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Strange 5 - Maschinenmensch

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03.01.2002
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Strange 5 - Maschinenmensch

Maschinenmensch

Mittwoch, 12. Mai, 11:17 Uhr
„Wir müssen Sie noch einmal fragen: Sind Sie sich immer noch sicher? Ab jetzt gibt es keine Rückkehr.“ Phil hörte die Stimme des Chirurgen nur noch halb im Dämmern. Er nickte kurz und kaum merkbar. Sie hatten schon mehrfach diese Frage an ihn gerichtet. Und jedes Mal war er sich ausnahmslos sicherer geworden. Es war sein fester Wille. Aber er hatte Einsehen mit seinen Gegenübern, schließlich war es ihre Pflicht. Genauso wie dieser finale Schritt für ihn zur Pflicht geworden ist. Ungeachtet der Risiken. Auch darauf haben sie ihn immer wieder hinweisen müssen. Es war lächerlich. Wann bot sich einem Arzt schon so eine Gelegenheit? Phil wusste von seiner Macht über das Team. Ein kurzes Nein von ihm hätte der Karrierefixierung dieser Leute einen saftigen Dämpfer verpassen können. Er ignorierte diesen Gedanken. Wenn das alles vorbei sein wird, wird er der Sieger sein. Er wird seine Zukunft umstellen dürfen, nicht die anderen. Auch er hatte Zeiten gehabt, in denen er nach solchen Motivationen gelebt hat, leben musste. Bald nicht mehr.

Freitag, 7. Mai, 08:42 Uhr
„Der Chef ist im Moment noch auf einer kurzen Visite. Er erwartet jedoch schon ihren Besuch. Darf ich Ihnen einen Kaffee zubereiten, während Sie auf ihn warten?“ Phil starrte die Vorzimmersekretärin an. Eine schöne Frau, Anfang 30, schlank, echt dunkelblond. Er nickte gefühllos. Freundlichkeit wäre ohnehin nicht angebracht gewesen. Er hatte es schon gleich bei seiner ersten Begegnung mit ihr versucht.
Ihr Chefarzt hatte ihn dann aufgeklärt. „Meine Vorzeige-Operation. Ist zwar schon fast zwei Jahre her, damals waren wir noch nicht allzu perfekt, aber mittlerweile haben meine Kollegen aus der Neuro-Chirurgie beachtliche Verbesserungen erzielen können. Sie müssen zugeben, eine treue Seele und absolut zuversichtlich.“ Der Arzt schwärmte von ihr, als wäre sie seine junge Geliebte oder mindestens seine Lieblingstochter. Aber Phil musste ihm Recht geben.

Freitag, 7. Mai, 08:34 Uhr
Phil stieg aus dem Taxi. Er drückte dem Fahrer seinen einzigen 50-DM-Schein in die Hand. „Stimmt so“, bestätigte er mit einem kurzen Lächeln. Es sollte sein letztes Lächeln sein und auch sein letztes Geld. Ab hier brauchte er für die nächste Zeit nichts Materielles. Der Taxi-Fahrer bedankte sich artig, gab aber schnell Gas und fuhr eilig davon. Vermutlich hatte er befürchtet, sein Fahrgast würde seine großzügige Trinkgeld-Spende bereuen können. Phil schaute dem Wagen einen kurzen Moment nach. Er griff nach seiner Reisetasche und hastete auf den Eingang der Klinik zu. Zum Glück kannte er schon den Weg zu seinem Zielort.
Phil wollte keinen weiteren Moment mit den Idioten und Wichtigtuern verbringen, deren Ziel es war, sich ihre Idee wieder ausreden zu lassen. Jede neue Technik hat ihre Schattenseiten, dachte auch er damals. Als sich die plastische Chirurgie zur sogenannten Schönheitschirurgie gewandelt hatte, bekamen die Psychologen immense Zuläufe von essgestörten und nasenhassenden Jugendlichen. Jetzt ist es doch genau die gleiche Situation. Und die Talkshows bekamen ebenfalls neue Themen aufgesetzt. Die Ethiker des Landes äußerten sich entsetzt über den Verkauf des Lebens und den Verfall der Individualität. Phil verachtete diese Ignoranten. Er, und nur er, kannte sein Ziel und seine Intentionen. Der letzte der ihn aufhalten konnte, war ein ego-gestörter Sozio-Psychologe oder ein naiver Moralquerdenker.
Auch hier saßen wieder einige von den Aspiranten und warteten auf ihre Gesprächs-Termine. Phil sah ihnen ihre Selbstzweifel bereits von weitem an. Die meisten starrten stillschweigend auf den Boden vor ihren Füssen. Verboten war ihr Vorhaben nicht. Sie können sich jederzeit dem finalen Schritt hingeben. Aber in Phils Augen waren sie einfach viel zu feige. Er empfand schlichtweg Verachtung für sie.

