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Stricken

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26.06.2015
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Stricken

Der blaue Wollfaden umschlang meinen Finger, während die Nadeln klapperten. Früher hätte ich für strickende Frauen in meinem Alter nur ein mitleidiges Lächeln übrig gehabt. Zeiten ändern sich. Jetzt war ich froh um jede Beschäftigung, die mir das endlose Warten erleichterte. Trotzdem erschien es mir in meiner Situation paradox, eine Mütze für den nächsten Winter zu stricken.
Anaplastisches Astrozytom.
Als ich damals zum ersten Mal diese Worte aus dem Mund des Arztes gehört hatte, schienen sie so weit weg, leere und unverständliche Phrasen. Eine Worthülse, mehr nicht.
So schlimm konnte es doch nicht sein.
Doch allmählich wandelte sich die Verdrängung in unerbittliche Gewissheit und die Krankheit wurde ungefragt Teil von mir. Es waren nicht nur die ständigen Schmerzen, die mich quälten, sondern das Gefühl, mich zu verlieren. Verlieren in der Anonymität aller Schicksale in jedem einzelnen dieser sterilen Krankenhauszimmer. In den ganzen medizinischen Begriffen, die ich nicht verstand, in der ab und zu aufflammenden Hoffnung. Ich erkannte mich nicht wieder, meine Situation ekelte mich an. Hatte ich einmal das Gefühl gehabt, eine taffe Frau zu sein, war ich jetzt nur noch ein ängstliches Etwas. Bemitleidenswert. Krank. Ja, einfach verdammt krank.

Da sass ich nun das erste Mal an diesem Mittwochnachmittag. Es schien alles so surreal, als wäre ich eine Figur in einem dramatischen Film. Als Zuschauerin hätte ich bestimmt bereits die eine oder andere Träne vergossen. Doch die Wirklichkeit war für mich in so weite Distanz gerückt, dass ich einfach tat, was für mich – so sagten alle Anderen – scheinbar das Beste sein würde.
Die Chemotherapie ist deine Chance.
Chance, klar. Ich war wütend. Erinnerte mich an eine Dokumentation über eine krebskranke Frau, die sich im Bewusstsein ihres bevorstehenden Todes noch möglichst viele ihrer Wünsche erfüllte.
Schwachsinn.
Ich wollte mich verkriechen, einhüllen mit dieser Sinnlosigkeit und einfach den Atem anhalten.
Die Nadel in meinem Arm brannte. Ich beobachtete die Flüssigkeit, wie sie mit stoischer Ruhe in den Infusionsbehälter tropfte. Ab und an blickte ich aus dem Fenster und sah den Regentropfen nach, die der Scheibe entlangglitten. Bis zum Stillstand am Fensterrahmen. Ende.

„Was machst du da?“ Mit ihren grossen Kulleraugen sah sie mich an. Auf dem riesigen Stuhl wirkte sie so klein und zerbrechlich. „Ich bin Jamie.“
„Na, stricken“, erklärte ich und versuchte, einen ganz normalen Gesprächston in meine Stimme zu legen. Traurig wollte ich auf keinen Fall klingen. Auf der Suche nach einem Rest übriggebliebener positiver Gefühle horchte ich in mich hinein. Als wäre ich es diesem Kind schuldig.
„Bist du traurig?“ Jamie streckte mir ihre zerzauste Plüschrobbe entgegen, wohl in der Hoffnung, dass ich dadurch zu einem unterhaltsameren Gesprächspartner würde.
„Nein. Vielleicht. Ich weiss nicht.“ Ich merkte, wie dieses einfache Gespräch mich zu überfordern begann.
„Ich bin schon sechseinhalb“, sagte sie stolz und zeigte die Zahl zur Bestätigung mit ihren Fingern. „Und du?“
„Fünfundreissig.“
Jamie zählte mein Alter ebenfalls an ihren kleinen Fingern ab, was einen Moment dauerte. Ganz ruhig sass sie da, wusste genau, was zu tun war. Warten.
„Ich möchte Ärztin werden. Mir gefällt es hier. Manchmal kommen Clowns vorbei und basteln Luftballonfiguren für mich.“ Sie strahlte mich an.
Ich hingegen war wie gelähmt. Mir war schlecht. Ich war doch krank. Todkrank. Dieses kleine Mädchen mit den lachenden Augen passte nicht in meinen Plan des Aufgebens. Jamie war Kampf. Lebensfreude. Und mir wurde bewusst, dass ich damit nicht umgehen konnte.

