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Strange 1
Strange 1
Sie geben mir Tinte zu trinken. Soweit ich das in dieser Verdammnis beurteilen kann. Die Tinte riecht abscheulich. Ausgelacht haben sie mich. Mir gesagt, ich solle mir keine Gedanken darüber machen, viel bleibe mir ja nicht. Als ich erwidert habe, diese nicht anzurühren, haben sie sie gekocht und mir über den Kopf geschüttet. Erkennen können habe ich sie nie. Wenn es aus dieser Hölle jemals ein Entkommen geben könnte, ich will sie auch nicht sehen wollen. Ich habe seit Tagen keinen ruhigen Schlaf finden dürfen. Ihre leuchtenden Augen starren mich aus der allumfassenden Dunkelheit an. Dies ist der tiefste Ort, der Schatten selbst des letzten Lichts. Hier unten bin ich am weitesten von der Helligkeit des Tages entfernt, selbst die Nacht haben sie verbannt. Wie viele es sein mögen. Einer, zwei, zehn, hunderte, tausende? Nur ihre Schatten huschen über die fließenden Wände.
Meine Hände schmerzen. Es ist zu dunkel, um zu erkennen, was sie mit ihnen getan haben. Ihr Lachen dröhnt aus den tiefen Gewölben, jedes Mal, wenn ich meine Hände berühre. Und sie schmerzen noch stärker. Haben sie sie verbrannt? Ob sie meine Hände verbrannt haben, damit ich nichts mehr fühlen darf. Diese Schmerzen begleiten mich nun bereits vom Anfang meiner Anwesenheit hier unten an. Oder ist es ein Oben? Ein Mittendrin? Die Unwissenheit über all dieses Elend zerfrisst mich. Ich greife nach meiner Hand. Und wieder höre ich sie lachen. Über mich. Das Echo rennt durch die Hallen und verfängt sich in mir. Lauter und lauter. Wahnsinn breitet sich aus. Der Kampf richtet sich gegen mich. Mein Handgelenk schließt sich. Ich fühle die Verätzung, die tief in die platzenden Adern greift. Blut strömt über meine Finger und umspült sie. Fingerkuppen stoßen auf Knochen. Mein Schreien übertönt ihr Lachen. Schweiß bricht in mir aus. Die Kraft zum Stehen verlässt mich plötzlich. Der Boden gibt nicht nach, als mein Körper aufschlägt. Schwerfällig rolle ich mich auf die Seite und taste mit meinen lebendigen Fingern nach den toten Wänden, die in den vergangenen Tagen mein letzter Anker gewesen sind. Sie verändern sich nun. Leben beginnt auch sie zu ergreifen. Die Wände pulsieren. Sie atmen. Erschöpft und erleichtert zugleich falle ich in den Schlaf.
Als ich erwache, weiß ich sofort, dass jemand neben mir liegt. Eine Hand streichelt meinen Kopf, eine andere umschlingt meinen Körper. Dazu höre ich eine helle, weibliche Stimme in einer mir nicht bekannten Sprache singen. Liebevoll und schön. Ich drehe mich zu ihr. Sie ist viel jünger als ich. Vielleicht 15 Jahre. Ein kaum anmerkbares Lächeln huscht über mein Gesicht. Sie lächelt kurz zurück. Ist es Geborgenheit, die sie mir schenkt? Nennt man das so? Hier unten, am letzten Ort der Hölle? Ich fühle mich nun aber danach. Das Mädchen streichelt mich weiter. Sie ist völlig nackt und von Dreck verschmutzt, ihre langen blonden Haare hängen jedoch fast über ihren ganzen Körper.
„Wie heißt du?“, frage ich leise.
Sie legt mir ihren Finger auf den Mund und anschließend bei sich. Ich richte meinen Körper auf und setze mich neben sie. Woher ich die Kraft dazu nehme, weiß ich nicht. Mag sein, dass ich sie erschreckt habe. Sie weicht reflexartig von mir zurück.
„Keine Angst“, beruhige ich sie und halte ihr meine Hand hin.
Sie reagiert nicht auf mich, stattdessen geht sie an ihrer jetzigen Position in die Hocke. Leise fängt sie wieder mit ihrem engelsgleichen Gesang an. Ich lausche und betrachte dabei ihre Lippen, die sich für jede einzelne Silbe wie ein Kunstwerk neu formen. Erst jetzt nehme ich auch die Zelle um uns herum wahr. Es ist das gleiche stinkende Rattenloch wie gestern. Oder wann auch immer. Sollte ich mich daran erinnern, wann ich zuletzt wach gewesen bin? Meine Hände schmerzen nicht. Die Knochen meiner linken Hand sind nun tot. Verblichene Fetzen Fleisch hängen zwischen den Sehnen. Trockenes Blut befleckt die Gelenke. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe oder bewusstlos gewesen bin. Diesem Anblick nach schon sehr lange. Und irgendwann haben sie das Mädchen zu mir gelegt.
