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Streu Glitzer drüber
Langsam senkt sich die Abenddämmerung über das Friedhofsgelände. Ich sitze unter einer Trauerweide, betrachte den Schein der vielen roten Lichter durch die tiefhängenden Zweige. Fühle die Stille, vertraut, wie ein alter Bekannter.
"Warum fürchten die Leute sich bei Dunkelheit auf dem Friedhof?", fragte ich Mia, nachdem Mama begraben war.
"Sie fürchten die Stille, in der man seine Gedanken hört ..."
Ich kannte Mia mein Leben lang, zumindest solange ich mich zurück erinnern konnte. Meine Mutter nahm mich das erste Mal mit ins Seniorenheim, als ich fünf war. Sie spielte dort Karten, machte Spaziergänge mit denen, die niemals Besuch bekamen. Mia war eine von ihnen.
Ich mochte sie gleich von Anfang an. Immer wenn ich versuchte zu schummeln, zwinkerte sie mir zu und grinste, verriet mich aber nie. Zwischen uns lagen fünfundsechzig Jahre, doch sah ich in ihre Augen, funkelten die noch genauso wie meine. Manchmal spielte Heinz mit uns. Er schaute Mia oft komisch an, irgendwie verträumt. Bemerkte sie es, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Einmal sagte ich: "Du Mia, ich glaube der Heinz hat dich wirklich gern."
Ein wenig erschrocken riss sie die Augen auf. "Du liebe Güte, Kind! Doch nicht in meinem Alter."
Das verstand ich nicht, sie war nun wirklich alt genug.
Wir besuchten Mia viele Jahre lang. Als Mama dann starb, tat ich es weiterhin. Bei ihr konnte ich traurig sein. Zuhause weinte ich nie, um es für Papa nicht noch schwerer zu machen. Er sprach niemals über sie. Erwähnte ich sie, entstand eine unangenehme Stille zwischen uns und wurde mir die Stille zu laut, flüchtete ich ins Seniorenheim. Meistens kam ich völlig verheult dort an. Mich plagte eine unbeschreibliche Angst, Mama zu vergessen. Viele meiner Erinnerungen an sie, die weiter zurück lagen, verschwammen immer mehr in meinem Kopf. So saß ich dann in Mias Schaukelstuhl und redete, schniefend gegen das Vergessen an. "Weißt du noch, wie oft du mit Mama gestritten hast, weil du kaum einmal das Gelände des Heimes verlassen wolltest?"
Sie lächelte ein wenig verlegen. "Sie behandelte mich auch manchmal wie ein Kind."
Ich musste lachen."Nunja, so benahmst du dich auch. Hätte nur gefehlt das du trotzig mit dem Fuß aufstampfst."
Bald darauf stand mein Abi vor der Tür. Mia fragte mich ab. Mein Kopf schien wie leer gefegt. "Es ist alles weg! Ich werde durchfallen!"
"Na na", meinte Mia, tätschelte meine Wange und nahm die Red-Bull Dose aus meiner Hand, um den Rest in die Spüle zu schütten. "Wir gehen jetzt ins Kino, Kind."
Später kuschelte ich mich unter die große Wolldecke auf ihrer Couch. Sie schaltete den Fernseher ein. Eine Weile betrachtete ich ihr Gesicht, im bläulichen Lichtschein des Gerätes. Die freundlichen Fältchen um ihre Augen, die ich so liebgewonnen hatte. Der Koffeinrausch ebbte langsam ab. Ich schloss die Augen, lauschte dem monotonen Sing-Sang des Nachrichtensprechers.
Vielleicht war sie eine Art Mutter für mich, oder Großmutter, auf jeden Fall Freundin. Doch wichtig erschien mir das ohnehin nie.
Einige Jahre später wurde Mia sehr krank. Ich half ihr so gut ich konnte, kaufte ein, brachte sie zum Arzt, versuchte alles, um ihr den Alltag leichter zu machen. Nach einem Krampfanfall besuchte ich sie im Krankenhaus.
"Ich werde in ein Hospiz gehen, Maja. Ich möchte niemandem zur Last fallen", sagte sie.
Mir fehlten die Worte. "Aber ich ... ich kann ..."
"Du ... du wirst mich besuchen, nicht wahr?" Sie tippte mit dem Zeigefinger auf meine Nasenspitze. Das nannte ich Größe. Ich fühlte mich jämmerlich.
Vor dem ersten Besuch dort blieb ich lange im Auto sitzen. Ging den Kiesweg zum Gebäude fast in Zeitlupe hinauf. An der Anmeldung zupfte ich unsichtbare Flusen von meiner Kleidung, sprach so leise, dass die Dame zweimal nachfragen musste. Im Aufenthaltsbereich saßen einige Leute, unter ihnen Mia, im Rollstuhl, die Beine bedeckt mit einer leichten Wolldecke.
