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- 29.01.2014
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Studiker
„Max ist der Einzige, der mich in meiner Zelle besucht.”
(Carl Schmitt)
Teil I
Es gibt Tage, die vergehen schnell. Die letzten Wochen vergingen langsam.
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Oft sitze ich an Tischen, zusammen mit anderen Personen. Ich habe stets das Gefühl, alleine zu sitzen.
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Müsste ich mich mit einem Wort beschreiben, so wäre dieses Wort: Unentschlossenheit.
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Ich bin des Lebens überdrüssig geworden. Manchmal wünsche ich mir, ohne meinen Kopf geboren worden zu sein: Sowohl seine Form, als auch sein Inhalt hat mir bis jetzt nichts als Ärger eingebracht.
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Was sind die Leute grausam, wenn sie dich nicht kennen. Niemand spricht mit dir, niemand sieht dich an. Was kann ich dafür, dass ich der bin, der ich bin?
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Ich liege im Bett und wünsche eine Leidensgenossin neben mir liegen: Es gibt sie nicht. Was bin ich verwurzelt mit meinen Gedanken! Das ist mein Fluch.
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Ich kann den Markt riechen. Der Duft lädt mich ein, er flüstert mir zu: Komm! Komm und hole dir, was du brauchst. Letztlich brauche ich nichts, das es auf einem Marktplatz zu kaufen gäbe.
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Ich verwese langsam, aber es wird schon.
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Diese Isolation ist kaum auszuhalten, aber man hat ja keine Wahl. Als Kind dachte ich gar nicht daran, dass ich in fünf Jahren alleine im Zimmer sitzen werde, und an die Decke starre, als sei sie ein Ziel, das es zu fixieren gilt.
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Manchmal spricht man mit mir. Ein Akt der Grosszügigkeit, den ich nicht schätzen lernen kann.
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Was habe ich zu kämpfen mit meinen Gliedern. Mir fällt es – ach! – so schwer, morgens das Bett zu verlassen, und mir einen Kaffee einzuschenken.
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Ich warte auf einen spezifischen Tag, den ich gefunden zu haben geglaubt habe. Ein Irrtum.
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Immerhin gibt es keine traurigen Tage mehr. Mir ist alles einerlei.
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Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt, sagt Wittgenstein. Nun weiss ich mit Bestimmtheit, dass ich verloren bin.
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Aber du könntest doch … warum versuchst du nicht … du musst doch alles anders sehen, weil … verschont mich, mit den Ratschlägen. Ich habe eine Tür eingetreten, die sich nun nicht mehr schliessen lässt.
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Liebe ist frei, sagen sie. Noch nie sind sie mir törichter vorgekommen.
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Das Glück ist frei, sagen sie. Doch. Jetzt.
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Mein Heim ist das Alleinsein. Ich spüre es; ich bin deswegen geboren worden. Die Schwermut ist meine treuste Geliebte, sagte Kierkegaard. Mich hat sogar sie verlassen.
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Ein konstantes Dilemma: Man kann noch nicht sterben, man kann aber auch nicht leben. Es bleibt einem folglich nichts zu tun.
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Jeder Schritt in jede Richtung wäre ein fataler Fehler, den ich nicht mehr rückgängig machen könnte.
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Ich bin als König noch die letzte Schachfigur auf dem Brett. Wie konnte es anders kommen, als dass ich die Niederlage nur durch ein Patt vermeiden konnte?
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Mein Körper schmerzt genauso wie meine Gedanken auch. Ich befinde mich also ausserhalb meines Körpers, ausserhalb meiner Gedanken. Das Schlimmste ist, dass ich mich selbst nicht einmal lokalisieren kann.
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In der Zelle bin ich allein. Die anderen Zellen darf ich nicht besuchen. Manchmal verbindet man mir die Augen, und lässt mich im Dunkeln darüber, wo man mich hinbringt. Wenn man mir die Augenbinde wieder abnimmt, bin ich wieder in meiner Zelle. Seltsam: Ich weiss wohl, dass ich ausserhalb meiner Zelle gewesen bin, aber etwas gesehen habe ich nie.
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Fäkalien sind im Grunde genommen die wichtigsten Ausscheidungen des Körpers. Sie erinnern uns daran, dass alles, was wir zu kosten und geniessen gelernt haben, gleich dem schlechten Essen als brauner Klumpen sein Ende findet.
