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Studers letzter Fall
Studers letzter Fall
Die Morgensonne fällt durch das gardinenlose Fenster ins ehemalige Kinderzimmer, das Studer für seine Ermittlungen nutzt. Die neuen Gläser funkeln. „Eine neue Brille, in deinem Alter!“ Studer, der sonst jeden Cent zweimal umdreht, schüttelt verwundert den Kopf. Er entfaltet das Putztuch und sieht die orangefarbenen Lettern aufgeregt vor sich tanzen: „Mit neuen Augen sehen“. Studer murrt und muss an den Ausspruch seines Kommissars denken: „Mit deinen Augen kannst du die Dinge sehen, aber nicht die Augen, die sie sehen.“ Hatte sich Studer in diesem Fall bereits vergaloppiert? In seinem Alter konnte es immer sein letzter sein. Und nichts erschien ihm schlimmer, als einmal „dumm sterben“ zu müssen, das hatte er schon zu seiner Hilde gesagt.
Immerhin erkennt er das Tatopfer auf der mit Plastikfolie ausgeschlagenen Schreibtischplatte jetzt glasklar: ausgestreckter Schwanz, weit aufgerissene Augen, an der linken Flanke eine klaffende Wunde mit verkrustetem Blut. „Schau ihr ins Gesicht, schau dir die Augen der Toten an!“, erinnert sich Studer an die Aufforderung des kleinen Mannes mit Schnauzbart und Baskenmütze. Und der Kommissar hatte Recht, wenn man Glück hatte, erzählten die Augen etwas vom Hergang der Tat. In diesem Fall aber sieht Studer nur zwei stecknadelgroße Knopfaugen, die ihn leblos anstarren. An der länglichen Kopfform erkennt er die Spitzmaus. Für Katzenmägen ungenießbar, das weiß er, da er früher selbst mal Katzen hatte. Mehr Kopfzerbrechen bereitet ihm das aufgeblähte Maiskorn, das man ihr nachträglich zwischen die Zähne gesteckt hat. Bei der ersten Maus war es ein Stück aufgeschäumte Zuckerwatte, bei der zweiten ein Stück Fruchtgummi in der Form eines Schnullers gewesen.
Während er einen Schluck aus der Kaffeeschale nimmt, schielt Studer auf die „sieben goldenen W“, die in einer Klarsichthülle an der Wand hängen. Er weiß bisher nur eine Antwort auf das „Wo“ und „Wann“. Beim „Womit“ hängt er fest, vom „Wer“ und „Wie“ hat er noch keinen Schimmer, geschweige denn vom „Warum“. Sechs Unbekannte sind noch zu enträtseln, er hat also keine Zeit zu verlieren. Er geht noch einmal systematisch die Kette der Ereignisse durch, irgendwann musste er ja auf ein Detail stoßen, das ihm durchgerutscht war. Er sieht die dritte tote Maus wieder vor sich, grauer Körper auf grauem Grund. Er konnte also nicht einmal sagen, ob die tote Maus nicht schon dagelegen hatte, bevor er in den Keller gegangen war, um Besen und Schippe zu holen und das frisch gejätete Unkraut zu beseitigen. Sein Werkzeug fand er an der gewohnten Stelle im Flur. Er klemmte sich den Besenstiel unter den linken Arm und nahm die Aufhängung am Schippenstiel in die linke Hand. Mit seiner stärkeren Rechten wollte er sich am Geländer hochziehen, da geschah etwas Ungewöhnliches: Die Schippe baumelte an seiner Linken, als würde sie von einer unsichtbaren Hand bewegt. „Mal sehen, wie lang du ihm noch von der Schippe springen wirst“, sagte er und stapfte lachend die schmale Holzstiege hinauf. Beim Knarren der Stufen musste er an die letzten Monate denken, als Hilde noch gelebt hatte. Nein, Hilde hatte es nicht mehr vor ihm geschafft, sie sprang ihm nicht mehr von der Schippe. Krokusse und Narzissen waren bereits abgeblüht, als er an einem Karsamstag die Flügeltüren für die beiden Männer in Schwarz öffnete.