Dienstag, 4. Mai, 16:44 Uhr
„Ich erwarte Sie dann am Freitag Morgen. Sagen wir, so gegen 9 Uhr. Wäre Ihnen das Recht?“.
Es war Phil Recht. Er war sogar sehr froh darüber, noch einen vorgezogenen Termin zu erhalten. Zwei Monate Wartezeit anstelle von sechs, acht oder gar einem Jahr. Der Grund ist schließlich offensichtlich. Privatrechnung, Vorkasse und nicht zu verachten: eine kleine Finanzspritze für die Kinderstation. Sein gesammeltes Vermögen für die nächste Urlaubsreise. Aber er hatte sich vorgenommen, keinerlei weltliche Dinge in seinem zukünftigen Leben zu verfolgen. Er brauchte sein Geld schlicht nicht mehr.
Der Chefarzt war ein hagerer, schlanker Mann Mitte fünfzig. Er hatte volles, im Alter jedoch völlig ergrautes Haar, außerdem sah man ihm sein zweimal wöchentliches Tennis-Spiel durchaus an. Phil wusste nicht wirklich, was er von ihm halten sollte. Einerseits ein Karrieremensch wie er, andererseits ihm gegenüber kühl, arrogant, fast abweisend. Für einen Moment kam Phil die Idee, ob der Arzt nicht vielleicht selbst ... Nein, räumte er seine Zweifel weg. Der Arzt hätte bestimmt nicht die Risiken auf sich genommen, die der Eingriff zur Folge hätte. Er selbst ist ja auch der Beste. Wem würde er da schon sein Leben anvertrauen können. Eben auch ein Feigling.
„Und vergessen sie nicht Ihren OP-Termin! Soll ich es Ihnen vielleicht doch noch aufschreiben?“. Der Arzt lachte kurz auf und zeigte sein komplettes Gebiss. Perfekt weiß, keine schiefen oder versetzten Zähne. Ein perfektes Gebiss eines perfekten Arztes. „Ganz bestimmt nicht“, entgegnete Phil. Ganz bestimmt nicht.