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Der Tod rückt näher und näher, unaufhaltsam, ich kann ihn am Horizont schon erblicken. Es verhält sich wie immer, wenn man eine Gestalt am Horizont sieht: Man kann schlecht einschätzen, wie lange sie brauchen wird, um zu einem zu gelangen. Wenn er winkt … das sind die Momente, in denen ich mir wieder bewusst werde, dass unabhängig davon, wie lange mir die Jahre vorkommen, ich noch eine viel längere Zeit nicht sein werde. Der Schmerz, die Freude … welchen Zweck hatten diese Gefühle dann? Ich bleibe letztlich auf das endliche Leben reduziert.
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Ich bin ein Objekt, das man eigentlich untersuchen sollte. Ich habe so viel zu erzählen, ich habe so viele Fragen, aber man weigert sich kontinuierlich, sich mit mir zu beschäftigen. Die Erkenntnis, die man durch mich gewinnen könnte, bleibt so von meinem Kopf auf dem Weg zu meinem Munde stecken.
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Da gibt es jemanden Übersee, den ich gerne wiedersehen würde. Aber mein Stolz verweigert es mir. Zurecht. Der Stolz dient mir, nicht umgekehrt. Ich könnte mich natürlich auch jedem darbieten, aber wohin würde mich eine solche Verhaltensweise letztlich führen? Viel tiefer in den Abgrund hinein, so tief, dass ich in meinem Leben keine Zeit mehr dafür finden würde, um wieder herauszukriechen.
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Auf eine schlechte Woche folgt immer eine zweite dergleichen. Schliesslich wäre es kein Problem, die Woche zu ertragen, wenn man nicht wüsste, wie lange die Wanderung noch dauert, bis man den Weg aus dem Tal der Verzweiflung gefunden hat.
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Wir nehmen an, Gott existiert, so wie das Cartesianische Subjekt behauptet hat, wir nehmen an, meine Seele ist tatsächlich von meinem Körper zu trennen, und ihre wichtigste Eigenschaft ist die Unsterblichkeit. So erwartet man nun, dass mich eine solche Erkenntnis glücklich machen würde? Auch das ewige Leben ist nichts anderes, als ein ewiges Verzweifeln. Man kann es noch so schön und bunt gestalten: Ist etwas unsterblich, so hört es nie auf. Und etwas das nie aufhört, ist eine Sache, die einen in den Wahnsinn treibt. Ich möchte Dinge spüren, die ich im Leben gar nie spüren kann. Doch kommt der Tod, so verschwinde ich, und folglich bleibt nichts übrig, das spürt …
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Gleich dem Schizophrenen, höre ich Stimmen, die mir Befehle erteilen. Ich soll dies und das tun. Die Stimmen sind nie freundlich, sie grüssen nicht, sie wertschätzen mich nicht, es ist ihnen egal, wie und was ich fühle, was ich denke. Der einzige Unterschied zwischen dem Geisteskranken und mir ist, dass meine Stimmen den Mitmenschen entspringen, und nicht meinem Kopf. Und das ist das weit schlimmere Schicksal, als dasjenige eines Geisteskranken.
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Es gibt eigentlich so viel zu reden, doch wir kommen so selten dazu. Und wenn wir reden, dann reden wir über Banalitäten.
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22 Jahre auf der Welt, und nichts als fragen habe ich gelernt.
