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- 11.10.2019
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Inhaltswarnungen
- Behandlung von Suizid.
- Darstellung zweier geplanter, wenn auch nicht durchgeführter Suizide.
- Behandlung von Traumata, deren Ursprünge in Krieg oder körperlicher Misshandlung liegen.
- Darstellung von bewaffneten und unbewaffneten Nahkampf (Kein Blut/sichtbare Verletzungen).
- Darstellung von Schusswaffengewalt (Mehrere Treffer auf dieselbe Person).
- Verwendung von Schimpfwörtern, unter anderen das F-Wort und A[...]loch.
Strick & Pistole
“Strick!”, sagte Gabe schließlich und steckte seine Pistole weg. Er sah sich nach einer geeigneten Stelle an der Decke um, an dem er den Strang, den er früher zum Abseilen genutzt hatte, befestigen konnte und wurde an einen Querbalken fündig, der noch einigermaßen robust aussah.
Er stellte einen Klappstuhl unter den Balken und begann, mit zitternden Fingern das Seil festzubinden. Nachdem er sich vergewisserte, dass es die richtige Länge hatte, knotete er die Schlaufe am anderen Ende des Seils.
Dann stieg er vom Stuhl, sah sich sein Werk an und stellte sich zum letzten Mal die Frage: “Will ich das wirklich?”
Nach einigen Minuten kam er zur Antwort, die er sich in den letzten Wochen immer wieder gegeben hat: “Ja, ich will es.”
Der Soldat stellte einen Fuß auf den Klappstuhl. Nach einigen Momenten folgte der andere, welcher den restlichen Körper nach sich zog. Er drehte sich um, sodass er direkt durch die Schlaufe sah. Er griff mit beiden Händen nach ihr, zog sie an sich heran und…
“Komm schon, Michelle, du schaffst das! Du hast es schon so oft getan, jetzt ist es nur etwas tiefer.”
Die Stimme aus dem Nebenraum unterbrach ihn. Er ließ die Schlaufe los und stieg wieder vom Stuhl. Gabe griff nach seiner Pistole, entsicherte sie und öffnete die Tür einen Spalt. Eine Frau mit schwarzen, etwa schulterlangen Haar stand mit den Rücken zu ihm an der gegenüberliegenden Wand des Raums.
“Du schaffst das! Es ist dein einziger Ausweg!”, rief sie sich selbst zu.
Gabe überprüfte die Ecken links und rechts von der Tür, dann trat er in den Raum. Er umfasste seine Waffe mit beiden Händen und zielte auf ihren Kopf.
“Umdrehen! Sofort!”
Das Mädchen fuhr herum. Sie war blass, hatte blaue Augen und ein Cuttermesser in der Hand, dass sie über ihren linken Arm hielt. Einen kurzen Augenblick sah sie Gabe erschrocken an, doch dann begann sie zu lächeln.
Gabe zuckte unwillkürlich zusammen, als das Mädchen ruckartig die Arme nach oben riss und rief: “Töte mich!”
“Äh, bitte was?!”, fragte Gabe und ließ seine Waffe leicht sinken.
“Töte mich!”, forderte das Mädchen erneut und hängte ein leiseres “Bitte.” an.
“Wieso?”
“Weil ich nicht mehr leben will.”, erklärte sie ruhig, “Bitte, tun sie mir den Gefallen. Ich meine, sie hatten es doch sowieso vor, oder?”
Gabe sah sich nervös um. War das ein Trick? Aber der Raum hatte keine Fenster oder Nebeneingänge. Die wenigen Möbel, die hier herumstanden, waren zu klein, um sich dahinter zu verstecken. Nein, das war keine Falle. Wie es aussah hatte er eine Gleichgesinnte gefunden.
Gabe überlegte kurz, dann sagte er: “Nein, das kann ich nicht tun.”
Das Lächeln im Gesicht des Mädchens löste sich auf und sie verschränkte die Arme, “Schön, dann gehen sie bitte. Wenn sie mir schon nicht helfen wollen, geben sie mir wenigstens etwas Privatsphäre.”
