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Stream of Information
Die Nacht kam schnell über die Wüste und brachte Dunkelheit und Kälte mit sich. Im Dubai International Airport war den Passagieren die Tageszeit einerlei. Die Terminals waren voll klimatisiert und hell erleuchtet.
In der exklusiven Wartelounge von Taufiq Airlines am Gate 7 kümmerte sich dienstbares und Personal um alles Notwendige und Gewünschte. Alltagssorgen waren nichts für die Passagiere der Priority Class, die in bequemen Möbeln im englischen Landhausstil auf ihren Abflug warteten.
So konnte Isabella Fonti das erste Mal am heutigen Tag ihre attraktiven Beine auf einem Lederdiwan ausstrecken und sich von ihrer ausgedehnten Shoppingtour erholen. In zwanzig Minuten würde ihr Flieger nach Xiva abheben, der glitzernden Metropole in Zentralasien. Sie schaute sich nicht groß um, sondern entschied sich direkt für ein Sofa im Eingangsbereich und genoss das Gefühl des bequemen echten Leders, was für zahlreiche bewundernde Blicke sorgte. Ja, sie war eine schöne Frau, das wusste und genoss sie.
Immerhin hatte sie in der vergangenen Woche einen beachtlichen Teil ihres letzten Honorars darin investiert, dass das so blieb. Wie sich nun zeigte, war die Klinik ihrem Ruf gerecht geworden. Keiner der Anwesenden in der Lounge ahnte, wie viel Technik und schmerzhafte Chemie mittlerweile notwendig war, damit sie wie eine natürliche Schönheit Mitte 30 wirkte.
Sie genoss kurz den wütenden Blick eines blonden schmückenden Beiwerks, das ihren Freund, einen angesagten Pro-Gamer, sorgfältig zu einer Sitzgruppe am hinteren Ende der geräumigen Lounge bugsierte. Keine Angst, Mädchen, dachte Isabelle, ich arbeite nicht in Deiner Branche.
Nur ein kleiner Kreis wusste überhaupt, womit Isabella Fonti ihr Geld verdiente. Das war auch ein wesentlicher Teil des Erfolgsrezepts ihrer millionenschweren Agentur. Die öffentliche Meinung war ihre Spielwiese und Unsichtbarkeit die notwendige Voraussetzung ihrer Arbeit. Politiker weltweit stiegen oder stürzten – so hoch oder so tief wie Isabella Fonti es wollte. Besser gesagt, je nachdem, wofür ihre Auftraggeber bezahlten. In den vergangenen 15 Jahren war ihr nicht ein einziger Reporter oder Verschwörungswirrkopf aus dem Netz auf die Schliche gekommen. Auch wenn sie schon lange nicht mehr arbeiten musste, brauchte sie diesen Kick, das Gefühl, die Geschicke ganzer Staaten durch geschickte Medienkampagnen in die jede beliebige Richtung beeinflussen zu können.
In drei Monaten würde eine neue Kampagne in Indien beginnen, ob für oder gegen die bestehende Regierung, fiel ihr gerade nicht ein. Das war aber auch unwichtig, denn jetzt hatte sie Urlaub. Sie streckte genießerisch noch einmal ihre Beine auf dem Diwan aus.
Nach der Runderneuerung von Körper und Garderobe würde nun das Wohlfühlprogramm für ihre Seele folgen. Und wo ging das besser als im Grand Watson in Xiva?
Und dann war da ja noch die „AWM 31“. Die Auktion fand in diesem Herbst im ehrwürdigen Tosh-Xauli-Palast in Xiva statt. Ein passendes Ambiente, wie Isabella fand. Die Stadt in Usbekistan war einst Teil der berühmten Seidenstraße und deren exotisches Flair kam in der historischen Altstadt bis heute wunderbar zur Geltung. Fünf Tage lang würden dort antike Kunstwerke aus aller Welt versteigert. Und mit ihrem gut gefüllten Konto gedachte Isabella sich das ein oder andere Objekt zu gönnen. Ein sehnsüchtiges Lächeln schlich sich in Isabellas Gesicht.