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Gestern sass ich im Bus und schaute nichtsahnend aus dem Fenster, als in dem Park, an dem wir vorbeifuhren, eine alte Frau von einem jungen Mann ausgeraubt wurde. So muss es sein! Alte Menschen sollten den Jungen tatsächlich ihr Hab und Gut überlassen. Schliesslich brauchen sie es nicht mehr so lange, wie die Jungen es tun. Als ich den Bus verliess, sah ich denselben jungen Mann auf mich zukommen. Ich ahnte, was geschehen könnte. Also lief ich in die entgegengesetzte Richtung, um Abstand zu gewinnen. Es dauerte eine Weile, bis ich ihn dicht hinter mir atmen hören konnte. Die Geräusche, die ich wahrnahm – das Kratzen seiner Schuhsohlen am Boden, das Hecheln, das Husten – erinnerten mich an die Sterblichkeit des Menschen. Warum raubt er, fragte ich mich. Aber es braucht gar keine Antwort darauf zu geben. Letztlich lief er an mir vorbei, und ich konnte sehen, was er der alten Frau gestohlen hat: Die Fotographien ihrer Enkelkinder. Er hielt sie fest umklammert in der rechten Hand. Nun verstand ich ihn. Kann man sich so allein fühlen, dass man jemanden seines Nachwuchses wegen beneidet? Ich fühle mich so, der Räuber fühlt sich so, der Mörder fühlt sich so. Man sperrt den Einsamen in eine Zelle, in der Hoffnung, ihn zu einem besseren Menschen zu machen. Ich frage mich, wie das funktionieren soll. Denn für den Verbrecher steht fest, dass diejenigen, gegen die er sein Verbrechen verübt, diejenigen sind, die es nicht anders verdient haben. Kurz: Es spielt ihm keine Rolle, wer seine Opfer sind. Die Hauptsache ist, er konnte einen Schlag gegen die Glücklichen verüben, der tief in deren Herzen eindringt, und es von innen her implodieren lässt. Die Verbrecher sind eine Subkultur, die es aufrechtzuerhalten gibt. Ohne Mord und Totschlag würde das Bewusstsein bezüglich ungerechter, natürlicher Umstände auf der Welt kurzerhand absterben. Was schert es die Glücklichen, dass sie nur leben können, weil sie sich die Welt als Garten Eden vorstellen? Diese Vorstellung hat nichts mit der rauen Wirklichkeit zu tun.
Und doch findet man sie auf Hochzeiten, bei Festen, stets lächelnd, nichts bereuend, sich darüber hinwegtäuschend, wem sie alles schaden. Das alles wäre ja nicht weiter schlimm, sie wären ja nichts anderes als Verbrecher. Doch was die Glücklichen zu einer solch verheerenden Spezies macht, das ist ihre Heuchelei darüber, was sie in der Welt alles zerstören, und wem in der Welt sie feindlich gesinnt gegenüberstehen. Und genau deshalb braucht es die Verbrecher, die Unordentlichen, die einen Anschlag nach dem andern auf die bürgerliche Welt verüben. Mit welchem Ziel? Dass die Glücklichen weniger glücklich sind. Das sollte das Ziel eines jeden Intellektuellen sein.
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Man lebt gerne, ohne über Vergangenes nachzudenken. In meiner Vergangenheit ist viel geschehen, das ich gerne vergessen würde, aber es funktioniert nicht, dafür ist mein Gedächtnis einfach zu lange trainiert worden. Wenn Personen mich verrieten, mich verstiessen, alles Mögliche dafür taten, meine an sie gerichteten Worte zu vergessen, so kümmerte es mich wenig. Aber dass sie dann noch die Dreistigkeit besassen, diese Taten als gerechtfertigt darzustellen: Das brachte das Fass erneut und erneut zum Überlaufen.
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Vielleicht kommt noch eine Zeit, in der selbst ich glücklich auf der Terrasse vor der Universität sitzen werden kann, ohne Sorgen, beobachtend, wen und was die Sonne mit ihren Strahlen erhitzt. Sollte eine solche Zeit kommen, so wird alles um mich herum in Schutt und Asche gelegt sein, so wird die Universität selbst brennen, als Zeichen eines neuen Zeitalters. Was haben die Leute nicht alles falsch verstanden, wenn es um die Natur des Menschen ging? Sie glauben, wir bräuchten Harmonie und Frieden, um endlich zur Ruhe zu kommen, aber nein, nein, es verhält sich ganz anders: Alles muss brennen und wie eine trockene Wüste aussehen, und erst dann wird klar werden, was mit dem Naturzustand im „Leviathan“ gemeint ist. Nichts Schlechtes, nichts Gefährdendes, sondern bloss Erlösung und Befreiung, weil man endlich einmal durchatmen kann.