Von diesem Tag an bekamen die sterilen Mittwochnachmittage allmählich Farbe. Jamie sass oft neben mir und wir sprachen über Dinge, die normale Mädchen so taten. Mädchen wie wir. Es waren die banalsten und gleichzeitig schönsten Gespräche, die ich bisher geführt hatte. Sie besassen diese Selbstverständlichkeit des Lebens, ohne Dinge zu hinterfragen, auf die es keine Antwort gibt und geben kann.

Der erste Schnee dieses Jahres kam plötzlich. Schon auf dem Weg zum Krankenhaus schien die eisige Kälte in jede Pore meines Körpers kriechen und sich dort ausbreiten zu wollen. Als ich mich auf meinen Platz setzte, um die gewohnte Prozedur über mich ergehen zu lassen, sah ich lange aus dem Fenster, länger als sonst. Ich fröstelte noch immer.
Jamies Platz blieb an diesem Nachmittag unbesetzt. Auf ihren leeren Stuhl legte ich die Mütze, die ich für sie gestrickt hatte.

 

Hallöchen nevermind,

du hast dir ein gutes Thema für diese Geschichte ausgesucht und dieses auch gut beschrieben. Die Protagonistin ist glaubhaft und ihre Angst und Frustration kommen gut rüber, ohne dabei zu melodramatisch zu werden. Aber das Ende war etwas abrupt und kam mir ein bisschen so vor, als wolltest du doch noch schnell etwas Dramatik reinhauen. Auch hätte ich mir noch etwas mehr Details über die Gespräche zwischen der Protagonistin und Jamie gewünscht, man bekommt zwar den Anfang des ersten Gesprächs, und der Kontrast zwischen der verzweifelten Protagonistin und der lebensfrohen Jamie bietet viel Potenzial. Aber dann wird nur in einem kurzen Absatz erklärt, dass sie sich dann jeden Mittwochnachmittag miteinander unterhalten.
Wenn du die Gespräche und die aufkeimende Freundschaft zwischen den Beiden noch etwas stärker ausarbeiten und vielleicht noch ein paar Sätze mehr aufs Ende verwenden würdest, wäre die Geschichte (meiner bescheidenen Meinung nach :shy:) wesentlich stärker und würde mich als Leser noch mehr berühren, als sie es ohnehin schon tut.

MfG
NerdLion

 

Hey NerdLion

Stimmt, es ist alles sehr kurz. Gerade das wollte ich. Aber vielleicht funktioniert es hier nicht. Nicht mit diesem Thema, nicht mit diesem angerissenen Dialog. Wegen der Dramatik: Das wollte ich eigentlich gerade nicht - schade, dass es so rüberkommt :) Ich hatte vor, alles ruhig zu erzählen, trotz der Traurigkeit der Thematik.
Danke fürs Lesen!

Herzlich, nevermind


hey Lidl

Ich danke dir, schön zu hören!

Herzlich, nevermind


Lieber flammbert

Wegen dem ß: Kann ich verstehen, dass du darauf kommst, immerhin bin ich hier in einem deutschen Forum und wurde das deshalb bereits ein paar Mal gefragt. Wäre trotzdem schön, jeweils zuerst einen kurzen Blick auf mein Profil zu werfen, woraus man dann entnehmen kann, dass ich aus der Schweiz bin und wir das ß einfach nicht kennen ;)

Wegen den 6 1/2 Fingern: Stimmt, das habe ich mir gar nicht überlegt... :hmm:

Ich kann deine Meinung absolut nachvollziehen. Wie gesagt, ich wollte es bewusst so kurz halten, aber ich weiss nicht, ob das mit diesem Thema funktioniert. Ich wollte die Familie und deren Gefühle bewusst nicht miteinbeziehen, es sollte eine Momentaufnahme zweier Personen sein, die sich aufgrund des Schicksals, das sie teilen, begegnen. Ich sehe aber ein, dass das hier nicht geklappt hat.