Die Anzeigentafel verriet ihr, dass der Flug erst in einigen Minuten aufgerufen werden würde. Kurzentschlossen zog sie ihre ViSphe aus der Seitentasche, schob sich die dunklen Haare aus dem Gesicht und setzte die Brille auf. Sie öffnete den Auktionskatalog der „AWM 31“, den sie mittlerweile fast auswendig kannte. Die Statue eines stolzen Maya-Kriegers hatte es ihr besonders angetan. Routiniert rief sie das Hologramm der Figur aus dem 9. Jahrhundert auf und betrachtete sie ausgiebig von allen Seiten.
Der Abstandswarner in ihrer Brille meldete sich, doch es war zu spät. Ein plötzlicher Ruck riss sie aus ihren Träumen. Sie nahm sich die Brille von der Nase und funkelte wütend den Mann an, der gerade ungebremst gegen ihren Liegestuhl gelaufen war.
Der Fremde nahm ebenfalls seine ViSphe ab und Isabella blickte in ein verblüfftes Gesicht, das trotzdem attraktiv wirkte. Isabella schätze den Mann auf Ende 30. Er trug einen sportlichen silbergrauen Anzug im Stil der 1960er Jahre, wie es zurzeit in Südamerika angesagt war.
„Entschuldigen Sie bitte vielmals“, sagte er in fließendem International English. „Das Display ist offenbar immer noch falsch eingestellt. Ihre Liege wurde mir überhaupt nicht angezeigt. Wissen Sie, ich bin mit dem neuen Interface noch nicht ganz so vertraut...“
Schuldgewusst nestelte der Fremde an den Bügeln der ViSphe. So, wie er vor ihr stand, erinnerte er Isabella an einen kleinen Jungen, der versehentlich mit seinem Ball das Fenster der Nachbarn eingeworfen hatte.
„Schon in Ordnung“, antwortete sie milder, als sie ursprünglich vorgehabt hatte.
„Ich habe das Modell erst seit ein paar Tagen. Dass ich die Trimmung unbedingt noch optimieren muss, daran hat mich erst ihr Diwan erinnert“, fuhr er entschuldigend fort. Er lächelte sie verlegen an.
Sie konnte nicht anders und erwiderte sein Lächeln. „Ich hoffe, Sie haben sich nicht wehgetan.“
„Ich werd‘s verkraften.“ Er grinste kurz spitzbübisch und wurde dann wieder ernst. „Wenn Sie mich nun entschuldigen, ich muss vor dem Abflug noch schnell ein paar Dinge erledigen – natürlich erst, nachdem ich mich dort hingesetzt habe. Sicher ist sicher…“ Er deutete auf einen dunkelgrünen Ohrensessel einige Schritte entfernt.
„Machen Sie das.“
Gespielt übervorsichtig nahm der Mann Platz, dann verschwanden seine Augen wieder hinter der Brille. Isabella betrachtete ihn noch einen Moment nachdenklich. Dessen Mimik verriet volle Konzentration. Ob er wohl auch nach Xiva flog?
Sie setzte ihre ViSphe wieder auf. Doch statt den Ausstellungskatalog rief sie die integrierte Kamera auf. Die war so modifiziert, dass sie unbemerkt ihre Umgebung aufzeichnen konnte, was zwar laut UWG-Konvention illegal, aber äußerst praktisch war. Dank der Tekkies ihrer Agentur war die Änderung nicht ohne weiteres nachzuweisen. Genau wie die anderen nützlichen Funktionen, die sie in ihrer Cloud installiert hatte.
Wenige Augenblicke später präsentierte die Brille ihr die verlangten Kerndaten zu ihrem Gegenüber:
Marco Gander, 38 Jahre alt, geboren in Panama, erfolgreicher Architekt und ehrenamtlicher Leiter eines Hilfsprojekts für Obdachlose in Texas. Wie sie war er auf dem Weg nach Xiva und laut seinem Beziehungsstatus frisch getrennt.