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Geräusche kann man überall wahrnehmen. Hier ein Kratzen, dort ein Lachen, ein Husten, ein Niesen. Unsere Ohren vermögen uns nur einen Teil der tatsächlich existierenden Geräusche bewusst werden zu lassen. Das ist ein Jammer. Höre ich einen sehr tiefen Bass, so höre ich ihn; wird er tiefer und tiefer, so höre ich plötzlich nichts mehr. Das ist ein Argument dafür, dass der Taube ein Glückspilz ist. Er muss sich nicht darum kümmern, ab welcher Frequenz ihn seine Ohren im Stich lassen. Er hört sowieso nichts mehr. Wie man es dreht und wendet, hier spüre ich einen Mangel, den er nicht zu spüren imstande ist. Man braucht sich nun zu überlegen, wie glückselig der Taubstumme erst sein muss. Ihn behindert nicht einmal die Sprache, er hat sich nicht darum zu sorgen, dass jeder Schrei, den er ausstösst, von den Mitmenschen als Dichtkunst wahrgenommen wird. Ein Taubstummer ist, insofern er sich von Papier und Feder fernhält, ein Mensch ohne Sorge. Er sieht nur, das ist sein Mangel, ansonsten wäre er ein Mensch fernab der materiellen Welt, ein Erzfeind der Sozialisten, aber der neue Prophet der christlichen Gemeinschaften. Was war Jesus anders, als einer, der der Welt nur noch durch das Mittel der Liebe zugänglich war? Und ist der Taubstumme nicht zu einem Ersatz dieses bereits veralteten Propheten geworden?
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Manchmal glaube ich, meinen Freund als eine Gestalt zu erkennen, die den Rücken zu mir gekehrt hat. Also tippe ich ihr auf die Schulter. Wenn sie sich nun umdreht, und mir mein Irrtum vor Augen führt, so ist dies ein perfektes Beispiel dafür, wie schlecht wir uns doch alle bekannt sind.
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Wir sehr ich mich auch anstrenge, über die Verstopfung, wie man sie im Volksmund nennt, wird von meinen Professoren an der Philosophischen Fakultät keine Vorlesung gehalten. Sie sagen, dieses Themengebiet sei der Medizin zugeordnet, und habe nichts mit der Philosophie zu tun. Wie sehr sie sich doch irren! Ein Kotklumpen, der so gross angewachsen ist, dass man ihn nicht mehr ausscheiden kann! Welch‘ Allegorie auf die Seelenleiden, die uns alle quälen, wenn wir uns wieder einmal im Dilemma der Ausweglosigkeit unserer eigenen Existenz wiederfinden!
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Vielleicht braucht es gar nicht viel, um diese Welt zu ändern. Ein Süssgetränk, ein Gutschein für den Schuhladen nebenan für jeden: Dann ist niemand mehr durstig, und niemand kämpft sich mit zu kleinen Schuhen durch eine Achtstundenwanderung.
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Es sollte eine gute Wendung geben in meinem Leben … doch siehe da: Kaum habe ich den Satz ausgesprochen, entpuppt er sich als Vers, als ob mein Leben nur Teil eines lächerlichen Gedichtes eines Schriftstellers sei. Es scheint, als wolle man sich auf diese Weise über mein Leiden lustig machen.
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Ich habe schon so viel verloren in meinem Leben, dass es sich beinahe nicht mehr lohnen würde, noch einmal im Leben mitzuspielen zu versuchen. Es geht mir wie dem Pechvogel im Kasino, der, nachdem er bereits zu viel verloren hat, sich resigniert eingesteht: Es wäre wohl das Beste, ich ginge jetzt …
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Nachts. Ich schaue aus dem Hotelzimmer herunter zu der dunklen Stadt. Eine Frau in einem roten Kleid steht an einer Ampel. Das Licht einer Strassenlaterne ist auf sie gerichtet. Ich sollte nach unten gehen, denke ich. Aber ich kann meine Beine nicht mehr bewegen. Ich falle zu Boden. Das Glas, das ich in den Händen gehalten habe, zersplittert am Boden. Ich liege eine Weile am Boden. Ich fange zu lachen an. Nun kann ich meine Arme nicht mehr bewegen. Plötzlich: Grelles Licht, ich kneife meine Augen zusammen. Ein Buch liegt neben mir. Ich hätte es nicht mitnehmen sollen, denke ich. Dann geschieht ein Wunder, und ich bin wieder bewegungsfähig. Ich stehe auf und schaue aus dem Fenster. Die Frau ist längst über die Strasse, und damit aus meinem Leben gegangen.