“Gut.”, sagte Gabe und zuckte mit den Achseln, “Wenn du mich dann auch in Ruhe lässt.”
“Natürlich werde ich das.”
“Dann ist ja gut.”
Mit diesen Worten warf er die Tür hinter sich zu, steckte seine Waffe weg und wandte sich wieder seinen Strick zu. Einen Moment dachte er noch daran, ob er mit ihr reden sollte, aber dann schüttelte er bloß den Kopf. Sie hatte sich so wie er dafür entschieden, ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Gabe fände es respektlos, nein sogar heuchlerisch, ihr das auszureden. Wenigstens würde er das denken, wenn man das bei ihm versuchen würde.
Wie dem auch sei, diese Begegnung hatte ihn aus dem Konzept gebracht und er brauchte etwas Zeit, um wieder in die Sache reinzukommen. Er ging um den Stuhl herum, betrachtete die Schlaufe, das Seil und den Knoten aus allen Winkeln, als wäre das Ganze ein meisterhaftes Gemälde, dessen Sinn er zu ergründen suchte.
“Der Knoten hält nicht.”, sagte das Mädchen durch den Spalt der leicht offen stehenden Tür, durch den sie in den Raum hinein sah.
“Wollten wir uns nicht in Ruhe lassen?”, fragte Gabe, nachdem er sich zu ihr umgedreht hatte. Er war nicht genervt, nur etwas überrascht.
“Tut mir leid, aber die Neugier hat mich gepackt.”, sagte sie und trat hinein, “Ich wollte sehen, was sie hier tun. Und so, wie der Knoten aussieht, wird es ihnen nicht gelingen. Ist das ihr erster Strick?”
Gabe kratzte sich am Kopf. Sollte er ihr es sagen? Warum nicht, in ein paar Minuten war er sowieso nicht mehr hier.
“Ja. Zumindest mein erster Strick dieser Art.”
“Das sieht man. Sie haben die Schlaufe falsch gewickelt. Die löst sich, bevor es zum Abschluss kommt.”, sie trat einen Schritt auf die Schlaufe zu, “Darf ich? Ich kenne mich ein wenig damit aus.”
“Ähm… Okay...”
Das Mädchen stellte sich auf den Klappstuhl und knotete mit einigen wenigen Handgriffen die Schlaufe auf. Während sie beschäftigt war, musterte Gabe seinen Überraschungsgast von der Seite.
Ihrem Gesicht nach, dass zwar einige große Narben, aber keine markanten Falten aufwies, war sie in ihren 20ern, vielleicht ein wenig darunter. Sie trug eine schwarze, vor allem im Kniebereich stark zerrissene Hose und einen weiten, dunkelgrauen Pullover. Die Ärmel des Pullovers rutschten bei der Arbeit ein wenig nach unten und gaben so den Blick auf mehrere horizontale Narben am Unterarm sowie ähnlich geformte Wunden, die noch nicht ganz verheilt waren, frei.
“So, fertig.”, sagte sie und stieg vom Stuhl herab, “Das sollte halten.”
Zum Beweis zog sie einmal heftig an der Schlaufe, sodass sie zwar nicht zu ging, aber dennoch das Seil belastete.
“Äh, Danke, denk ich mal.”, sagte Gabe, immer noch etwas unsicher, was er mit der Situation anfangen sollte.
“Kein Problem.”, sagte das Mädchen und lächelte.
Dieses Lächeln warf in Gabe die Frage auf: “Warum will jemand so freundliches und lebensfrohes sich das Leben nehmen?”
Die Antwort gab er sich selbst: “Du kennst sie nicht, Gabriel. Wer weiß, was sie durchgemacht hat. Und nach ihren Narben muss das schon Einiges sein.”
Schließlich riss der Gegenstand seiner Überlegungen ihn aus seinen Gedanken: “Alles in Ordnung bei ihnen? Sie wirken etwas abwesend.”
“Äh, ja, ich habe nur gerade an dich gedacht.”
Das Mädchen sah ihn schräg an: “An mich?”