Sie justierte die Einstellungen ein wenig. Die Zahlen und Worte wurden transparent und sie betrachtete Gander durch die Infos hindurch. Der war anscheinend immer noch in seine Arbeit vertieft. Kurz überlegte sie, ein paar Leute ihrer Agentur mit weiteren Recherchen zu beauftragen. Aber nein, dachte sie mit einem Blick auf Gander. Das sollte ihr ganz persönlicher Urlaubsspaß werden. In Xiva gab es von nun an mehr zu erobern, als nur die Maya-Statue. Und sie würde Erfolg haben, wie immer.
„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Mr Gander?“, fragte die Stewardess, nachdem sie ihn zu seiner Einzelkabine im Oberdeck des Fliegers geführt hatte. Der Raum war hell und geschmackvoll dekoriert und vermittelte ihm das unterschwellige Gefühl sich in einem behaglichen Straußenei aufzuhalten.
„Im Moment nicht, danke“, entgegnete er, zog sein Sakko aus und setzte sich in den breiten Entertainmentsessel. Sanft passte sich der Stuhl seiner Körperform an.
„Falls Sie einen Wunsch haben, dann drücken Sie einfach auf die Service-Taste auf dem Display.“ Sie deutete mit ihren manikürten Fingern auf das Pad an der breiten Armlehne. „Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug.“ Sie verabschiedete sich mit einem Lächeln, das mehr war als nur dienstlich vorgeschrieben.
Marco ignorierte es geflissentlich, immerhin war er beruflich unterwegs. Nach dem Start ließ er die Rückenlehne ein wenig zurückgleiten und genoss die wohlige Wärme, die der Sessel ausstrahlte. Ein Holo an der Frontseite der Suite informierte ihn über das Unterhaltungsprogramm. Auf einem Tischchen unter dem Fenster stand eine einladende Schale mit echtem Obst. Er nahm sich ein paar Trauben und schwelgte in dem intensiv süßen Geschmack. Den bekamen auch die besten Foodprinter nicht ansatzweise so gut hin.
Der Jet überquerte die Straße von Hormus und zog sanft brummend über die persische Nacht hinweg. Bis zur glitzernden Vergnügungslandschaft rund um Xiva würde es keine Stunde mehr dauern. Zeit fürs Geschäft.
Im Laufe seiner Karriere hatte er ein Gespür dafür entwickelt, ob ein Fisch angebissen hatte, oder nicht. Und dieser hatte, das wusste er. Er setzte seine ViSphe auf und öffnete ein spezielles Architektur-Programm. Skizzen und Zeichnungen einer Zeltstadt in Dallas materialisierten vor seinen Augen. Nur für den Fall der Fälle.
Es brauchte einen Moment, bis der verborgene Retinascan abgeschlossen war, dann wandelte sich das Bild. Mit dem Tool, das nun aufleuchtete, ließen sich sämtliche im Netz befindlichen Daten von Marco Gander überwachen. Das praktische Tool hatte ihm Skullix noch implementiert, kurz bevor er nach Dubai aufgebrochen war. „Besonderer Service für meinen Lieblingskunden“, hatte der Hacker ungewöhnlich großmütig gemeint. Normalerweise ließ der alte Australier sich jeden, aber auch wirklich jeden Handgriff teuer bezahlen.
Die nun angezeigten Informationen ließen Marco anerkennend pfeifen. Der Fisch hatte nicht nur angebissen, er hatte den Köder und bereits mehrere Meter Leine verschlungen.
Genau wie erwartet, hatte Isabella Fonti nicht lange gezögert, um Marco Gander zu screenen. Was ihn aber überraschte, war das Tempo und die Effizienz, mit der sie dabei zu Werke ging.
Sie hatte sich nicht damit zufrieden gegeben, die offenen Seiten im Web zu durchforsten, sie hatte kurz nach dem Abflug schon die Privatsphäreneinstellung seiner wichtigsten Netzwerkprofile umgangen.