"Maja! Komm setz dich her, Liebes." Sie streckte die Hand aus, zog mich in einen der Korbsessel neben sich, strich über meinen Arm. Da sah ich es wieder, dieses Funkeln in ihren Augen.
"Mach nicht so ein Gesicht. Irgendwann trifft es uns alle", meinte sie nur.
So oft ich konnte, besuchte ich sie. Mia zeichnete gern, nur nicht besonders gut. Aber ich mochte die Geschichten zu ihren Bildern. Im Park des Hospizes lag ein Schwanenteich. An guten Tagen gingen wir dort spazieren. Ich schob sie über die unebenen Wege, wurde sie dabei allzusehr durchgerüttelt, lachte sie laut. Am Teich gab ich ihr den Skizzenblock, betrachtete etwas später die Zeichnung.
"Nach Schwänen sieht das aber nicht aus", lachte ich.
Sie lächelte. "Wusstest du das Schwäne monogam leben? Sie suchen sich einen Partner und bleiben ein Leben lang zusammen. Stirbt der Eine, stirbt bald darauf auch der andere."
An schlechten Tagen lasen wir Romeo und Julia.
"Das ist so romantisch", seufzte ich.
Sie hob die Brauen, was die Falten auf ihrer Stirn noch tiefer erscheinen ließ. "Was haben sie gehabt von ihrer Romantik? Am Ende waren sie tot."
Es regnete. Das gleichmäßige Prasseln der Tropfen gegen die Fensterscheibe, vermittelte dieses Gefühl von Geborgenheit, dass ich stets bei ihr fand. Ich schob den Schaukelstuhl näher an ihr Bett, schaltete die Nachttischlampe ein, da die dunklen Wolken am Himmel bereits am Nachmittag fast das ganze Tageslicht schluckten. Ich zog ihre Decke ein Stück höher, bis fast unters Kinn, las dann weiter, bis der gleichmäßige Klang ihrer Atemzüge mir verriet, dass sie eingeschlafen war.
Auch wenn ich wusste, dass dieser Anruf kommen würde, traf er mich unvorbereitet. Ich stand gerade in einer Bäckerei, ein Tablett Bienenstich auf der Hand, für Mia, weil sie den so gern aß, als mein Handy klingelte.
"Frau Schleyer hatte einen schweren Krampfanfall. Sie ist jetzt in einem der Regenbogenzimmer", hörte ich die Frau am anderen Ende sagen.
Den Weg zum Auto rannte ich, eilte den Kiesweg hinauf, hoffte, sie wartete auf mich. Auf mein Klopfen antwortete niemand, also trat ich einfach ein. Die Rolläden des großen Fensters ließen nur durch einige Ritzen etwas Tageslicht hinein,was den Raum in gnädiges Dämmerlicht tauchte. Ein Blumenmeer auf der Fensterbank, lebendig, bunt. Mias Schaukelstuhl stand direkt am Krankenbett. Da lag sie, der Kopf tief im Kissen eingesunken, die Augen geschlossen. Wie zerbrechlich sie wirkte.
"Endstation, Maja." Sie sprach ganz leise. Ich ergriff ihre Hand, umschloss sie ganz fest. So könnte sie ja gar nicht fortgehen, bildete ich mir ein. Wenn ich sie nur fest genug hielt. Zu gerne wäre ich einfach unter die Bettdecke gekrochen, um mich an sie zu kuscheln, wie früher an Mama, wenn ein Gewitter tobte.
"Glaubst du, ich werde all die anderen wiedersehen?" fragte sie.
"Ich ... weiß nicht." Nur mit Mühe brachte ich meine Stimme unter Kontrolle, fühlte heiße Tränen über meine Wangen laufen. Ich weinte nicht wirklich, sie liefen einfach unentwegt aus meinen Augen.
"Glaubst du, ich werde wieder jung sein?" fragte sie.
"Ja ... ja, jung und wunderschön wirst du über den Regenbogen gehen." Nun weinte ich, mein Körper zuckte beim Versuch, dagegen anzukämpfen.
"Vielleicht solltest du jetzt gehen", sagte sie.
"Nein. Bis hier sind wir gegangen, jetzt gehen wir bis zum Schluss." Mittlerweile hielt ich ihre Hand mit beiden Händen fest umschlossen. Langsam drehte sie den Kopf zu mir, öffnete die Augen. "Ich bin sehr müde."
Ich sah den Glanz der Tränen in ihren Augen. Mein Herz pochte so heftig, es fühlte sich an, als würde es gegen meine Rippen prallen. Ich drückte gegen den Brustkorb, wie um es zurückzudrängen. "Ruh dich aus. Schlaf ein wenig. Ich werde hier sitzen, okay?"