Danke trotzdem fürs Lesen ;)

Herzlich, nevermind

 

Hallo Nevermind,

mir gefällt die Geschichte. Sie ist melancholisch ohne weinerlich zu sein und gut durchkomponiert.

Weswegen ich aber hier kommentiere:

„Ich bin schon sechseinhalb“, sagte sie stolz und zeigte die Zahl zur Bestätigung mit ihren Fingern. „Und du?“
„Fünfundreissig.“
Jamie zählte mein Alter ebenfalls an ihren kleinen Fingern ab, was einen Moment dauerte. Ganz ruhig sass sie da, wusste genau, was zu tun war. Warten.
„Ich möchte Ärztin werden. Mir gefällt es hier. Manchmal kommen Clowns vorbei und basteln Luftballonfiguren für mich.“ Sie strahlte mich an.
Sehr schön, richtig anrührend...

Nur warum heißt das Mädchen eigentlich Jamie? Für mich (und gewiss wirst du mich eines besseren belehren;) ist das eine Kurzform von James und männlich ...

Von diesem Tag an bekamen die sterilen Mittwochnachmittage allmählich Farbe. Jamie sass oft neben mir und wir sprachen über Dinge, die normale Mädchen so taten. Mädchen wie wir. Es waren die banalsten und gleichzeitig schönsten Gespräche, die ich bisher geführt hatte. Sie besassen diese Selbstverständlichkeit des Lebens, ohne Dinge zu hinterfragen, auf die es keine Antwort gibt und geben kann.

Und dieser Abschnitt ist mehr Ankündigung, klingt gut, wird aber zum Allgemeinplatz, weil du die alte "Wortkriegerweisheit" show don't tell nicht beherzigst, dabei war der Dialog zwischen den beiden zuvor schin wirklich gut, aber welche Gespräche Mädchen so führen möchte ich schon lieber hören als erzählt bekommen, wie sie sind oder sein sollen.

und muss es nicht heißen: wir sprachen über dinge über die mädchen so sprechen oder wir taten das, was mädchen so tun?

viele Grüße
Isegrims

 

Hey Isegrims

Danke für deine netten Worte;)

Wegen dem Namen "Jamie": Ja, ich weiss nicht warum, aber für mich ist dieser Name irgendwie weiblich :) Es gibt, soweit ich weiss, Mädchen, die Jamie heissen, dann ist es aber keine Abkürzung. Jamie als Abkürzung von James etc. wäre natürlich dann männlich :)

Es stimmt, das fällt mir im Nachhinein immer mehr auf, dass dieser kurze Absatz einen beispielhaften Dialog oder was auch immer nicht ersetzen kann. Ich wollte es damit versuchen, um eine Zeitspanne zu überbrücken, ohne konkret zu werden, aber das funktioniert glaube ich nicht. Ich werde mir dafür was einfallen lassen, ich glaube auch, dass die Geschichte dadurch gewinnen würde.

Naja, kann man nicht auch über Dinge sprechen, die Mädchen so tun? :D Ich weiss es nicht, für mich klangs beim Schreiben logisch, aber sicher bin ich mir nicht ;)

Herzlich, nevermind

 

Hallo nevermind,

da hast du eine traurig-schöne Geschichte geschrieben. EIn kleines Mädchen durchkreuzt die Pläne einer resignierten Frau.

Als ich damals zum ersten Mal diese Worte aus dem Mund des Arztes gehört hatte, schienen sie so weit weg, leere und unverständliche Phrasen. Eine Worthülse, mehr nicht.
Den letzten Satz könntest du nach meinem Empfinden weglassen.