„Du bist aber ein böses Mädchen!“, murmelte er beeindruckt und beunruhigt. Was machte Isabella Fonti noch einmal genau – nur eine Werbeagentur leiten? Sicher war er sich nicht mehr. Aber das spielte auch keine große Rolle. Er würde sie rumkriegen, wie alle vorher und auch nach ihr.
Irgendwann würde sie aufwachen, ohne ihn und mit einem leeren Konto. Sicher würde sie Zeter und Mordio schreien, doch ihn anzeigen würde sie nicht. Zugeben, dass man auf einen Betrüger reingefallen war, dass würde eine erfolgreiche Geschäftsfrau nicht übers Herz bringen.
Sein Tool meldete, dass Isabelle gerade erfolgreich einen Cloudbuster einsetzte, um Marco Ganders private Datenbank anzuzapfen. Er runzelte die Stirn und schickte Skullix schnell einen Blink, damit der sich die Sache auch einmal anschauen konnte. Solch spezielle und vor allem höchst illegale Software hatte er nicht erwartet. Allein für den Besitz eines Cloudbusters konnte man für zehn Jahre aus dem Netz geworfen werden.
Jetzt musste er darauf vertrauen, dass der Hacker Recht behielt mit seinem Urteil.
„Marco Gander ist unknackbar“, waren seine Worte gewesen. Und wenn Skullix, der ebenso genial wie paranoid war, das sagte, dann konnte man ihm glauben. Lange hatten die beiden Männer an diesem Lebenslauf gebastelt, Ganders Daten in alle wichtigen Seiten eingebunden und digitale Spuren zu allen möglichen und unmöglichen Themen erstellt, alles, damit Marco wie ein echter Mensch wirkte. Es war die beste und aufwendigste Persona, die er bislang benutzt hatte. Kein Programm und vor allem kein Mensch würde erkennen können, dass es einen Marco Gander nie gegeben hatte. Er konnte nur hoffen, dass das stimmte.
Das Tool zeigte an, dass Isabella einen schnellen Blick auf Marcos Arbeit bei seiner fiktiven Hilfsorganisation „Gimme Shelter“ warf und dann ausgiebig den Ordner mit teilweise bewusst peinlichen Privatvideos durchstöberte. Seine Nervosität legte sich, als er sah, wie viel Zeit sie auf die Daten verwendete. Der Fisch hatte vielleicht kurz gestutzt, als sich der Haken in sein Fleisch bohrte, aber dann weiter genüsslich auf dem Köder herumgekaut.
Erst kurz vor der Landung in Xiva verließ sie seine Cloud, nachdem sie seinen Terminkalender kopiert hatte. Isabella war raffinierter, als er erwartet hatte. Aber nicht raffiniert genug, um seine Maskerade zu durchschauen.
Er schätzte, dass Isabella spätestens übermorgen dafür sorgen würde, dass sie ihm zufällig über den Weg lief – an diesem Tag hatte er dafür vorsorglich den Besuch einer „AWM“-Ausstellung eingeplant. Danach würde er das übliche Spiel spielen und in etwa zwei, spätestens drei Monaten würde sie ihm das erste Geld für „Gimme Shelter“ geben – was er natürlich nur widerstrebend annehmen würde.
Lässig steckte er die Brille wieder in seine Hemdtasche und blickte auf die Wand an der Kopfseite seiner Suite. Drei Kabinen vor ihm saß die nichtsahnende Isabella Fonti.
Während die Maschine langsam in den Sinkflug überging, begann er ein uraltes Lied zu summen: „Babe – I got you, Babe…“
Langsam, fast genüsslich in seiner Abscheu schwelgend, fuhr Pavel Oriega mit einem Finger über die Tischplatte in dem alten Konferenzraum. Das verlassene Fabrikgelände lag etwa 20 Kilometer außerhalb von Xiva. Wind, Rost und Zeit nagten beständig an den Überbleibseln der Anlage. Unkraut und Gras wucherte im aufgeplatzten Beton, feiner Wüstensand bedeckte alles wie mit feinem Puderzucker und kroch weit ins Gebäudeinnere. Wenn Oriega sich richtig erinnerte, dann waren in der Anlage früher Kappa-Kondensatoren gebaut worden. Da er allerdings ohne seinen geliebten 30-Zoll-MDA unterwegs war, konnte er nicht einmal das schnell nachgucken. Eine einzelne Halogenlampe spendete Licht.