Gabe, der jetzt erst merkte, was er gerade gesagt hatte, versuchte sofort und stotternd Schadensbegrenzung zu betreiben: “Nein! Ich meine ja, schon irgendwie, aber nicht so, wie du jetzt denkst...”
“Ich kann ihnen nicht folgen.”, sagte sie und sah sich dabei nervös um.
“Ich meine, es ist jetzt nichts Romantisches, oder so! Ich meine nicht, dass du jetzt nicht attraktiv bist oder so, ich sag bloß, dass ich daran nicht gedacht habe! Ich habe überhaupt nicht daran gedacht, ich habe bloß über dich nachgedacht. Also nicht über dich persönlich, ich meine irgendwie schon, es war bloß… Also… Äh… Ich...”
In seiner Suche danach, seinen Satz fortzusetzen und der Peinlichkeit des Moments ein Ende zu bereiten, sagte er schließlich: “Ladies first.”, während er Richtung Strick gestikulierte.
Stille trat ein.
Die Gedanken in seinen Kopf überschlugen sich: “Habe ich gerade jemanden angeboten, sich zu erhängen, bevor ich es mache? Mann, das muss das Abgefuckteste sein, was ich jemals gesagt habe! Ernsthaft, das ist die schlechteste Situation, jemanden “Ladies first” anzubieten. Was zur Hölle habe ich mir dabei gedacht!”
“Ich bedanke mich für das Angebot, aber ich würde es bevorzugen, wenn sie zuerst gehen.”, sagte das Mädchen freundlich.
Jetzt sah Gabe sie schräg an: “Okayyyy…. Wieso?”
“Nun...”, sie lächelte verlegen, “Nichts gegen sie, aber ich kenne sie nicht und weiß nicht, ob sie meine Leiche… Nun ja, missbrauchen könnten.”
“Okay, erstens: Yikes!”, sagte Gabe mit verschränkten Händen vor der Brust: “Zweitens: Egal, wo du dich in dieser Stadt umbringst, rein theoretisch könnte überall irgendwer kommen und mit deiner Leiche…”, Gabe stockte für einen kurzen Moment, “Du weißt schon, was machen! Ist bloß eine Frage der Zeit.”
“Das ist natürlich korrekt. Aber sehen sie: wenn ich mir irgendwo das Leben nehme, wo sich kein Mensch befindet, dann denke ich in meinen letzten Minuten nicht daran, da es ja noch etwas dauern wird, bis man mich findet. Wie gesagt, nichts gegen Sie persönlich, aber wenn sie dabei sind, wenn ich den Schlussstrich ziehe, dann muss ich die ganze Zeit daran denken, was sie tun könnten. Nicht, dass sie es wirklich tun würden, aber das sie es tun könnten, verstehen sie.”
“Hey, das Gleiche könnte auch ich sagen!”, verteidigte sich Gabe, “Schließlich sind es nicht nur Männer, die… das tun. Ich habe schon einige Frauen in dieser Stadt dabei beobachtet, wie sie sich an Leichen vergehen.”
“Sie haben Frauen dabei zugesehen, wie sie Nekrophilie ausüben?”, fragte das Mädchen etwas erschrocken.
“Ja!”, sagte Gabe etwas zu sicher und versuchte sofort, die Aussage zu relativieren: “Aus der Ferne natürlich! Mit meinem Fernglas! Und ich habe dann natürlich sofort weggesehen. Aber glaub mir: das, was da ablief, war definitiv nicht der tränenreiche Abschied von einem geliebten Freund.”
“Hm, guter Einwand. Wir befinden uns wohl in einer Patt-Situation. Ich würde sie schließlich ungern verscheuchen wollen und andererseits kann ich auch nirgendwo hin.”
“Tja, während wir versuchen, das Ganze zu lösen…”, Gabe holte eine Zigarettenschachtel aus der Brusttasche seiner Militärjacke: “...wie wär´s mit ner Zigarette?”
“Dieses Angebot nehme ich dankend an, Herr…?”