Doch allmählich wandelte sich die Verdrängung in unerbittliche Gewissheit und die Krankheit wurde ungefragt Teil von mir. Es waren nicht nur die ständigen Schmerzen, die mich quälten, sondern das Gefühl, mich zu verlieren. Verlieren in der Anonymität aller Schicksale in jedem einzelnen dieser sterilen Krankenhauszimmer.
Hm, das ist mir irgendwie zu... distanziert. So "unpersönlich". Ich weiß nicht, ob das Absicht war, weil du später schreibst, dass ihr die Wirklichkeit plötzlich so weit weg vorkommt?

Hatte ich einmal das Gefühl gehabt, eine taffe Frau zu sein, war ich jetzt nur noch ein ängstliches Etwas. Bemitleidenswert. Krank. Ja, einfach verdammt krank.
das finde ich sehr authentisch, auch das Ekelgefühl. Und der letzte Satz ist toll!

Auf der Suche nach einem Rest übriggebliebener positiver Gefühle horchte ich in mich hinein. Als wäre ich es diesem Kind schuldig.
Das gefällt mir auch!

Es waren die banalsten und gleichzeitig schönsten Gespräche, die ich bisher geführt hatte.
Hier fände ich es schön, wenn du genau diese Gespräche erzählen würdest.
Der Text ist insgesamt sehr kurz, ich konnte weder der Protagonistin, noch Jamie so wirklich nahe kommen. Ich hätte mir einfach noch weitere Gespräche zwischen den beiden dort im Krankenhaus (?) gewünscht.

(ich seh grad dass Isegrims das Gleiche geschrieben hat... sorry für die Wiederholung!)

Vielleicht hast du ja Lust, da noch weiterzuschreiben, ich würds jedenfalls gern lesen :)

Liebe Grüße,
Tintenfisch

 

Hallo nevermind,

Die Geschichte weckt Gefühle. Obwohl sie kurz ist, hat sie eine starke Aussagekraft.
Und diese Stärke verliert sie, wenn Du zu sehr ins Detail gehst. Ich meine damit z.B. die Gespräche der Protagonistin mit Jamie. Ich finde es gut so.

Es ist nicht einfach, die Diagnose eines Hirntumors zu bekommen und sich damit auseinander zu setzen.
Dass die Frau während der Chemotherapie eine Mütze für den nächsten Winter strickt zeigt mir, dass sie sich damit nicht nur das endlose Warten erleichtern will, sondern dass sie sich der grossen Herausforderung stellt.

[Jamies Platz blieb an diesem Nachmittag unbesetzt. Auf ihren leeren Stuhl legte ich die Mütze, die ich für sie gestrickt hatte.]
Dieser letzte Satz geht unter die Haut. Jamies Platz wird vermutlich auch in Zukunft leer bleiben.

Sehr gerne gelesen.
Alles Gute wünscht Dir
Marai

 

Hey Tintenfisch und Marai

Ich hatte im ganzen Trubel der letzten Woche völlig vergessen, euch zu antworten und vorallem fürs Lesen meiner Geschichte zu danken :) Das ist eigentlich nicht meine Art, deshalb hole ich das jetzt auf jeden Fall noch nach, auch wenn inzwischen schon eine Woche vergangen ist...


Zuerst zu deinem Kommentar, Tintenfisch:

Ich weiss jetzt im Nachhinein gar nicht mehr, wieso ich mir dachte, dass der kurze Text es wert wäre, hier ins Forum gestellt zu werden. Jetzt, mit etwas Abstand, ist er in meinen Augen zu oberflächlich. Ich wollte tatsächlich nur einen Abriss einer unglaublich schweren Situation zeigen, ein Aufeinandertreffen zweier Menschen durch ihr Schicksal, welches sie miteinander verbindet. Das hat aber nicht wirklich so hingehauen, wie ich mir das gedacht habe :)

Ich danke dir trotzdem herzlich fürs Lesen und deine konstruktive Kritik!
Nevermind


Marai:

Ich finde es interessant, dass du anderer Meinung bist als die meisten deiner "Vorkommentatoren" ;) Das freut mich natürlich umso mehr!

Herzlich, nevermind

 

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