Mit einem missbilligenden Blick auf Catherine Ngyien setzte er sich auf einen der alten Bürostühle an den großen Besprechungstisch. Zumindest den Stuhl hatte sie für ihn abgeklopft. Aber seinen maßgeschneiderten schwarzen Anzug würde er trotzdem wegwerfen müssen. Egal wie oft er ihn waschen lassen würde, die Vorstellung von all dem Sand würde er nicht vergessen können. Das war sehr schade, denn in dem Zweireiher sah er unglaublich gut und respekteinflößend aus. Oriega spürte jetzt schon, wie es überall auf seiner Haut unangenehm zu jucken und kratzen begann. Schicksalsergeben seufzte er.
Er vermisste es mit seinen Fingern über die glatte Oberfläche seines MDAs zu fahren und er vermisste das Gefühl der Macht, das er durch den Rechner hatte. Nach dem Tod seines Vaters hatte er das Gerät übernommen. Als einziger hatte er damit die Macht auf alle Ebenen des Clan-Netzwerks zuzugreifen. Bronco Oriega hatte die Organisation damals zur Nummer 1 in Zentralasien gemacht. Wenn es um die Beschaffung und den Handel mit illegalen Daten ging, dann führte seit Jahren kein Weg an den Oriegas vorbei. . „Wissen ist Macht. Geheimwissen ist Herrschaftswissen“, hatte sein Vater ihm schon als Junge eingetrichtert. Und er, Pavel, würde diese Stellung noch weiter ausbauen!
Mit einem Druck aufs Display seines MDAs konnte er Firmen zerstören, Menschen töten, auf jeden Fall Geld verdienen und vor allem sich köstlich dabei amüsieren.
„Keine digitalen Spuren!“, war Ngyiens klare Ansage vor der Abfahrt gewesen.
Demonstrativ gelangweilt trommelte er deshalb jetzt mit seinen Fingern auf der Tischplatte herum und scherte sich nicht mehr um den Staub. Seine Sicherheitschefin ignorierte das. Sie wirkte auf ihn stets wie einer dieser Androiden aus einem uralten 2D-Film.
Natürlich hatte sie Recht, sie hatte immer Recht. Seine Feinde lauerten überall und warteten nur auf einen Fehler des großen Pavel Oriegas. Eine Schwäche, eine Unaufmerksamkeit und sie würden über ihn herfallen wie die Hyänen. Also hatte er schweren Herzens alle seine elektronischen Spielzeuge abgelegt und Ngyien sogar gestattet eine Digi-Flare auf seinem heißgeliebten MDA zu installieren. Dann hatte er ihn gut gesichert in seinen Privatgemächern zurückgelassen. Für jeden Netzüberwacher sah es nun so aus, als ob er den Abend wie üblich auf seinen Lieblingsseiten verbrachte. Wie sehr freute er sich auf den Moment, wenn er das schwere glatte Gerät wieder in seinen Händen spüren konnte – eine ViSphe konnte ihm dieses Gefühl von Kontrolle nicht geben.
Eine gefühlte Ewigkeit saß er nun hier, in der tiefsten Wildnis, fernab von allen Annehmlichkeiten der Zivilisation. Warum Menschen freiwillig auf das Leben in einer Metropole verzichten konnte, war ihm ein Rätsel. Sobald er wieder zu Hause war, würde er ein langes heißes Bad nehmen.
Er wünschte sich, dass er seiner Sicherheitschefin einfach befohlen hätte, diesen Marco Gander direkt vom Flughafen zu ihm nach Hause schleifen zu lassen. Seit wann kam schon der Knochen zum Hund?