Freitag, 30. April, 10:01 Uhr
Phil hielt die kleine Folie in seiner Hand. Er konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob sich das nun merkwürdig anfühlte. Um ehrlich zu sein, erinnerte es ihn direkt an seine Plastik-Mülltüten. Wozu diese verdammte Technik doch fähig ist.
Er hatte schon von diversen Methoden gehört. Externe Kontrollen durch Mikrowellen-Aufsätze haben zu vermehrten Todesfällen durch Hirntumore geführt, demzufolge wurden sie eingestellt. Danach kam die Idee in Mode, einfach einige Teile der Hirnmasse durch punktierte Laserschüsse matt zu setzen und dadurch die Funktionalität des Hirns zu senken. Die dafür eingesetzten Roboterarme hatten jedoch allesamt einen zeitlich beschränkten Bug, am 256. Tag nach Erstinstallation haben sie unbemerkt ihre Laser-Emissionen einfach einige Potenzen höher geschraubt.
Die aktuelle und bislang unauffälligste Methode besteht nun darin, einfach eine Plastikhaube unter die Schädelplatte zu kleben. Durchzogen von fast kaum zu sehenden Metallfäden überbrücken sie einfach die Neuronen-Impulse innerhalb des Großhirns. Phil hatte das Prinzip nicht wirklich verstanden. Er hatte jedoch im Laufe der Wochen gelernt, einfach jedes Wort des Arztes mit einem leichten Nicken zu bestätigen und ihm den Glauben an seine Allwissenheit zu lassen.
Phil zerknüllte die Folie in seiner rechten Hand und glättete sie wieder aus als ob nichts geschehen sei. Erstaunlich, wirklich erstaunlich. Der Arzt hatte ihm den Ablauf mehrfach erklärt. Zuletzt war gleich das gesamte Team anwesend, angefangen bei den Studenten bis hin zu den Oberärzten.
Phil fühlte sich wie im Zoo. Warum starrten ihn alle an. Er hatte keine Missbildungen, noch war er äußerlich erkennbar krank. Im Gegenteil: Phil hielt sich für einen kerngesunden Menschen. Besser kann es einem Mann, der langsam seine letzten Dreißigerjahre genießt doch kaum ergehen. In jungen Jahren hat er allabendlich seine Jogging- oder Raddistanzen abgerissen wie kein zweiter. Seine Berufsjahre haben ihn leider ein wenig daran hindern müssen. Aber auch jetzt versucht Phil immer noch, auf seinen Lebensstil acht zu geben. Keinerlei Alkohol, fettreduzierte Kost und wann immer es geht, auf den Beinen sein. Er ist stolz auf sich und die Tatsache, dass er keinen Bauch vor sich herschleppte. Er dachte nicht selten an die Gleichaltrigen, die wiederum erfolglos gegen ihre Bäuche und Krampfadern ankämpfen mussten. Phil lobte sich immer wieder gerne für seine damalige Voraussicht.

Donnerstag, 29. April, 15:12 Uhr
Der Psychologe setzte sich Phil gegenüber auf die andere Seite seines Arbeitstisches. Er war ein schmächtiger Mann mit Drei-Tage-Bart und viel zu großer Brille. Phil fand ihn eigentlich gerade deshalb fast sympathisch. Die Ärzte hatten auf dieses Gespräch bestanden. Nun, da Phil schon einmal hier saß, konnte er sich zumindest die Argumente der Gegenseite wieder einmal in aller Ausführlichkeit anhören.
„Sie müssen das doch verstehen können? ... Sehen Sie, ich stufe sie als gebildeten und standhaften Mann ein ... Sie brauchen es doch nicht tun. Warum in Gottes Namen?“ Phil zuckte mit den Schultern. Bestimmt um dir einen Gefallen zu tun und deinen Scheiß-Job noch um ein paar Tage zu verlängern.
Phil wollte gehen. Er stand auf. „Bleiben Sie bitte sitzen.“ „Warum?“ „Wir sind noch nicht mit unserem Gespräch fertig.“ „Ich schon. Auf Wiedersehen.“ „Das ist ihre letzte Gelegenheit, professionelle Unterstützung...“ Phil zog die Tür hinter sich zu, ohne vorher die Klinke nach unten zu ziehen.

Donnerstag, 15. April, 13:18 Uhr
Die Privaten stürzten sich wie die Aasgeier auf die Beute. Es war selten, aber es kam vor, alle paar Monate hochgerechnet. Ganz im Sinne der Wahrheit der Statistik.
Die Wackel-Kameras zeigten den Torso. Es waren bestimmt keine Filmschüler, aber die Unschärfe und die Entfernung waren die kümmerlichen Überreste der Bilder, die die Ordnungshüter halbherzig zu verhindern versuchten.
Der Mann stand in Hand- und Fußschellen gefesselt in der Mitte eines Kreises aus Sonderbeamten.
Es war unnötig, er hätte sich ohnehin keinen Zentimeter bewegen wollen. Sie kannten sein Gesicht, sie kannten seine Akte, sie kannten seine Geschichte.
Er hatte ausgedient. Es war kein Affekt, auch kein Zufall. Er hatte in seinem eigenen Sinne völlig richtig gehandelt. Die anderen konnten ihn nicht verstehen. Er war im Recht.
Die übliche Vorgehensweise bestand nun darin, ihn in eine psychatrische Klinik einzuweisen. Die einzige Hoffnung liegt darin, sein Denken völlig außer Kraft zu setzen, seine Wahrnehmungen auf ein Minimum zu reduzieren. Einzig und allein ein stoffwechselnder Körper.
Phil dachte nach, zum ersten Mal seit langem. Er schaltete den Fernseher aus.