Gabe reichte ihr die Packung hin: “Gabriel. Aber nenn mich einfach nur Gabe. Mann, du bist echt die förmlichste Person, der ich in dieser ganzen, verfluchten Stadt jemals begegnet bin! Zumindest seit den Bomben.”
Sie griff nach einer Zigarette: “Tja, was man in der Kindheit gelernt hat, das vergisst man so schnell nicht. Ich heiße übrigens Michelle.”
“Schöner Name. Eine meiner Cousinen heißt so.”
Sie lächelte: “Danke. Nach einem Erzengel benannt zu sein, ist aber auch nicht schlecht.”
“Glaub mir, ich bin weder ein Engel noch ein Heiliger.”
“Natürlich. Was ich damit meinte war, dass ihr Name eine schöne Bedeutung hat.”
“Ja, Gott ist meine Stärke. Eigentlich wäre es besser, wenn unser Prediger so heißen würde anstatt ich.”
“Prediger?”
“Einer meiner Kameraden. Wir nennen ihn so, weil er gläubig ist. Und wenn ich gläubig sage, dann meine ich extrem gläubig. Manchmal kommt es mir so vor, als ob der Typ nur in Bibelversen reden würde. Ist aber ein guter Kerl.”
“Das ist bei einigen Christen so. Sie erscheinen auf den ersten Blick nervtötend, aber wenn es darauf ankommt, sind sie für einen da und stehen einem bei.”
“Tja, im Moment steht uns beiden auf jeden Fall keiner bei. Was das Sterben angeht sind wir ganz allein.”
“Nun, so ganz stimmt das nicht, Gabriel. Auch wenn keiner von uns jemanden an der Seite hat, den er gut kennt, so sind wir doch nicht wirklich allein, solange einer von uns noch hier ist.”
“Tja, das ist auch wieder wahr…”
Einige Momente zogen die beiden stumm an ihren Zigaretten. Gabe brannte eine Frage auf der Zunge, doch er konnte sich nicht dazu überwinden, sie zu stellen. Michelle ging es wohl genauso, denn sie wechselte ständig ihre Pose und sah zu Gabe hinüber, nur um dann wieder schnell wegzusehen.
“Also… Ähm...”, begann Gabe zögerlich, “Warum… Also wieso… Ich meine, weshalb bist du… Ach egal.”
“Du kannst die Frage ruhig stellen, Gabe, aber ich beantworte sie nur, wenn du dann meine Frage beantwortest.”
“Klingt nach nen fairen Deal. Also, warum willst du dich umbringen?”
Michelle sammelte ihr Haar mit einer Hand in einen Zopf und hob es an. Jetzt konnte Gabe den Strichcode sehen, der auf ihren Hals tätowiert war und sie ganz klar als Sklavin markierte.
“Ich verstehe.”, sagte Gabriel, während sie ihr Haar wieder richtete, “Und wen “gehörst” du?”
Das gehörst markierte er sowohl auditiv als auch gestikulierend mit Gänsefüßchen. Als Amerikaner war ihm Menschenhandel zutiefst zuwider, schon allein deshalb, weil einer seiner Vorfahren im Bürgerkrieg auf der Seite der Union gekämpft hat. Nichtsdestotrotz war es jetzt eine Realität im einst demokratischen Deutschland geworden, woran das Land Of The Free durchaus seinen Anteil hatte.
“Maestro Stefano.”, antwortete Michelle.
Gabe fiel fast die Zigarette aus dem Mund.
“Der Schmerzenskünstler?!”
“Eben jener.”
“Okay, das… erklärt, warum du hier bist. Und die Narben an deinen Arm.”
“Oh, die am Arm, die stammen größtenteils von mir.”
“Du bist nen Cutter?”, fragte Gabriel mit hochgezogenen Augenbrauen.
Michelle krempelte ein wenig den rechten Ärmel hoch und strich sich mit der linken Hand beiläufig über die Wunden, während sie antwortete.
“Ich weiß, es klingt seltsam, aber der Schmerz, den ich mir zufüge, lenkt mich irgendwie von dem Schmerz ab, den er mir zufügt.”