Das ging natürlich nicht. Der Oriega-Tower wurde rund um die Uhr von seinen Feinden überwacht. Wie ein gewöhnlicher Flüchtling hatte er sich im Laderaum eines Lieferwagens an ihnen vorbeischleichen müssen. Eigentlich entwürdigend, aber nach dem Tod seines Vaters musste er seinen Leuten natürlich Führungsstärke zeigen, klarmachen, dass er auch selbst an die Front ging, da hatte er Ngyien widerwillig zustimmen müssen.
„Da kommt er“, riss sie ihn aus seinen Gedanken. Unten auf dem Hof hörte man, wie ein Geländewagen mit hoher Geschwindigkeit direkt in eine der Lagerhallen fuhr und dort mit quietschenden Reifen anhielt.
„Ronin und Nick werden ihn noch kurz bearbeiten, damit er besonders offen für ihr Angebot ist, dann bringen sie ich sofort hoch, Mr Oriega.“
Wie um ihre Aussage zu bestätigen hallten kurz darauf Schmerzensschreie durch die leeren Gänge der Fabrikruine. Nach einigen Minuten wurden die Laute immer jämmerlicher und schwächer, bald konnte Oriega nur noch ein leises Wimmern vernehmen. Vielleicht würde die Nacht hier draußen doch noch ganz spaßig werden.
Die beiden bulligen Sicherheitsmänner mussten Marco Gander mehr tragen als eskortieren, als sie ihn ins kurz darauf in den Besprechungsraum brachten. Ngyiens Leute hatten gute Arbeit geleistet. Äußerlich sah man Gander keine Verletzung an, aber das verzerrte Gesicht des Mannes sprach Bände.
Oriega drehte die Lampe so, dass er das Häufchen Elend besser mustern konnte, das auf einen Stuhl ihm gegenüber platziert wurde.
„Keine Probleme beim Abfangen. Keine Zeugen, keine Drohnen, keine Kameras“, meldete ihm einer der beiden Männer. Der andere warf achtlos eine teure ViSphe auf den Tisch. „Die hatte er dabei. Wir haben sie noch auf dem Flughafen deaktiviert.“
„Gut gemacht“, antwortete Oriega und schickte die beiden Bodyguards mit einer, wie er fand, äußerst souveränen Geste hinaus.
Ngyien nahm wachsame Aufstellung neben dem Stuhl ihres Chefs, die Hand griffbereit über ihrer Waffe. So wie Oriega es sah, ging in absehbarer Zeit allerdings keine Gefahr von seinem Gast aus. Spucke rann dem Mann in einem dünnen Faden aus dem Mundwinkel und tropfte auf seinen zerknitterten Anzug.
Oriega war ein wenig enttäuscht. Auf so jemanden fielen die Frauen reihenweise rein? Bei aller Bescheidenheit, sich selbst fand Oriega da bedeutend anziehender.
„Ich grüße Sie, Mr Gander. Oder sollte ich Sie lieber Arte… äh…“, obwohl er das Dossier gestern extra noch einmal überflogen hatte, geriet er ins Stocken. Hätte er doch nur seinen MDA dabei!
„Arve Ilkman, Yildiz Walker, Chen deVille oder lieber gleich der Geburtsname…“, sprang ihm Ngyien bei.
„Genau das wollte ich gerade sagen“, fiel er ihr mit schneidender Stimme ins Wort. Wütend funkelte er seine Begleitung an. Er mochte es nicht, wenn man ihm den Auftritt kaputt machte. Das mochte er ganz und gar nicht. Eine entsprechende Bestrafung für diese Frechheit würde er sich noch überlegen.
Der Mann ihm gegenüber versuchte etwas zu sagen, doch außer einem Ächzen brachte er noch nichts Brauchbares hervor. Er schien Mühe zu haben, sich überhaupt aufrecht halten zu können. Oriega war fasziniert. Er musste wissen, mit was für Dingen die Männer ihn unten bearbeitet hatten. Damit schien man eine Menge Spaß haben zu können.
„Ich weiß alles über dich… mein Freund.“ Er nahm sich die deaktivierte ViSphe und spielte ein wenig mit ihr herum. „Wie es ausschaut ist dein Hacker seit neuestem mein Hacker. Wirklich ein nettes Ding, dass du da ausnehmen wollen, du hast Geschmack. Da dürfte dir dein neues Ziel sicher auch zusagen.“ Er machte eine Kunstpause und wartete auf eine Reaktion des professionellen Hochstaplers.