So ist es mir mit jeder Verliebtheit ergangen.
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Warum brauche ich mich immer und immer wieder zu entscheiden? Das hat alles nur noch schlimmer gemacht. Wenn ich doch nur könnte, dann würde ich nichts mehr tun, keine Aktion mehr durchführen. Aber ist das selbst nicht auch eine Art der Aktion? Also muss ich mich immer entscheiden? So will ich zumindest so wenig Entscheidungen wie möglich treffen, in der Hoffnung, mein Leben so noch aus dem Sumpf retten zu können, in dem es derzeit zu versinken droht.
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In meinen jüngeren Jahren bin ich Matrose auf einem Schiff gewesen. Wir segelten durch die Welt und versuchten wie freie Menschen zu leben. Es war eine gute Zeit gewesen. Der Kapitän war ein seltsamer Mensch. Er leitete uns in immer tiefere Gewässer, manchmal ging er draussen im Nirgendwo schwimmen, rang mit Haien und unheimlichen im Wasser lebenden Kreaturen. Wenn es dunkel wurde, so betrachteten wir manchmal das dunkle Wasser. Ein Schauder überkam uns alle, bei den Geschichten, die uns der Kapitän von der Tiefe der Gewässer erzählte. Da unten, sagte er, lauern sie, die Monster unserer Jugend. Wir sehen sie nur nicht. Wenn die Regierenden nur wüssten, was da in der Tiefe für Gefahren auf uns lauern, dann würde ein jeder seine politischen Vorstellungen revidieren. Also tut man die Monster als Mythos ab, in der Hoffnung, sie so vergessen zu können.
Dann fing er zu weinen an. Wir alle wussten nicht, wie wir darauf reagieren sollten. Was nützt der Trost dem Leidenden? Der Tröster ist immer der Nichtleidende, der barmherzige Samariter, unfähig, sich vorzustellen, was das Leid mit einem Menschen anrichtet. Jemand, der an einer Operation beinahe gestorben ist, wird nie mehr dasselbe Leben führen können. Die Leute verlassen ihn. So wie sie unseren Kapitän verlassen hatten, als dieser ein Loch in seinem Herzen zu füllen versuchte, indem er in See stach. Niemand kann solche Leute verstehen, deshalb bleibt ihnen nichts zu tun, ausser zu weinen. Sich jede Nacht in den Schlaf zu weinen ist die Therapie per se, ist lebensnotwendig für den Leidenden. Denn man selbst verzweifelt, und weiss keinen Ausweg mehr, und da ist niemand, der die eigene Situation nachvollziehen könnte. Also fühlt man sich auf sich selbst zurückgeworfen, wie man geboren wurde, und so erinnert man sich auch seines Zustandes zu der Zeit der eigenen Geburt: Weinend ist man in die Welt getreten, und allein. Und sich in den Schlaf zu weinen, das ist die Synchronisation der Gegenwart mit diesem vergangenen Ereignis – der eigenen Geburt, die uns gleich einem Trauma immer und immer wieder ins Gedächtnis tritt, und uns vor Augen führt, wie wir immer sein werden: Allein.
Teil II
Hallo
Es mag ja alles wahr sein, was du schreibst. Vielleicht ist sogar dein Zustand so ernst, wie du ihn schilderst, ja, ich bin der Letzte, der das einschätzen kann. Deine Worte lassen mich traurig zurück, aber nicht, weil ich bemitleide, dass es Personen wie dich gibt, die auf diese Weise leben müssen, nein. Es ist etwas anderes, das mich traurig stimmt, und vielleicht kann ich diesem „etwas anderes“ auf die Schliche kommen.
Du weisst ja, wie ich bin, du kennst mich schon so lange. Es gibt Leute, die kennen mich länger, doch sie kennen mich nicht besser, als du mich kennst, und das gibt mir Mut. Du hast es geschafft, innerhalb der Zeit, die wir miteinander verbringen konnten, mich auf die Beine zu holen, und mir ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Manchmal denke ich an dich, wie du stur deinen Weg gehst, und dich von nichts und niemandem beirren lässt. In solchen Momenten fällt es mir leicht, an mich selbst zu glauben, und mir meine Ziele wieder vor Augen zu führen. Ich denke, es ist möglich zu erreichen, was ich erreichen will, und das habe ich dir zu verdanken.