“Wurdest du oft von ihm… “verewigt”?”
Michelle ließ den Ärmel wieder zurückfallen.
“Ja, Stefano hatte von Anfang an aus irgendeinem Grund großes Gefallen an mir und meiner, wie er sagt, “extraordinären Passion”. Und wenn er einmal Gefallen an dir gefunden hat, lässt er dich nicht mehr gehen, egal, wie oft und wie weit du wegläufst. Er findet dich immer. Fast wie ein Fluch, den man nicht brechen kann.”
Michelle seufzte und fuhr sich über die Narben im Gesicht, dann fasste sie sich und sagte: “Also, jetzt bin ich an der Reihe. Warum willst du dir das Leben nehmen, Gabe?”
“Um es kurz zu machen...”, Gabe presste seine Zigarette an der Wand aus, “Hoffnungslosigkeit und Schuldgefühle.”
“Ah, verstehe.”, sagte Michelle und zog an ihrer Zigarette.
Gabriel stemmte seinen rechten Arm in die Hüfte: “Ist das alles? Willst du mich nicht fragen, was ich genau damit meine oder so?”
“Schon, aber da du nichts gesagt hast, ging ich davon aus, dass du nicht darüber reden willst und wollte mich nicht aufdrängen.”, erklärte Michelle hastig.
“Tja, falsch gedacht, Michelle. Also los, frag mich!”, forderte Gabriel sie auf.
Michelle zuckte mit den Achseln: “Wenn du das so willst, Gabriel. Also, was genau meinst du mit Hoffnungslosigkeit und Schuldgefühlen?”
“Nun, mein Land hat mich im Stich und in den Trümmern dieser gottverdammten Stadt zurückgelassen. Außerdem bin ich einer von fünf Überlebenden eines Bataillons, welches während des verfluchten Bombenregens ansonsten völlig ausgelöscht wurde und ich frage mich bis heute, warum es die besten Männer und Frauen der Welt getroffen hat und nicht mich, das nutzloseste Arschloch der gesamten Truppe. Dazu kommt noch die beschissene Gewissheit, dass ich Mitschuld daran bin, dass dieses Land in Trümmern liegt und dass Menschen wie du als Sklaven misshandelt werden.”
“Aber du kannst doch gar nichts dafür, dass die Amerikaner die Bomben geworfen haben.”, wandte Michelle ein.
“Michelle, ich bin Teil der United States Armed Forces. Was mich angeht, bin ich für jeden Fuck-Up meines Landes mitverantwortlich, vor allem, wenn es darum geht, die Hälfte der Bevölkerung einer unschuldigen Nation geht.”, erklärte Gabe und sah ihr dabei direkt in die Augen.
“Aber ihr hattet doch gar keine Wahl!”, sagte Michelle, “Entweder ein Land in Schutt und Asche legen oder die totale Vernichtung von mindestens sechs zulassen. Außerdem...”
“LASS ES!”, schrie Gabe, “ICH WILL DAS NICHT HÖREN!”
Michelle sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Gabriel atmete für einige Momente angestrengt, dann ließ er den Kopf fallen und verbarg sein Gesicht in den Händen.
Er verharrte so einige Minuten. Michelle sah ihn noch einige Zeit erschrocken an, dann drückte sie ihre Zigarette aus, stellte sich neben ihn und legte ihre Hand auf seinen Rücken. Der Stoff seiner Jacke war rau und warm.
Nach einigen Minuten richtete sich Gabriel wieder zur vollen Größe auf, fuhr sich mit der Hand übers Haar und atmete einmal tief durch, bevor er wieder zu reden begann:
“Tut mir leid, ich wollte dich nicht anschreien, Michelle.”, sagte er mit einem Seufzen, “Ich weiß, dass du mich zu trösten versuchst, und ich schätze dein Mitgefühl, aber lass es bitte einfach. Alles, was du sagen könntest, würde nichts daran ändern, dass mein Land verkackt hat und damit habe auch ich es verkackt!”
Michelle senkte leicht den Kopf: “Tut mir leid, ich wollte dir nicht zu nahe treten, Gabriel.”