Studer nippt gedankenverloren an der leeren Schale und fragt sich, warum ihm das mit der Schippe und Hildes letzter Lebenszeit unmittelbar vor seiner Begegnung mit der toten Maus eingefallen ist. Abergläubisch war er nie gewesen, immer hatte er nur dem getraut, was er mit eigenen Augen sehen konnte. Also wieder zurück zu den Fakten: Die dritte Maus in drei Wochen, immer an einem Samstagmorgen, immer mit etwas Süßem zwischen den Zähnen. Studer hatte gleich beim ersten Vorfall seine Nachbarin auf dem Gang angesprochen und in ihren Zügen eine Mischung von Ausrufe- und Fragezeichen entdeckt. Ihre Mimi sei zwar dumm wie Brot - aber Spitzmäuse? Nein, die jage sie nun wirklich nicht. Beim zweiten Mal reagierte die Frau in ihrer grauen Schürze fast ungehalten: Sie habe es ihm doch schon letzten Samstag gesagt … Doch als sie den Schnuller im Maul der Leiche entdeckte, verzog sie angeekelt ihren Mund: Wer macht denn sowas? „Gute Frage“, antwortete Studer und sah ihr ins Gesicht, das plötzlich einen kecken, ironischen Ausdruck annahm: „Sind Sie Polizist oder ich?“ Studer verschlug es die Sprache, er drehte sich grußlos ab.
Er streift sich die Plastikhandschuhe über seine schrumpeligen Hände und macht an der Flanke des Tierkadavers eine rissförmige Verletzung aus. Wegen des verkrusteten Blutes kann er ihre Tiefe nicht bestimmen. Vermutlich Fremdeinwirkung, aber welcher Art? Eine Mäusefalle hätte den zarten Rücken des Nagers sichtbar deformiert. Er ruft sich die Szene in Erinnerung, wie er den Leichnam morgens auf die Schippe nahm: Die Borsten des Besens aus rotem Plastik bogen sich, als sie ihn berührten. Er war also schon fest geworden, die Leichenstarre hatte eingesetzt. Folglich hatte die Maus schon am Freitagabend oder in der Nacht zum Samstag das Zeitliche gesegnet. Früher nicht, denn Studer kann keine Zeichen von Verwesung entdecken. Er kehrt wieder zu dem Gedanken zurück, der ihm bei der ersten toten Maus gekommen war: ein Kind, vielleicht auch ein gelangweilter Jugendlicher, der den alten Mann erschrecken wollte. Hatte er nicht am gleichen Morgen eine kleine Gestalt hinter seiner Hecke verschwinden sehen? Aber sicher war er sich nicht, welches Kind war schon Samstag morgens unterwegs?
Er muss einräumen, dass er nichts in der Hand hat und kommt sich in seiner Polizeiuniform plötzlich etwas lächerlich vor. Studer trägt immer seine Uniform, wenn er ermittelt, schon Hilde hatte sich darüber lustig gemacht. Aber als Polizist funktioniert er eben nur in seiner gewohnten Umgebung. Beim Blick auf die Wand drängt sich ihm eine weitere Frage auf: Wenn irgendeiner (Wer?) irgendeinem (Wem?) mit der toten Maus (Womit?) etwas mitteilen wollte, wenn also die Maus nur ein Zeichen war: Wer war dann der Adressat, und wie lautete die Botschaft? Studer fischt mit dem Kaffeelöffel die letzten aufgeweichten Brocken Hefezopf aus der Schale. „Süßes, Süßes“, stammelt vor sich hin, manchmal brachte es was, frei zu assoziieren. Und siehe da, ihm fällt doch noch ein Detail ein: Kurze Zeit, nachdem er die zweite tote Maus auf der Betonplatte entdeckt hatte, kehrte seine Mieterin aus dem Nachtdienst zurück. Wenige Monate nach Hildes Tod hatte er das Erdgeschoss seines Hauses an die junge Ärztin vermietet. Über die hübsche, etwas zerbrechlich wirkende Frau wusste er nur wenig, außer dass sie viel arbeitete, zurückgezogen lebte und ihre Augen etwas zu ernst wirkten für eine junge Frau. Schon bei der ersten toten Maus war ihm aufgefallen, dass die junge Ärztin in der Nacht zuvor Dienst gehabt hatte. Galt ihr der Anschlag, war die tote Maus vielleicht der makabre Gruß eines verschmähten Liebhabers? In seiner letzten Berufsphase hatte Studer ein paarmal in Fällen von Stalking ermittelt, fast immer waren es junge, hübsche, etwas unnahbare Frauen gewesen. Und heute Morgen? Er erinnert sich plötzlich an die Haustür, die um sieben Uhr ins Schloss gefallen ist. Danach hat er sich noch einmal herumgedreht. Studer wird heiß und kalt, Scham erfasst ihn wegen seiner Nachlässigkeit.
Die junge Frau im Türspalt trägt noch um elf Uhr einen Morgenmantel und starrt ihn verdutzt an. Studer schaut an sich herunter und entdeckt an seinem feisten Körper die Polizeiuniform, die er abzulegen vergessen hat.
