? Alles verändert sich doch. Die Welt dreht sich. Clara war einmal so groß.“
Er ballte seine Hand zur Faust und streckte sie aus.
„Ramirez. Es gibt Dinge im Leben, die ändern sich nicht. Die muss man nicht ständig neu überprüfen. Die sind ewig da und richtig. Wie Mathe oder Dummköpfe die Mathe nicht verstehen.“
Ramirez blickte zu Boden und schleifte mit finsterem Blick weiter. Toni seufzte. Er hatte den Jungen eigentlich nicht beleidigen wollen.
„Ein Mathe-Haltbarkeitsdatum ist unablaufbar. Himmel, Ramirez! Das Horn.“
Der Stier Todavíano schnaufte einen heißen Schwall feuchter Luft aus den Nasenlöchern und buckelte sich auf. Die enge Holzbox zitterte.
„Ramirez. Arbeite nicht so schlampig! Du quälst das arme Tier. Gib dir Mühe und konzentriere dich auf deine Arbeit.“
Und Ramirez schob die vielen, zuckenden Zahlen beiseite, um sich stumm auf sein Handwerk konzentrieren zu können. Jetzt arbeiteten seine Hände zielsicher und ruhig. Er schliff das Horn und es ward stumpf.
Die Menge tobte draußen unter der heißen, gelben Mittagssonne. Das Jubeln war unten im Stall jedoch nur dumpf zu hören, so als würde der Stall unter Wasser stehen. Toni wischte sich Schweiß aus der Stirn, setzte sich ins Heu und genehmigte sich einen kühlen Schluck Wein aus Ramirez' Trinkschlauch. Dann reichte er ihn weiter zum Gesellen.
„Hier mein Junge, gönn' dir. Ist heiß heute. Wirklich heiß. Das war dann wohl der alte Caído da draußen. Den hat es endlich erwischt. Man, der hat sich gehalten. Ein Bild von einem Bullen war er. Nicht ganz so wie unser Hitzkopf Todavíano hier, aber flink und stark. Ohja. Schade eigentlich.”
“Wer kämpft heute?”, fragte Ramirez. Er wischte sich die Feile am Hosenbein ab, ähnlich wie sein Meister es zuvor getan hatte.
“Torero Jose. Sein Name wird heute auf die hohe Tafel kommen, denke ich. Fünfundachtzig Kämpfe ohne eine Niederlage. Lass dir diese Zahl einmal durch den Kopf gehen! Dieser Mann ist ein Kämpfer, ein Tänzer, einer, den ein Vater sich zum Sohn wünscht, um stolz alt werden zu können.”
Das Getöse draußen nahm ab. Einige klatschten noch.
“Es ist aber unfair, mit stumpfen Hörnern zu kämpfen”, sagte Ramirez.
Er setzte sich dicht neben seinen Meister und schwieg eine Weile mit dem Weinschlauch in der kräftigen Hand. Dann flüsterte er vor sich her: “Zwei. Und eins. Ist.”
“Ramirez, Herr, gütiger Gott! Lass es gut sein. Hör mir einmal zu: Wenn du das Wissen, was wir bereits haben, ständig von neuem hinterfragst, wo kommst du dann hin?”
Ramirez überlegte. Zuckte dann mit den Schultern.
“Nirgendwo hin.” Meister Tonio trank Wein und schmatzte. “Hab Vertauen. Männer haben herausgefunden, dass zwei und eins gleich drei sind. Starke Männer. Vertraue den starken Männern.”
Ramirez antwortete nicht.
“Vielleicht nicht hier stark”, er deutete mit dem Finger auf seinen Bizeps. “Aber hier”, und er tippte sich ans Köpfchen.
“Oder lass es bleiben. Ist mir auch völlig egal. Und wenn du das nicht auf die Reihe bekommst, dann lernst du es eben. Solange bis dir der Honig aus den Ohren läuft.”
Tonio hustete trocken und schlug dann die flache Hand wild durch den Heuhaufen neben sich.
Einzelne Halme flogen lautlos wie Federn durch den stickigen, heißen Stall und das goldige Wirrwarr an Stroh auf dem Boden, auf dem die beiden Stallmänner saßen, änderte sich nicht die Bohne, als die Halme landeten. Es blieb ein Wirrwarr.
Der Bulle trappelte in der Holzbox mit den Hufen, war jedoch nicht fähig, seine Position in der Kiste auch nur minimal zu verändern. Also ließ er von seiner Unruhe ab und starrte wieder geradeaus.
“Du weißt nicht, was einem wie mir durch den Kopf geht”, sagte Ramirez. Er nahm sich einen goldenen Strohhalm und steckte ihn sich in den Mundwinkel.
“Ich bin eben anders. Dumm. Du hast mir beigebracht, die Hörner für den Kampf zu feilen und die Stiere gesund zu pflegen. Ich vertraue dir. Alles, was ich von meinem Handwerk weiß, weiß ich durch dich. Du alter Hund hast ja auch meistens Recht.”
“Hast du mich eben einen alten ...”
“Ich sprach mit dem Bullen.”
Meister Tonio lachte ein wenig und zerzauste das Haar des Jungen.
“Aber niemand kann ewig Recht haben. Oder?”
Der Bulle prustete zustimmend.
“Ich sehe es anders. Und ja, vielleicht liege ich auch falsch.”
Toni warf den leeren Schlauch an die Stallwand und begutachtete das majestätische Wesen in der Ecke. Eingepfercht und stumpf. Bereit für den Kampf.
Der Geselle fuhr sich durch das pechschwarze Haar und mit seinen glasigen, müden Augen, wirkte er wieder wie das Kind, dass er einmal vor langer Zeit gewesen war.