Gabe klopfte ihr lächelnd auf die Schulter: “Vergiss es. Ich bin eben etwas sensibel, was das Thema angeht. Selbst meine Verlobte regt sich darüber auf.”
“Du bist verlobt?”
“Ja. Warte kurz.”. Gabe kramte ein Foto aus seiner linken oberen Jackentasche hervor und zeigte es Michelle. “Das ist meine Rose.”
Auf den Bild war Gabe in einen schwarzen Dienstanzug mit goldenen Streifen, vielen verschiedenen Abzeichen an der Brust und schwarzen Barett zu sehen, wie er eine etwa einen Kopf kleinere braunhaarige Frau in ähnlicher Kleidung in den Arm hielt und zusammen mit ihr in die Kamera lächelte.
Michelle sah sich das Bild genau an und sagte schließlich: “Haben sie und Rose zusammen trainiert?”
Gabe pfiff anerkennend: “Du kennst dich ja richtig aus, Respekt! Jep, das Foto wurde bei unserer Abschlussfeier gemacht. Damals dachten wir noch, dass wir im Nahen Osten landen würden, vielleicht in Iran, nachdem der Atomdeal auf der Kippe stand. Stattdessen hat es uns ins Land des Bieres und des Sauerkrauts verschlagen.”
Michelle lachte: “Und der Nazis, wenn wir schon dabei sind, Klischees aufzuwärmen.”
“Stimmt, wie konnte ich das nur vergessen?! Darauf erstmal ein “Heil Hitler!”!”
Gabriel riss demonstrativ den rechten Arm mit flacher Hand hoch.
“Woah, alles klar, Yankee!”, sagte Michelle und versuchte erfolglos ihr Lachen zu unterdrücken, indem sie ihre Hand auf den Mund drückte.
“Nebenbei, hast du einen Hamburger dabei? Ich hab langsam Hunger.”, konterte sie schließlich.
“Leider Nein, aber dafür kann ich dir meine 30 Pistolen, meine 25 Maschinengewehr, 15 Bazookas und 50 Handgranaten anbieten.”
“Gerne. Damit gehts ja schneller als mit dem Strick.”
“Nur wenn du richtig zielst.”, wandte Gabe etwas ernster ein, “Ansonsten hängt dir das halbe Hirn raus und du kriegst trotzdem noch alles mit.”
“Wirklich?”, fragte Michelle.
“Glaub mir als Soldat lernt man so einiges. Man denkt immer, dass man eine Kugel in den Kopf hundertprozentig nicht überlebt, aber das ist Bullshit. Man kann selbst ne Schrotkugel überleben, obwohl man sich den Lauf bis zum Anschlag in den Mund schiebt. Man sitzt dann zwar für immer im Rollstuhl, aber man lebt. Zumindest der medizinischen Definition nach.”
“Gut, zu wissen. Was…”, Michelle wurde wieder ruhig, “...Uns wieder zur Ursprungsfrage führt: soll ich zuerst oder willst du als Erstes?”
“Nun, ich würd sagen...”
“Michel-Hel-le! Komm raus, komm raus, wo immer du bist. Ich weiß, dass du dich hier verste-he-ckst. Wenn du raus kommst, dann bin ich auch ganz lieb zu dir, versprochen.”
Die halbsingende Stimme drang entfernt, aber verständlich in den Raum. Ihr Klang brachte Michelle sofort zum Zittern.
“Es ist zu spät! Das ist Mira!”, schrie sie in einer hohen, fast sirenenartigen Tonlage.
“Wer?”, fragte Gabriel verwirrt.
“Mira!”, rief Michelle, während ihr Atmen mit jeder Sekunde schneller wurde und Tränen über ihre Wangen rollten, “Sie ist eine von Stefanos Lieblingsschülerinnen. Wenn die mich hier entdeckt, war´s das für mich! Ich bin schon so oft weggelaufen, dass mich Stefano jetzt nie mehr aus den Augen lassen wird! Verdammt, ich dachte, es dauert noch länger, bis mich jemand suchen kommt!”