„Ich… verstehe… nicht“, brachte der endlich hervor. Ein wenig begriffsstutzig, der Gute, fand Oriega.
„In den nächsten Tagen wird ein kunstverrückter C.O. von der Limey Space Agency in der Stadt auftauchen. Ein wichtiger Mann, mit sehr wichtigen Informationen. Und mit seiner Frau im Schlepptau, die sich nichts aus ihrem Mann oder Kunst macht und äußerst gelangweilt ist. Klingelt‘s jetzt?“
Die Angst in den Augen seines Gegenübers wich der Erkenntnis, dass er diesen Abend überleben könnte.
„Was… was wäre dabei für mich drin?“
Ach schau mal, dachte Oriega, gleich wird er wieder frech. „Neben der Tatsache, dass du am Leben bleibst?“ Der Clan-Chef stand auf, beugte sich über den Tisch und malte eine Zahl mit vielen Nullen in den Staub. Innerlich gratulierte er sich für diesen lässigen Einfall. „Das sollte wohl für die Unannehmlichkeiten genügen.“
Gander schaute auf die Summe und nickte. Sofort aber zuckte er wieder vor Schmerz zusammen. Schnelle Bewegungen waren ihm noch nicht möglich. Ich muss unbedingt rauskriegen, was für ein Gerät so etwas mit einem Menschen anstellen konnte, dachte Oriega. Aber erst einmal musste er diese Nummer hier zu Ende bringen.
„Aber solltest Du mich enttäuschen – oder noch verrückter – solltest Du mich verarschen…“ Er pustete dem Hochstapler genüsslich den Staub auf der Tischplatte ins Gesicht, bis alle Zahlen verschwunden waren.
„Dann geht es dir wie den Zahlen, klar?“ Mein Gott, bin ich gut, dachte Oriega. Er war tatsächlich der geborene Anführer, ein würdiger Oyabun. Wenn sein Vater jetzt sehen könnte, wie er hier stand, die Situation voll im Griff. Jahrelang hatte der Alte ihn als Weichei beschimpft, nicht würdig seine Nachfolge anzutreten. Fast schon schade, dass er seinen Herzschrittmacher hatte manipulieren lassen.
Das Catering-Fahrzeug fuhr in die Schleuse zur Tiefgarage des Oriega-Towers. Routinemäßig wurde er von drei Observationsteams gescannt, die alle nichts voneinander wussten. Aber die Sensoren aller drei lieferten die gleichen Resultate: Ein Insasse, ein einfacher Lieferant Ende 50, die Ladung bestand aus zahlreichen Delikatessen, überwiegend echtes Mangalitza-Schwein. Wie allgemein bekannt, war dies Pavel Oriegas Lieblingsgericht. Die Daten wurden wie üblich gespeichert, fanden aber keine weitere Beachtung. Catherine Ngyien hatte mit der Abschirmung des Fahrzeuginneren ganze Arbeit geleistet.
Als der Lieferwagen in der Tiefgarage zum Stehen kam, sprang die Sicherheitschefin des Oriega-Clans schnell von der Ladefläche und half ihrem Chef beim Aussteigen.
„Endlich! Und nächstes Mal geben Sie sich ein wenig mehr Mühe.“ Womit genau sie sich mehr Mühe geben sollte, ließ er offen, das war aber auch unwichtig. Catherine nickte ergeben, das stellte ihn immer zufrieden. Sie wusste, dass ständiges Beschweren zu Pavels Persönlichkeit genauso gehörte, wie sein lächerlicher Versuch ein harter Unterweltboss zu sein. Und natürlich seine quengelige Stimme.
„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Mr Oriega?“, fragte sie, während sie über das Wanddisplay seinen Privataufzug rief.