Doch wenn ich jetzt lese, was du schreibst, wie du schreibst, dann habe ich das Gefühl, dass du selbst nicht mehr dazu imstande bist, deinen Gedanken richtig aufzufassen, ihn dir bewusst vor Augen zu halten. Es fehlt eine Spur Leidenschaft in deinen Worten, die ich immer an dir gemocht habe, und vielleicht kommt sie eines Tages wieder, überraschend wie der Retter in Not. Wird es aber dann nicht bereits zu spät sein? Nur du kannst diese Frage beantworten. Halte durch, mein Freund, um viel mehr will ich dich gar nicht bitten. Und halte dich fern von den westlichen Philosophen, die das Leid nicht zu deuten wissen, bleibe stark, und vielleicht werden wir zusammen eines Tages die Welt erobern können. Ich weiss, ich verlange zu viel, selbst dieser bescheidenen Bitte wirst du wahrscheinlich nicht nachkommen können. Darum revidiere ich sie: Bleibe du selbst! Und wenn dich das Leid zu zerreissen droht, du darfst dich und deine Bedürfnisse nie in einen Gegensatz zueinander bringen! Man muss sich natürlich fragen, weshalb es sich lohnt zu leiden, und ich kann dir diese Antwort geben, mein Freund. Man leidet nur aus einem Grund, da man etwas erblickt und durchdrungen hat: Etwas Zartes, etwas Schönes, etwas Zerbrechliches und – zack! – zerfällt es in deinen Händen und – du leidest. Dieser Vorgang ist kaum aufzuhalten, da alles im Leben vergänglich ist. Danach wird es wieder Jahrzehnte dauern, bis etwas so Schönes erneut dein Leben betreten wird, aber: Die Kenntnis des Schönen ist die Voraussetzung dafür, dass es erneut kommen wird, mein Freund. Wenn man weiss, was man vermisst, wenn man die Prämissen kennt, die zur Konklusion der eigenen Glückseligkeit führen werden, dann wird das eigene Leben zwangsläufig – ähnlich einem logischen Schluss – auf die Konklusion zusteuern.
Obacht! Das Schiff ist schwer zu lenken. Durch Stürme muss man es führen. Halte das Steuer also mit ganzer Kraft fest! Und beobachte nicht diejenigen, die deine Route schon zu Ende gefahren sind. Es nützt nichts. Unzählige Leben, daraus folgen unzählige Konklusionen, mein Freund. Man darf nicht vergessen, dass man sich selbst nicht mit den gleichaltrigen Genossen vergleichen darf. Das würde nur zu einem konfusem Verständnis des Ganzen [=des Lebens] führen. Verachte mich ruhig, für meine lustige Art, Vergleiche zum Leben herzustellen, und dir damit helfen zu wollen. Du kannst mich auslachen wenn du willst, aber wende dich nicht von mir ab, Freund, höre mich an. Warum soll man tolerieren, dass man selbst leidet, wenn man doch sieht, wie andere ihr Leben lang glücklich sein können, ohne etwas dafür getan zu haben? Das ist die entscheidende Frage. Und ich weiss, sie ist es, die den Melancholiker in den Wahnsinn treibt, trieb sie doch auch mich in vergangenen Tagen in die Verzweiflung. Ein Jahr lang weinte ich jeden Abend vor dem Schlaf, und wachte morgens voll Scham wieder auf. Ich träumte in dieser Zeit von Dingen jenseits des frohen Mutes, den ich nun an den Tag legen kann. Aber dass ich nun dazu fähig bin, das hat seinen Grund, mein Freund. Ich habe gelernt, zu akzeptieren, dass da andere sind, glücklicher, glücklich auch ohne mich [auch das muss man verstehen lernen]. Während ich in den Zügen sass, und aus dem Fenster blickte, in der Hoffnung, etwas zu sehen, das mich aus der Schweinerei, die mein Leben darstellte, herausziehen hätte können, sass ich gegenüber von glücklichen Personen. Und es fiel mir schwer, das zu verstehen. Warum sie? Oftmals hatten sie es nicht mehr verdient, als ich es habe, das dachte ich mir. Warum also? Warum lässt mich die Welt und der Zufall so im Stich? Warum sollte ich das Leben bejahen, wenn sich alles gegen mich wendet, ich im Schlamm zu versinken drohe? All diese Gedanken, die dich vielleicht derzeit auch plagen, ich kann dir nur etwas über sie sagen: Vergiss sie! Was ist das Leid anderes, als eine Nuance des Lebens, die die Glücklichen übersehen? Nietzsche schlug vor, das Leben nicht mehr in Gegensätzen zu betrachten, sondern als verschiedene Perspektiven desselben Gegenstandes. Warum nicht so auch hier, frage ich dich!