Gabe riss noch während Michelle das alles erklärte, seine Pistole aus dem Holster an seinen Gürtel.
“Nimm das!”, rief er, “Ich kümmere mich um sie.”
“Aber du hast gesagt, dass...”
“Ich weiß! Aber das ist jetzt der schnellste Weg! Und keine Sorge: ich vergrab dich irgendwo, wo es sicher ist. Deine Leiche kriegen die nicht! Jetzt mach schon!”
Gabe holte sein Messer aus der in seine Weste integrierte Scheide, stellte sich neben die Tür und rief: “Michelle ist hier! Die Sklavin ist hier! Ich hab sie!”
Die schnellen Schritte, mit denen sich Mira auf sie zu bewegte, wirbelten hörbar Sand und Kies auf. Sie warf die Tür beiseite und stürmte geradewegs in den Raum, wo Michelle einen Meter vor ihr stand.
“Ah, da bist du j-ARGH!”
Gabe sprang sie von hinten an und hielt sie im Schwitzkasten. Trotz der Tatsache, dass sie knapp zwei Köpfe kleiner war als er, machte es Mira ihm ziemlich schwer, sie in die richtige Position für einen schnellen Stich in den Hals zu bringen.
“Lass mich los, du Arschloch!”, rief sie, während sie wie ein wildgewordenes Pferd versuchte, Gabe abzuwerfen. Als sie nach einigen Momenten merkte, dass sie so nicht weiterkam, änderte sie ihre Strategie und biss ihn mit voller Kraft in den Arm.
Trotz des dicken Stoffs seiner Kampfmontur spürte Gabe den Biss deutlich und lockerte vor Schmerz den Griff. Dies nutzte Mira, um sich aus dem Schwitzkasten zu winden und mit einem gekonnten Satz brachte sie etwa eine Fußlänge zwischen sich und Gabe, fuhr herum und holte in derselben Bewegung eine ausklappbare Rasierklinge aus ihrer mit Blut und Farbe beschmierten Schürze hervor.
Gabe hob die Arme nach oben vors Gesicht, bereit für einen harten Kampf. Doch dazu kam es nicht, weil eine Kugel neben Mira in der Wand einschlug.
Zum Erstaunen beider hatte Michelle die Pistole auf die Handlangerin ihres Besitzers abgefeuert. Ihre Hände, mit denen sie die Waffe umklammerte, zitterten. Für einen Moment schien es so, als ob sie nicht realisiert hätte, dass sie ihr Ziel verfehlt hatte, dann feuerte sie wild in Miras Richtung.
Der erste Schuss, der traf, ging in die Magengegend, worauf Mira, die bis zu diesem Zeitpunkt immer noch perplex dastand, einen gewaltigen Schrei von sich gab.
Der zweite Treffer traf ihr rechtes Bein, woraufhin die Getroffene auf die Knie ging.
Michelle schoss weiter, während sie auf Mira zutrat, zielte jetzt aber auf ihren Kopf. Zumindest versuchte sie das.
Erst nach drei Treffern, jeweils in die linke Schulter, den linken Oberarm und in die linke Hüfte traf Michelle endlich Miras Kopf. Sie verpasste ihr noch weitere Kugeln, während sie mit weit aufgerissenen Augen auf den regungslosen Körper sah, bevor ein Klicken ankündigte, das die Waffe leergeschossen war. Michelle drückte noch ein paar Mal ab, bis diese Nachricht auch bei ihr ankam.
Sie ließ ihre Arme wie leblos fallen, ließ die Waffe aus ihrer Hand gleiten und fiel dann selbst vor Mira auf die Knie. Michelle starrte die Leiche an, als könnte sie nicht glauben, was gerade passiert war.
Gabe überwand die Überraschung über die Eigeninitiative seiner neuen Bekannten recht schnell, steckte sein Messer weg und hob die Pistole auf. Er legte die Hand auf Michelles Schulter. Sie sah ihn an, als hätte sie vergessen, wer er war. Mit ruhiger Stimme, die an ein Flüstern grenzte, sagte er: “So geht es vielen beim ersten Mal, die nicht darauf vorbereitet sind.”