„Nach dieser harten Nacht will ich nur noch in die Wanne und dann ins Bett. Und wehe, irgendjemand weckt mich morgen!“
Der Fahrstuhl öffnete sich mit einem sanften Zischen, er stieg ein, gefolgt von den beiden Bodyguards, und wartete ungeduldig auf den Bioscan.
„Wie Sie wünschen. Schlafen Sie gut, Sir.“
Die Sicherheitsüberprüfung war beendet und die Türen schlossen sich hinter Pavel Oriega, der sie keines Blickes mehr würdigte. Sie blieb allein in der großen Tiefgarage zurück.
Catherine blieb noch einen Augenblick vor dem geschlossenen Aufzug stehen und dachte über die Ironie nach, die in diesem Moment lag. Natürlich hätte sie diesen Marco Gander auch in den Tower bringen lassen können, schließlich hatte sie Oriega ja auch unbemerkt hinaus- und wieder hineingeschafft. Aber das hatte der ach so durchtriebene Pavel in seiner Selbstverliebtheit gar nicht registriert. Und darauf hatte ihr Plan aufgebaut.
Sie ging hinüber zu dem Lieferwagen, änderte ein paar Einstellungen im Bordcomputer. Die Überwachungsteams würden gleich wieder nur einen fiktiven Fahrer Ende 50 und seine nunmehr leere Ladefläche scannen. Sie verzichtete darauf, dem Wagen ein Ziel anzugeben, sondern steuerte das Fahrzeug lieber selbst. Langsam fuhr sie die Auffahrt empor. Sie war Profi genug, um jetzt nicht hektisch oder gar übermütig zu werden. Noch war sie nicht in Sicherheit.
Nur dadurch, dass sie Oriega hatte überreden können mit ihr zu der alten Fabrik zu fahren, konnte sie seinen MDA in die Hände bekommen, das Gerät, dass er hütete wie seinen Augapfel. Der verzogene Möchtegern-Gangster hatte ihr tatsächlich abgekauft, dass sie nur eine besonders gute Digi-Flare installieren wollte.
Catherine passierte die Schleuse ohne Probleme und fuhr hinaus auf die Archani Avenue. Jetzt, in den frühen Morgenstunden, waren auf den Straßen nur einige Transporter unterwegs. Sie hatte freie Fahrt.
Direkt vor Pavels Augen hatte sie das Programm installieren können, das sich ungehindert tiefer und tiefer in die Eingeweide des Clan-Netzwerks fraß. In wenigen Stunden würden all die geheimen Datenbanken, Passwörter und Konten gelöscht sein. Da der Angriff aus Pavels MDA selbst kam, würde ihn die Sicherheitsabteilung nicht bekämpfen, ja nicht einmal erkennen können. Spätestens morgen Mittag würde sich der Vorfall bis zu seinen Kunden, Konkurrenten, Opfern und Feinden herumgesprochen haben. Und dann…
Nur schade, dass sie Pavels Gesicht nicht sehen konnte, wenn es soweit war.
Das war ihr Abschiedsgeschenk und gleichzeitig ihre Eintrittskarte in ein neues Leben. Langsam verschwand der Oriega-Tower aus ihrem Rückspiegel. Die Sonne ging gerade auf und tauchte den Himmel in eine kitschige Morgenröte.
Ihr sonst so kontrolliertes Gesicht zuckte, zuerst leicht, dann immer stärker. Schließlich konnte und wollte sie sich nicht mehr zurückhalten. Sie lachte laut auf.
Nur wenige Blocks entfernt wartete ein UWS-Team auf sie, dass sie aus Xiva ausfliegen sollte. All ihre Taten würden vergeben sein. Mit einer neuen Identität würde sie es sich bis an den Rest ihres Lebens an einem Ort ihrer Wahl gemütlich machen könne. Über Monate hatte sie insgeheim diesen Deal ausgehandelt, jetzt war sie am Ziel. Catherine Ngyien würde es bald nicht mehr geben. Patrice Leibao, der Chef der Zentralasien-Abteilung persönlich, hatte ihr das in einem gesicherten Videochat garantiert. Und wenn man dem nicht trauen konnte, wem dann?