Stromausfall
Unter beunruhigendem Knarschen ließ sich der beschädigte Riegel meines Wohnsimmerfensters behelfsmäßig schließen. Es war wieder mal ein grauer Tag. Es regnete. Kalter, durchdringender Landregen. Vom Fenster aus sah das alles sehr deprimierend aus. Ton in Ton lagen die Felder und Wälder dort draußen da, ein Acrylbild, in dem sich die Konturen in Tränen vermischten.
Ich trank den letzten Schluck Kaffee aus meiner Tasse und drehte mich weg von diesem Schaubild, um mich wichtigeren Dingen zuzuwenden. Auf dem Tisch lag ein aufgeschlagener Schreibblock. Das Papier war jungfräulich weiß, idyllisch lag er da, der Block, harmlos, wie es schien. Ich setzte mich auf einen Stuhl, von dem ich den Block seitlich mit Argwohn und hochgezogener Augenbraue betrachten konnte. Eine Weile saß ich da, nur das unschuldig daliegende Objekt fixierend, bis mein Fokus sich umstellte und ich in gleicher Blickrichtung den Papierkorb betrachten konnte, der über und über gefüllt war mit bekritzelten, zerknüllten Papier. Weitere Papiermengen lagen ebenfalls zusammengedrückt oder zerrissen zerstreut um den Papierkorb herum.
Nachdem ich einmal schwer und mehr oder weniger resignierend Luft eingeatmet hatte, stieß ich den Stuhl zurück, setzte mich vor den leeren Schreibblock und zückte meinen Kugelschreiber.
Nach etwa zehn Sätzen und ein paar nachdenklichen Minuten riss ich das erste Blatt aus dem Block, weitere folgten. Irgendwann plagte mich die ganze Angelegenheit so, dass ich beschloss aus Frust fern zu sehen, um auf andere Gedanken zu kommen.
Die Wetternachrichten brachten die weniger erfreuliche Nachricht, dass es nachts zu weiteren Regenschauern und Stürmen kommen sollte. Nun auch durch das Fernsehen angenervt zappte ich lustlos durch das große, mittagliche Angebotsspektrum meines Recievers. Irgendwo auf Kanal 38 blieb ich hängen, weil ich keine Veranlassung mehr spürte einen höheren Level der Lustlosigkeit zu erreichen. Auf diese Weise kam ich also dazu, mich zum ersten Mal über die Vorzüge dieses Fitnessgeräts und jenes Scheuermittles aufklären zu lassen. Nach wenigen Minuten lag ich im tiefsten Schlaf auf der Fernsehcouch.
Als ich aufwachte war die Idee geboren. Überrascht von der Selbststeuerung meines Gehirns richtete ich mich schlagartig auf, vergaß das laufende Programm der Teleshops und eilte zu dem leeren Schreibblock, um dort etwas niederzuschreiben, von dem ich selbst nicht wusste, wo es eigentlich herkam.
Es war sehr erfreulich, nach so langer Zeit endlich wieder einen vernünftigen Einfall zu haben, mit dem sich eventuell auch etwas machen ließe. In kürzester Zeit war die erste Seite eines Schreibblockblattes gefüllt, weitere folgten. Nach einiger Zeit stellte sich heraus, dass es weniger eine Idee war, die sich da in meinem Kopf befunden hatte, nein, es war vielmehr der Stoff für ganze Romane und ich schaffte selbst in meiner schnellsten Stenoschrift nicht, meinen Gedankengängen zu folgen.
Es wurde Nachmittag, es wurde Abend und noch immer klang das feine Kritzeln meines Kulis durch die Dielen des Wohnzimmers, während der Regen hintergründig unentwegt gegen die Scheiben der Fenster prasselte. Der zuletzt leere Schreibblock ließ sein letztes leeres Papier fallen und wurde dann durch einen neuen ausgetauscht.
Um zehn Uhr, als bereits 37 eher bekritzelt als beschriebene Blätter die hölzerne Tischfläche bedeckten, beschloss ich vorerst einen Schlusstrich zu ziehen. Meine Nerven lagen mehr oder weniger brach. Es hätte keinen Sinn gemacht, weiterzuschreiben. Einzig das Ende war es, das mir fehlte. Ich konnte nicht einfach so den Stift hinlegen, kapitulieren vor der Einfallslosigkeit, die mich zuvor Wochen verfolgt hatte. Ich beschloss mich kurz auf die Couch zu legen, und mir ganz entspannt einen passenden Abschluss auszudenken. Doch wie es nun einmal so ist, wenn man sich nach langer Arbeit einmal hingelegt hat, verranten sich meine Ideen natürlich bald in der Traumwelt und ohne, dass ich etwas dagegen hätte tun können schloss ich meine Augen und folgte ihnen auf direktem Wege.
Was ich genau träumte weiß ich nicht mehr, nur ein kleiner Teil verfing sich in meinem Bewusstsein. Ich sitze im Auto und fahre eine lange, gerade Straße entlang, wohin weiß ich nicht. Dann beugt sich vor mir der Horizont, ich kann das Meer erkennen, erkenne die Wellen, wie sie leicht Schaumkronen an das Ufer schwemmen. Ich steige aus und sehe mich auf einem Felsen der ins Meer hineinreich sitzen. Ruhig sitze ich dort, lasse meine Füße in der Luft baumeln und schaue den Möwen zu, wie sie leicht durch die angenehm kühle Abendluft gleiten.
Dann höre ich einen Knall und mit einem Schlag verschwindet die ruhige See und die Möwen. Der Abendhimmel formt sich um in ein Gemisch von grauen und blauen Farben. Als der aufziehenden Sturm die ersten Wasserpartikel in mein Gesicht peitschten, schreckte ich auf.
Wie in Zeitlupe blickte ich mich im Zimmer um. Mein erster Blick fiel auf das Fenster, dass, vom Sturm aufgerissen laut gegen die Innenwand des Wohnzimmers schlug, während der Regen ungehindert in den Raum eindrang. Dann erkannte ich etwas weißes, dass an der Scheibe klebte, aufgeweicht, labberig, kurz vor dem Zerreißen. Ich begriff, reagierte aber nicht sofort. Ich sah wie weiße Fetzen nicht mehr die Tischplatte, sondern den Boden bedeckten, sah wie sie ausfgewirbelt wurden, vollkommen durchnässt wurden und anschließend ihren Weg nach draußen in die weite Welt suchten, irgendwohin, wo sie keiner lesen würde.
Der Schock ließ nach, ich sprang auf, fiel hin, hastete, griff nach dem Fensterknauf und stemmte mich gegen die zerstörerische Naturgewalt, wie Stunden kam es mir vor, dann irgendwann war Fenster geschlossen und der Riegel wieder behelfsmäßig festgestellt. Mit pochendem Herz lasse ich mich zu Boden sinken.
Ich brauche nicht zu erwähnen, dass ich nicht wieder angefangen habe, die Geschichte neu zu schreiben, dazu fehlte mir die Ausdauer, die Konzentration und vor allem die Motivation. Die Idee, so gut sie gewesen sein mochte, wollte sich in meinem Kopf nicht mehr ordnen lassen, geisterte noch einige Zeit in meinen Gehirnwindungen herum und irgendwann vergaß ich sie vollständig. Aber ab diesem Tage meidete ich die jegliche Nähe von Fenstern, wenn ich einen irgendeinen Text schrieb und achtete immer peinlichst darauf, dass sich die Dokumente während meiner Abwesenheit nicht in unmittelbarer Gefahr befanden.