Samstag, 12. Februar, 23:47 Uhr
Konnte das die Lösung sein. Einfach seine Existenz aufgeben. Zur Maschine werden. Nicht mehr denken, einfach reagieren. Gehorchen. Gefühle vergessen. Der Spot versprach berufliche Top-Aussichten egal in welcher Branche. Keinen Ärger mit den Vorgesetzten. In Zukunft pünktliche und korrekte Arbeitsweisen.
Reibungslos, mechanisch, statisch, optimal, perfekt. Perfektion. Das Wort flog durch Phils Kopf. Perfektion. Perfektion. Vergessen. Perfektion.
Er notierte sich die Adressen einiger Verbands-Kliniken. Er hatte seine Lösung gefunden. Vergessen und Perfektion.

Donnerstag, 10. Februar, 02:11 Uhr
So friedlich. Sie war immer noch eine schöne Frau. Ihr Aussehen glänzte heller, als er sie jemals in den letzten Jahren gesehen hatte. Jünger, blasser. Das Wasser war trüb. Rötlich trüb. Rosenwasser. Es umhüllte sie in eine liebliche Aura. Er konnte schwerlich die Konturen ihres Körpers ausmachen. Nur ihr Kopf lag auf dem Rand. Sie hatte ein Handtuch in ihren Nacken gelegt. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Lippen rosa und schmal. Nur eines verletzte diese Melodie des Friedens. Phil sah es schon auf den ersten Blick. Frische und unschuldige rote Fäden, die sich noch immer den Weg aus ihren Unterarmen an die Oberfläche des Wassers bahnten.

 

Respekt...

Ich versuche auch seit einiger Zeit, eine Geschichte auf diese Art zu erzählen, aber ich habe es noch nicht hinbekommen. Das Problem dabei ist es mMn die Pointe ans Ende, also den eigentlich Anfang der Geschehnisse zu setzen. Und genau das ist dir gelungen. :)

Würde man die Ereignisse in der richtigen zeitlichen Reihenfolge lesen, bliebe immer noch eine recht gute SciFi – Geschichte, die mich ein wenig an Michael Crichtons „Endstation“ erinnert hat. Gewaltprävention mittels Gehirnmanipulation. Nicht wirklich neu, aber sehr gut erzählt mit melancholischem Unterton, das hat mir gefallen.
Dazu kommt dann noch die hervorragende Erzählstruktur, durch die deine Geschichte wirklich sehr gut wird.

Eine Sache noch. Ich würde vielleicht die beiden vorletzten Szenen (12. Februar, 15. April) austauschen. Sonst liest es sich so, als würde er erst seine Gedanken auslöschen wollen und erst zwei Monate danach durch die Fernsehsendung auf die Idee dazu gebracht werden. Oder den 12. Februar ganz weglassen und die dort enthaltene Erklärung in den 15. April reinpacken.
Ist aber nur ein Vorschlag von mir, da mir das so ein wenig komisch vorkommt.

Ansonsten aber ein wirklich gelungene Geschichte, Kompliment. :D

Noch eine Frage zum Titel: Was genau bedeutet das Strange 5? Nummerierst du deine Geschichten durch?

 

Hi,

dankedankedanke für die guten Worte. Ein älterer Text, den ich vor einigen Monaten geschrieben und fast vergessen habe.

Zur Strange-Nummerierung. Meine etwas "ungewöhnlichen" Texte wollte ich alle zusammen unter einer Thematik einordnen. Einige der anderen Teile findest du auch hier bei KG.de

C.

 

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