Michelle blinzelte ihn zwei Mal an, dann sagte sie, wobei sie große Pausen zwischen den einzelnen Wörtern ließ: “Ja, das ist wohl so.”
Gabe nickte, dann sagte: “Wir können hier nicht bleiben. Wer weiß, wen die Schüsse alles anlocken.”
Er nahm Michelle bei ihren linken Oberarm und richtete sie behutsam auf: “Komm, ich weiß, wo wir sicher sind. Wir gehen zum Rest meiner Truppe.”
“Ja...”, sagte Michelle, immer noch starr vor sich hinblickend, “Das ist wohl besser so.”
Wenig später krochen die beiden durch den kleinen Tunnel im Keller des Gebäudes, durch den Gabe hereingekommen war, als er diesen Ort zum ersten Mal entdeckt hatte.
Während die beiden sich auf allen vieren einen Weg durch Dreck, Steinsplittern und zerbrochenen Glas bahnten, fragte Gabe, der vorankroch: “Wieso hast du´s nicht getan?”
“Was?”
“Ich habe dir meine Knarre gegeben, damit du dich umbringst. Glaub mir, ich bin irgendwie froh, dass du´s nicht gemacht hast, aber gleichzeitig frage ich mich, wieso?”
“Ich...”
Michelle verstummte.
“Ich wollte es einfach nicht.”, sagte sie schließlich. Es war der erste Satz, der ihr ohne
Stottern und Pausen über die Lippen ging, seitdem sie Mira erschossen hatte.
“Du hast deine Meinung also geändert.”
“Ja, das habe ich.”, sagte sie mit einem milden Lächeln auf den Lippen.
“Wie gesagt, ich bin froh drüber, aber wie kommt´s?”
“Es lag an dir. Du hast dich für mich eingesetzt. Der Grund, warum ich mich umbringen wollte oder besser einer der Gründe war, dass ich dachte, niemanden kümmert es, was mit mir passiert. Dein Einsatz hat mich vom Gegenteil überzeugt und deshalb habe ich nicht abgedrückt.”
“Ich hab nur getan, was...”
“Nein, das hast du nicht.”, fiel ihm Michelle entschieden ins Wort, “Nicht jeder hätte es getan. Und das ist auch egal, was zählt ist, dass du es getan hast.”
Gabe schwieg einige Momente. Michelles Worte erinnerten ihn an eine Eigenschaft, von der er lange Zeit vergessen hatte, dass sie da war: seinen Beschützerinstinkt. Der Grund, warum er zur Army gegangen war und damit auch der Grund, warum er hier war.
“Hey, Michelle, ehrlich gesagt, hast du mich auch gerettet.”
“Wie das, Gabe?”
“Okay, ich weiß, das wird jetzt kitschig klingen wie sonst was, aber die Tatsache, dass ich dich beschützen konnte, hat mich wieder daran erinnert, dass ich hier unten noch was zu tun hab. Dass ich hier noch gebraucht werde, verstehst du?”
“Manchmal ist das Kitschige auch gleichzeitig das Wahre.”, sagte Michelle, “Vielleicht erscheint es auch gerade deshalb nur als kitschig, weil es wahrer ist, als uns lieb ist.”
“Okay, egal wie viele Glückskekse du futterst, du solltest die Menge reduzieren.”, beschwerte sich Gabe scherzend, “Irgendwie ist jeder zweite Satz von dir ein Spruch, den ich auf einen Philosophiekalender drucken würde.”
“Danke.”, sagte Michelle lachend, “Ist das da hinten Licht?”
“Jep, wir sind gleich draußen.”
Die beiden quetschen sich durch eine letzte Verengung und standen wenig später auf einer der vielen von Schutt übersäten Straßen Hannovers. Als die Strahlen der noch hoch am Himmel stehende Nachmittagssonne sie zum Blinzeln brachten, wussten sie: Sie würden ihrem Leben kein Ende setzen.
Zumindest nicht heute.