Sie schloss die Augen. "Erzählst du mir etwas? Ich möchte deine Stimme hören", bat sie.
Ich atmete tief ein, so tief es eben ging, um endlich die Tränen zu stoppen, mich zu sammeln, Worte zu finden. Meine Stimme zitterte als ich zu sprechen begann. Die Worte klangen seltsam fremd, in der Stille des Raumes.
"Ich staunte nicht schlecht, als es bei uns klingelte und du vor der Tür standst. Weiter als bis zum Schwanenteich entferntest du dich freiwillig nie vom Seniorenheim. Deine Haare waren frisch geschnitten. "So konnte ich ja nicht mehr unter die Leute gehen", meintest du. Da ging es Mama schon sehr schlecht. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, die du bei ihr im Schlafzimmer saßt. Ich hockte im Flur auf dem Boden, gegen die Wand gelehnt, gleich neben der Schlafzimmertür und heulte die ganze Zeit. Bevor ich zu euch kam, wusch ich mein Gesicht. Immer wieder schüttete ich mir eiskaltes Wasser ins Gesicht, damit Mama meine verheulten Augen nicht sah.
Als sie starb, stand ich gerade beim Arzt, um ein Rezept zu holen.
Ich konnte nicht mal weinen. Es fühlte sich an, wie eine Hand die mir den Hals zudrückt, so fest, dass ich gerade so noch atmen kann. Ich war so wütend, es war so unfair und diese Verzweiflung ließ mich losrennen, ohne Jacke, ohne Schirm, durch den strömenden Novemberregen. Immer schneller, gegen die Kälte, gegen die Traurigkeit, bis zu dir.
Kein Wort hast du gesagt, mich nur gehalten und ich weinte.
Mit der Zeit riss der Schmerz nicht mehr an meinem Herzen, er wurde dumpf, die Erinnerung blasser. Du machtest sie immer wieder lebendig, erzähltest von ihr ..."
Der Druck ihrer Hand ließ nach. Erschrocken hielt ich inne, starrte auf die Bettdecke, sie hob und senkte sich gleichmäßig. Doch bei jedem Atemzug hörte ich ein leises rasseln. Ich drückte den Notfallknopf. Eine Schwester erschien.
"Sie bekommt schlecht Luft", sagte ich leise. Sie sah zu ihr, senkte für einen winzigen Moment ihren Blick, bevor sie mich ansah und leicht, fast nur angedeutet, den Kopf schüttelte.
Mias Hand fühlte sich kalt an. Ihre Haut wies eine seltsame Maserung auf, die sich über ihren Körper auszubreiten schien.
"Ich werde immer von dir erzählen. Mama wartet auf dich. Wahrscheinlich liegen die Karten schon auf dem Tisch. Sie wird schimpfen, weil du so spät kommt. Sowas konnte sie nie leiden, weißt du doch ..." , flüsterte ich ihr ins Ohr, legte meinen Kopf dann ganz dicht an ihren, wusste nichts mehr zu sagen, begann irgendwann Shakespeare zu zitieren. "Oh Romeo, Romeo. Warum bist du Romeo?"
Manchmal schwieg ich einfach, dann weinte ich wieder. Wie lange ich so dalag konnte ich nicht sagen, auch nicht ob das leise Rasseln in dem Moment aufhörte, in dem es mir auffiel oder vielleicht schon früher. Eine Rolle spielte es ohnehin nicht. Einen Moment wartete ich noch, betrachtete Mia, begriff es nicht, es war so unwirklich. Erneut drückte ich den Notfallknopf.
Wieder erschien die Schwester, fühlte den Puls, tastete an Mias Hals. Ein Arzt wurde gerufen. Jemand sprach mit mir, doch ich erfasste den Sinn der Worte nicht. Alles lag im Nebel, verschwamm. Mir war schlecht. Ich stand auf, verließ den Raum. Meine Beine fühlten sich an wie eingeschlafen, nur ohne zu kribbeln, knickten bei den ersten Schritten leicht ein. Endlich erreichte ich den Ausgang, kühle Abendluft schlug mir entgegen. Gierig sog ich sie ein, ließ mich auf die Stufen vor der Tür sinken, erschöpft, wie nach einem Marathon. Ich lehnte meinen Kopf gegen das kühle Metall des Treppengeländers, blickte in den Himmel.
Die letzten Strahlen der Sonne reflektierten ihr Licht im leichten Nieselregen, was wie zum Trotz einen Regenbogen entstehen ließ. Seine Farben bildeten einen schillernden Kontrast, gegen das immer dunkler werdende Grau des Abendhimmels.