Stricken
Der blaue Wollfaden umschlang meinen Finger, während die Nadeln klapperten. Früher hätte ich für strickende Frauen in meinem Alter nur ein mitleidiges Lächeln übrig gehabt. Zeiten ändern sich. Jetzt war ich froh um jede Beschäftigung, die mir das endlose Warten erleichterte. Trotzdem erschien es mir in meiner Situation paradox, eine Mütze für den nächsten Winter zu stricken.
Anaplastisches Astrozytom.
Als ich damals zum ersten Mal diese Worte aus dem Mund des Arztes gehört hatte, schienen sie so weit weg, leere und unverständliche Phrasen. Eine Worthülse, mehr nicht.
So schlimm konnte es doch nicht sein.
Doch allmählich wandelte sich die Verdrängung in unerbittliche Gewissheit und die Krankheit wurde ungefragt Teil von mir. Es waren nicht nur die ständigen Schmerzen, die mich quälten, sondern das Gefühl, mich zu verlieren. Verlieren in der Anonymität aller Schicksale in jedem einzelnen dieser sterilen Krankenhauszimmer. In den ganzen medizinischen Begriffen, die ich nicht verstand, in der ab und zu aufflammenden Hoffnung. Ich erkannte mich nicht wieder, meine Situation ekelte mich an. Hatte ich einmal das Gefühl gehabt, eine taffe Frau zu sein, war ich jetzt nur noch ein ängstliches Etwas. Bemitleidenswert. Krank. Ja, einfach verdammt krank.
Da sass ich nun das erste Mal an diesem Mittwochnachmittag. Es schien alles so surreal, als wäre ich eine Figur in einem dramatischen Film. Als Zuschauerin hätte ich bestimmt bereits die eine oder andere Träne vergossen. Doch die Wirklichkeit war für mich in so weite Distanz gerückt, dass ich einfach tat, was für mich – so sagten alle Anderen – scheinbar das Beste sein würde.
Die Chemotherapie ist deine Chance.
Chance, klar. Ich war wütend. Erinnerte mich an eine Dokumentation über eine krebskranke Frau, die sich im Bewusstsein ihres bevorstehenden Todes noch möglichst viele ihrer Wünsche erfüllte.
Schwachsinn.
Ich wollte mich verkriechen, einhüllen mit dieser Sinnlosigkeit und einfach den Atem anhalten.
Die Nadel in meinem Arm brannte. Ich beobachtete die Flüssigkeit, wie sie mit stoischer Ruhe in den Infusionsbehälter tropfte. Ab und an blickte ich aus dem Fenster und sah den Regentropfen nach, die der Scheibe entlangglitten. Bis zum Stillstand am Fensterrahmen. Ende.
„Was machst du da?“ Mit ihren grossen Kulleraugen sah sie mich an. Auf dem riesigen Stuhl wirkte sie so klein und zerbrechlich. „Ich bin Jamie.“
„Na, stricken“, erklärte ich und versuchte, einen ganz normalen Gesprächston in meine Stimme zu legen. Traurig wollte ich auf keinen Fall klingen. Auf der Suche nach einem Rest übriggebliebener positiver Gefühle horchte ich in mich hinein. Als wäre ich es diesem Kind schuldig.
„Bist du traurig?“ Jamie streckte mir ihre zerzauste Plüschrobbe entgegen, wohl in der Hoffnung, dass ich dadurch zu einem unterhaltsameren Gesprächspartner würde.
„Nein. Vielleicht. Ich weiss nicht.“ Ich merkte, wie dieses einfache Gespräch mich zu überfordern begann.
„Ich bin schon sechseinhalb“, sagte sie stolz und zeigte die Zahl zur Bestätigung mit ihren Fingern. „Und du?“
„Fünfundreissig.“
Jamie zählte mein Alter ebenfalls an ihren kleinen Fingern ab, was einen Moment dauerte. Ganz ruhig sass sie da, wusste genau, was zu tun war. Warten.
„Ich möchte Ärztin werden. Mir gefällt es hier. Manchmal kommen Clowns vorbei und basteln Luftballonfiguren für mich.“ Sie strahlte mich an.
Ich hingegen war wie gelähmt. Mir war schlecht. Ich war doch krank. Todkrank. Dieses kleine Mädchen mit den lachenden Augen passte nicht in meinen Plan des Aufgebens. Jamie war Kampf. Lebensfreude. Und mir wurde bewusst, dass ich damit nicht umgehen konnte.
Von diesem Tag an bekamen die sterilen Mittwochnachmittage allmählich Farbe. Jamie sass oft neben mir und wir sprachen über Dinge, die normale Mädchen so taten. Mädchen wie wir. Es waren die banalsten und gleichzeitig schönsten Gespräche, die ich bisher geführt hatte. Sie besassen diese Selbstverständlichkeit des Lebens, ohne Dinge zu hinterfragen, auf die es keine Antwort gibt und geben kann.
Der erste Schnee dieses Jahres kam plötzlich. Schon auf dem Weg zum Krankenhaus schien die eisige Kälte in jede Pore meines Körpers kriechen und sich dort ausbreiten zu wollen. Als ich mich auf meinen Platz setzte, um die gewohnte Prozedur über mich ergehen zu lassen, sah ich lange aus dem Fenster, länger als sonst. Ich fröstelte noch immer.
Jamies Platz blieb an diesem Nachmittag unbesetzt. Auf ihren leeren Stuhl legte ich die Mütze, die ich für sie gestrickt hatte.