„Verzeihen Sie, eine alte Marotte von mir“, sagt er und entschuldigt sich auch für die Störung. Die kleinen, braunen, noch etwas verschlafenen Augen der Frau erinnern ihn an die Maus vom Morgen.
„Kennen Sie jemanden, der Ihnen nachstellt?“, fragt er die junge Frau in der direkten Art, die er stets anschlägt, wenn er ermittelt. Aus der ersten Gefühlsreaktion würde er vielleicht etwas ablesen können.
Die Ärztin schüttelt nur müde den Kopf und sagt leise: „Nein, warum?“ Knapp klärt er sie auf über die drei Mäuse, immer an einem Samstagmorgen, tot mit Süßigkeiten zwischen den Zähnen im Gang; alles Spitzmäuse übrigens. Dann holt er sein As, den Nachtdienst, aus dem Ärmel und schaut der jungen Frau tief in die Augen. Sie scheint zu überlegen.
„Halloween“, sagt sie mit einem plötzlichen Funkeln in den Augen.
„Wie bitte?“, fragt er überrascht zurück. Die junge Frau öffnet die Tür noch ein kleines Stück, so dass er ihre nackten Beine unter dem Morgenrock sehen kann. Jung müsste man noch einmal sein, sagt er sich, vertreibt seinen Impuls aber gleich wieder, wie eine lästige Fliege, die ihn von den Ermittlungen abhält.
Die Frau wird plötzlich munter und gestikuliert mit flinken Bewegungen: „Die Ratte hatte so eine spitz zulaufende Gesichtsmaske mit zwei abstehenden Zähnen und kleine Öhrchen aus zartrosa Fell, etwa wie die Lamellen von Champignons.“ In ihrem Gesicht entdeckt Studer den Stolz eines Schulmädchens, das gerade eine Aufgabe gelöst hat.
„Sind denn die Kinder nicht auch bei Ihnen vorbeigekommen, Herr Studer?“
In seinem Hirn beginnt es dumpf zu dämmern, aus dem Schoß der Dunkelheit flackert ein Licht vor ihm auf. Er muss an den Kommissar denken, der ihn immer mit seinem Namen ansprach, wenn er einen Bock geschossen hatte: „Studer, sollten Sie nicht den Tatort absperren? Studer, wie konnten Sie nur diese Spur übersehen?“
Also doch der Junge … Studer sieht den kleinen Haufen wieder vor sich, der sich am letzten Oktoberabend vor seiner Haustür versammelte: Kinder in schwarzen Kutten mit aufgemalten Skeletten, Spinnen und Fledermäusen. Nach einem kurzen „Guten Abend“ streckten ihm die Gestalten schwarze Beutel vor die Nase.
„Bedaure, keine Süßigkeiten im Haus, mein Arzt hat es mir verboten. Altersdiabetes“, erklärte Studer, die überdimensionierte Rattenmaske direkt vor seinen Augen. Im schmalen Schlitz konnte er die Augen ihres Trägers nicht erkennen. Die jungen Leute verharrten, als glaubten sie ihm nicht. Er wurde fuchtig: „Was soll das überhaupt werden? Mit Gevatter Tod erschreckt man keine alten Leute!“ Und an den Typen mit der Maske gewandt: „Wisst ihr denn nicht, was die Ratten den Menschen gebracht haben? Gar nichts scheint ihr zu wissen. Pest und Cholera haben sie gebracht! Aus der Stadt hat man sie hinausgejagt!“
Viel lauter, als Studer es gewollt hatte, war ihm der letzte Satz herausgerutscht. Mit einem Ruck drehte sich das Kind mit der Maske um, riss sie sich vom Kopf und rannte davon. Auch die anderen machten sich mit gesenkten Köpfen vom Acker. „Dein Beutel!“, rief Studer noch hinterher, da waren aber schon alle um die Ecke verschwunden. Er stellte den halb gefüllten Sack vor sein Haus, damit ihn die Kinder später wiederfänden.
„Herr Studer?“ Er zuckt kurz zusammen und sieht die junge Frau vor sich. Wie vor wenigen Stunden starren ihn wieder zwei bräune Äuglein an. „Nur mit den Augen der andern kann man seine Fehler sehen“, hatte der Kommissar einmal gesagt. Studer muss trocken schlucken.
„Ja, natürlich waren sie auch bei mir“, sagt er kleinlaut und mit müder Stimme. Dann entschuldigt er sich für die Störung und wünscht ihr noch einen schönen Tag. Während er über die Treppe in seine Wohnung entschwindet, sieht er noch den verwunderten Blick der Frau im Morgenrock auf sich gerichtet.