Das Unglück ist kein Argument gegen eine bestimmte Lebensform! Schliesslich ist es bloss eine Perspektive des Lebens, des Glücks etc., aber nicht der Gegensatz desselben! Wenn du leidest, so kennst du mehr, als der, der nie zu leiden gelernt hat. Das von-Unten-Betrachten des Lebens ist eine Erfahrung, die meines Erachtens jeder Mensch einmal in seinem Leben hätte durchmachen müssen, und doch: Finden wir nicht Millionen, die das nicht getan haben? Was ist schon das Leiden des Durchschnittsmenschen! Er leidet überhaupt nicht, ihm fehlt es an der Tiefe, die wir kennen, die ehemals Leidenden, ehemals Glücklichen, die vollends Tiefen, die wahren Menschen-über-den-Menschen! Lassen wir sie also versauern, in ihrer oberflächlichen Wahrnehmung des Ganzen, während wir so viele andere Perspektiven durchlebt haben. Ein Mensch sagte mir einst, er könne sich nicht in jedem Moment seines Lebens vollends seiner Zeitlichkeit bewusst sein, da lachte ich ihn aus, und habe ihn seitdem nicht mehr gesehen. Was ist das für ein Leben, in dem man sich über sich selbst hinwegtäuscht? Nur eine Perspektive existiert für diese Leute, und ihre Urteile stammen nur aus derselben, also sind sie uns nichts wert, und ich meine mit „sie“ die Alltagsmenschen selbst. Wir kennen mehr, und sprechen Dinge, die diese nie verstehen werden, aber darin liegt unser Lohn, im vollständig Erfassen-können des Lebens! Unsere Gefühle sind intensiver, glaubwürdiger, und – lohnenswerter, als diejenigen des Alltagsmenschen. Lassen wir sie also sein!
Du siehst nun vielleicht ein, dass dein Leid nur Ausdruck dafür ist, dass du mehr begreifst, dass dein Wissen über deinen Kopf hinausgewachsen ist. Aber warte ab, mein Liebster, und plötzlich werden sich die Dinge zu deinem Gunsten wenden. Dann bist du vollständig lebendig, so wie du nun vollständig leidest, so wirst du dann vollständig glücklich sein. Und mehr brauchst du nicht zu fühlen! Der Alltagsmensch hingegen, er wird im Mittelmass leben, im Mittelmass sterben, und die wirklich süssen Früchte des Lebens? – Die wird er nie kennenlernen.
Hat Shostakovich umsonst gelitten? Hat Ives umsonst kein Publikum zu Lebzeiten gefunden? Sie beide hätten ja auch anders leben, beziehungsweise andere Musik machen können. Aber das wollten sie nicht, da sie alle Facetten des Lebens kennenlernen wollten. Der Mensch leidet dann, wenn er tatsächlich lebt, und nicht nur vorgibt, es zu tun.
Ich könnte natürlich noch weiter argumentieren, aber ich weiss schon jetzt, dass ich dich nicht werde überzeugen können. Du lebst in deiner eigenen Welt, deine Schlussfolgerungen sind schon offiziell gesetzt, sind nicht mehr wegzudenken, von deinem Leben … was also soll ich tun? Aber ich kann dich ja auch nicht sterben lassen … und so fällt es mir schwer, irgendetwas zu tun. Eine eigene Welt wäre natürlich etwas Schönes. Aber was wir haben, ist eine geteilte Welt, in der wir leben müssen. Lass uns Lösungen hierfür finden! Ich denke, wir sind nahe dran, etwas ganz Grosses zu entdecken!
Dein Liebster.