Sie haben mir heute nichts gebracht. Ich habe hungern müssen. Genauso ist es dem Mädchen ergangen. Sie hat ihren Tag damit verbracht, zu singen und dabei Kreise mit ihren Fingern in den Dreck auf dem gepflasterten Boden zu zeichnen. Oder sonstige Figuren. Beobachtet habe ich sie nicht, sie wirkt einfach viel zu apathisch auf mich. Mehrmals habe ich versucht, sie über Dinge zu befragen. Wer sie ist, wo sie herkommt, wo wir sind, was noch kommen wird, wer sie sind. Immer hat sie die gleiche Geste mit dem schweigenden Finger gemacht. Bis ich es irgendwann aufgegeben habe. Überhaupt ist sie mir ein Rätsel, genau wie der ganze Rest um mich herum. Das hat mir den Tag vertrieben und mich meine Angst ein wenig vergessen lassen. Häufig habe ich Schatten an den Wänden hier unten gesehen. Aber es ist einfach nie jemand im Raum gewesen, außer dem Mädchen, die niemals ihren Platz verlassen hat. Sie sind es gewesen, sie zeigen sich mir immer noch nicht. Ich frage mich, ob es sie denn überhaupt wirklich gibt, ob es auch das Mädchen wirklich gibt. In einem Moment betrachte ich die Wände dieses Raums. Es sind immer weitere Details, die mir ins Auge fallen. Sie wirken wie Haut, menschlich, und sie über und über mit wirren Mustern und Zeichnungen bedeckt, die aber weder einzeln, noch im gesamten, einen Sinn für mich ergeben. Es ist keine Schrift, oder keine, die ich kenne, aber auch keine Pläne für irgendetwas. Der Gesang des Mädchens hört plötzlich auf. Ich schaue zu ihr hin.
Die vermeintliche Nacht ist schrecklich gewesen. Immer wieder habe ich mich hin und her geworfen. Das letzte Bild des gestrigen Tages scheint sich in den Wänden meiner Zelle eingebrannt zu haben. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber die Zeichen geben nun ihren Sinn frei. Es sind Warnungen. Ich erkenne es deutlich. Auch das Mädchen ist nur eine solche gewesen. Oder das, was sie mit ihr getan haben. Als ich sie zuletzt gesehen habe, haben sie ihr die Bauchdecke schon aufgerissen gehabt, blutige Gedärme sind auf den Boden gefallen und ihre unschuldigen Augen haben sie aus ihren Höhlen gerissen. Das Mädchen ist jetzt wieder weg. Wo ist sie? Sie ist einfach weg. Als hätte es sie niemals hier in dieser Zelle gegeben. Genau so eigenartig, wie sie hierhin gelegt worden ist, genauso schnell haben sie sie wieder abgeholt. Meine erste Wahrnehmung, nachdem ich beschlossen habe, meinen Halbschlaf zu beenden, ist ihr hämisches und wie Donner durch die Hallen dröhnendes Lachen gewesen. Mit einem Male bin ich wach geworden. Jetzt sitze ich, dicht an die Wand gepresst, auf dem kargen Boden und zittere. Meine Gelenke sind weich, stehen könnte ich nicht. Was haben sie getan. Warum das Mädchen? Mein Gott, sie ist so jung und unschuldig gewesen. Warum nur sie? Das dürfen sie nicht. Sie tun es wegen mir. Um mich zu quälen. Mir den letzten Verstand aus dem Leib zu beißen. Irgendwann werden sie mich haben, aber vielleicht ist es auch schon soweit. Hat es das Mädchen jemals gegeben? Habe ich nur geträumt? Alles so wirklich. Keine Ahnung. Setzt so der Wahnsinn ein? Nein, ich denke noch. Ich bin in der Lage, klare Gedanken zu fassen, noch. Wie lange? Was werden sie noch tun, um mich zu ermüden?
Die Wand hinter mir greift um sich. Unmöglich. Ich reiße mich herum. Hände und Klauen stoßen aus dem soliden Gefüge nach mir. Eine Kralle vergreift sich in meinen Hals. Fleisch wird herausgezogen, Blut tritt hervor. Ich greife nach meiner Wunde und da höre ich sie wieder lachen. Sofort springe ich in die Raummitte. Die Hände werden länger, oder die Wände lassen den Raum schrumpfen, ich weiß es nicht. Panisch schreie ich auf. Schreie so laut ich kann. Schreie, bis meine Kehle brennt. Aber meine Laute werden immer schwächer. Zuletzt bringe ich nur ein unmerkliches Hauchen hervor. Meine Lippen formen immer noch meine stumme Verzweifelung. Vielleicht muss ich sterben jagt es mir wieder durch den Kopf. Oder sterbe ich bereits? Bin ich längst tot. Eine lebendige Welt kann das hier alles nicht sein. Es muss die Hölle sein. Mein Verstand zerbröckelt im Spiegel des Horrors. Und mein Körper verwest, stirbt, zerfällt, verstaubt längst schon. Weiter zurückweichen kann ich nicht mehr. Die Hände greifen mit ihren vermoderten Fingern nach meinen letzten Kleidungsfetzen. Sie kommen noch näher. Sie erreichen mich. Zittrige Nägel hinterlassen kratzige Spuren auf trockenen Hautfetzen. Ich winde mich, versuche mich gegen sie aufzulehnen. Ein Schritt zurück, Finger stechen nach meinem Rücken. Sie graben sich langsam durch die Haut auf mein Fleisch hin. Brennende Wunden am ganzen Körper. Keine Wahrnehmungen, keine Wärme, keine Kälte, kein Gefühl. Schmerzen überall. Tiefer und tiefer sehe ich die Hände in mich eindringen. Ziehen an Muskeln, Fleisch, bis hin zu Knochen. Ziehen Organe aus den Öffnungen und verschlucken sie in den Wänden. Zerquetschen Gedärme in ihren Krallen, lassen Tropen auf den Boden spritzen. Saugen an meinen Adern. Verschlucken mich ganz.
© Crashterpiece
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Vielleicht findet jemand einen tieferen Sinn in der Geschichte, ich hab mich einfach nur treiben lassen