Toni räusperte sich, weil es zu still geworden war. Ein Knacken auf einem gefrorenem See.
“Nun Ramirez, wenn du so überzeugt davon bist, dass zwei und eins irgendwann einmal vier sein könnten, dann tu uns bitte allen den Gefallen und rechne es immer mal wieder nach.”
Er lächelte. Auch Ramirez Mundwinkel bewegten sich. Zumindest einer seiner Mundwinkel.
“Dreh dich wie ein Windspiel im Kreis. Schlag immer wieder an die selben Ecken. Kann auch nicht ganz schlecht sein, wenn das wenigstens einer macht. Mach das ruhig.” Er hickste auf und lachte. Seine Wangen waren gerötet.
“Aber wenn's plötzlich vier ist, Junge, dann komm zuerst zu mir! Klar? Ich will der erste sein, der es erfährt.”
“Mach ich”, antwortete Ramirez. “Kein Ding.”
“Kratz dir die Fingernägel blutig, beim Versuch die Inschrift zu ändern. Tu es, aber mach's wenigstens auch richtig. Bis auf die Knochen.”
Ramirez freute sich darüber hier unten zu sein und nicht dort oben. Von den dicken Balken rieselte Staub hinab, wenn die Masse draußen mit den Füßen trommelte. Wie trockener Regen aus langsamen Licht.
Der Meister Tonio war alt. Und auch wenn er alt und manchmal garstig war, und seine Worte manchmal verletzend schienen, so waren sie doch nie ernsthaft böse gemeint. Das wusste Ramirez.
Draußen trompeteten von neuem die Freudenschreie der Zuschauer, denn auch der zweite Bulle hatte seinen Sold für heute getan und war endlich tot. Der tapfere Ahora war zu Boden gegangen. Bald wäre endlich Todavíano an der Reihe.
Toni schmunzelte. “Kannst du dich noch an den Torero mit dem Silberblick erinnern?”, fragte er.
Ramirez hob das Kinn an und legte sich eine Hand auf die Stirn.
“Sergio? Sergio mit dem Silberblick?”
Sie lachten beide und Meister Tonio musste sich ein wenig den Bauch halten.
“Sergio hatte so geschielt, dass er draußen nicht nur einen sondern immer zwei Bullen sah, die gleichzeitig auf ihn zurannten.”
Toni kamen die Tränen vor Lachen.
“Stell dir das nur mal vor. Zwei solcher Dampfmaschinen, die gleichzeitig auf dich zurollen. Der hatte eine Heidenangst gehabt!”
Ramirez drehte sich zu seinem Meister und legte ihm einen Arm um die Schulter.
Seine Mundwinkel senkten sich und der Junge blickte zu Boden.
“Wir mussten dem Bullen zusätzlich Honigwein geben, damit Sergio eine Chance hatte.”
Auch Toni beruhigte sich allmählich und dachte über die Worte seines Gesellen nach. Er drehte den Kopf ein wenig in seine Richtung.
“Nur, dass du nicht weißt, dass auch Sergio Honigwein trinken musste, damit er überhaupt die Arena betreten konnte.”
Ramirez blickte auf. Seine Augen lugten aus schmale Schießscharten.
“Das gibt es doch nicht?”
Toni nickte. “Jedes Mal. Er hatte jedes Mal drei acht im Turm, wenn er als Torero antrat. Er hatte mit Sicherheit gegen einen betrunkenen Bullen mit stumpfen Hörnern antreten müssen. Nur, dass er auch wahrscheinlich jedes Mal vier betrunkene Bullen gesehen hatte, die ihn auf die Hörner nehmen wollten und jedes Mal hatter er eine Scheißangst gehabt.”
Sogar einige der Zuschauer draußen hörten das Lachen der beiden im Stall und drehten sich fragend um.
Ramirez rollte sich über den Heuboden und Meister Tonios Kopf fiel kraftlos nach Hinten in die Senkrechte.
Ramirez lehnte seine Stirn an die Schulter seines Meisters. Sein Kiefer schmerzte ihm vor Lachen und seine Augen waren rot wie die Farbe von Glut.
“Weißt du, Toni? Du bist mein bester Freund. Lass uns nicht streiten. Ich glaube die Welt braucht Leute wie dich. Aber auch vielleicht einen wie mich. Das hoffe ich zumindest. Ich rechne jetzt alles nochmal durch. Alles. Von Anfang an. Bis unser Todavíano raus muss, ist es ja noch Zeit. Und ich gebe dir als erstes Bescheid, wenn zwei und eins vier sind. Wart's nur ab.”
“Herr im Himmel, vergib dem Jungen, denn er weiß es nicht besser.”
Und so saßen sie beide noch eine Weile auf dem weichen Heuboden und lauschten dem Poltern der Menge im Stadion, während das Licht der späten Nachmittagsonne sich durch die Dielen zu ihren Füßen brach.
Ein Mann riss die Stalltür auf, als die Sonne schon fast unter den Horizont gesunken war. Schweißnass und mit tiefen Furchen unter den Augen schrie er, der Torero sei tot, dass Jose tot sei, Jose der Torero, Sohn aller träumenden Väter. Durchbohrt. Todavíanos linkes Horn traf ihn genau ins Herz. Der Mann nannte es nicht Niederlage, sondern tragischen Unfall und verließ den Stall dann wieder, so eilig wie er ihn betreten hatte.
Meister Tonio machte sich auf den Heimweg, zu seiner Frau und seinen Kindern. Der Geselle Ramirez verabschiedete sich von seinem Meister und blieb noch eine Weile alleine grübelnd im Heu sitzen.
Er kaute auf seinen Lippen. Und blutete schon wieder.