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Strabanziertes Streunen
"San sie da Docta?"
Ich schüttelte nur den Kopf und ging ein paar Meter weiter, bis ich auf eine Krankenschwester stieß. Nachdem ich mit ihr geredet hatte, folgte ich der Richtung, in die ihr ausgestreckter Zeigefinger zeigte. Ich ging durch einen langen Gang, links und rechts wandhohe Glasscheiben. Da und dort hingen Landschaftsfotografien in Porträtgröße. Ein paar Pflanzen.
Ich kam an einen Empfangsschalter. Dahinter saß ein übergewichtiges Weib. Das Fett der Arme schwappte über ihre Handgelenke und vorne schauten jeweils fünf Stummel raus. Ein goldener Ring schnürte ihrem Ringfinger das Blut ab. Der Finger war schon ganz blau angelaufen. Stand kurz vorm Abfallen.
Sie musste ihre Ehe wirklich sehr ernst nehmen.
Ich stand etwa zwei Minuten reglos vor dem Pult hinter dem sie saß, ohne dass sie mich bemerkte. Ihre Hirnwindungen waren wohl weniger gut gefettet als der Rest ihres Körpers. Ihr Gesicht zeigte einen angestrengten, konzentrierten Ausdruck. Das was sie da tat, schien sie völlig in Anspruch zu nehmen. Ihre dicken Finger vergewaltigten die Tastatur.
Ich klopfte mit dem Knöchel meines Mittelfingers vorsichtig aufs Pult.
Sie erschrak dermaßen, dass ich Angst hatte, ihr Herzschlag könne aussetzen. Mit weit aufgerissenen Augen glotzte sie mich an. Dafür musste ich mich entschuldigen, dass ich sie so erschreckt hatte...es half alles nichts. Also entschuldigte ich mich. Sie entspannte sich daraufhin ein wenig, was sich aber wenig vorteilhaft auf ihre Erscheinung auswirkte. Sie zerfloss nämlich regelrecht auf ihrem Stuhl.
Ich sprach zu dem Pudding.
Danach fand ich einen bequemen Sessel, setzte mich und wartete. Acht Uhr war vereinbart worden. Es war jetzt drei Minuten vor Acht.
Drei Minuten später holte mich jemand ab und brachte mich zwei Stockwerke nach oben. Der jemand war eine Frau mittleren Alters mit strammen Waden und seriösem Rock. Sie sperrte eine dicke Plexiglastüre auf. Ich trat vor ihr ein. Sie händigte mich an eine Lilafarbene aus. Piercing durch die Lippe. Unzählige Ohringe. Ich spekulierte auf ein Hirschgeweihtattoo oberhalb ihrer Arschbacken.
"Das ist der Gerd, der neue Praktikant", stellte man mich vor.
Es folgten Shackehands. Dann war ich mit der Lilafarbenen alleine. Sie hieß Mandy. Mandy zeigte mir allerhand interessante Sachen: das Stationszimmer, den Medikamentenschrank, interessante Sachen, die Fäkalienspüle, Speisesaal usw.
Sie stellte mich auch den anderen Kollegen vor. Dabei wiederholte sich jedes Mal das Gleiche: Shakehands, in die Augen schauen, Namen sagen, Grinsen und weiter. Ich glaube, ich kam ganz gut an. Alle waren so freundlich zu mir...
"Fangen wir jetzt mit dem Ganzen organisatorischen Scheiß an", sagte Mandy. Ich war einverstanden. Ich folgte ihr zum Einführungsgespräch. Es fand in einem kleinen Raum statt. Zwei Fenster. Durch das eine schien die Sonne und mir direkt ins Gesicht. Sie legte ein Bein auf ihr Knie und schaukelte ihre Wade. Durch ein fransiges Loch sah ich weiße Haut. Sie begann mit ihren Fragen. Das Übliche, bis schließlich:
"Hast du irgendwelche Ängste oder Befürchtungen bezüglich der Arbeit in der Psychiatrie?"
Ich überlegte eine Weile: Natürlich hatte ich Ängste und natürlich hatte ich Befürchtungen, aber ich wollte witzig sein und antwortete:
"Nur die, dass ich am Ende noch zwangsweise hierbleiben muss."
Der Schuss ging nach hinten los. Sie musterte mich skeptisch. Ich rutschte nervös auf meinem Stuhl hin und her. Grinste dämlich. Dann stand sie auf und zog die Vorhänge zu. Die Sonne schien mir jetzt nicht mehr ins Gesicht. Jeder erklärt die Welt auf seine Weise. So auch Mandy.
Danach durfte ich auf eigene Faust auf Station herumstreunen. Man gab mir einen Pager mit. Zur Sicherheit. Notfalls konnte ich jetzt Alarm auslösen, wenn ich das Gefühl hatte, dass mir jemand etwas über die Rübe zog.
Ich fühlte mich alles andere als sicher.
Ich blieb deshalb erst mal in Reichweite meiner Kollegen. Ich schaute einer kleinen Italienerin über die Schulter. Fester runder Hintern und dickes Gesicht. Wenn sie lachte, verschwand ihre Nase. Sie hieß Pia Casimo. Auf Station galt es als Running Gag, sie Huber zu nennen. Nettes Mädel diese Pia. Sie hatte die Angewohnheit den Patienten, die etwas von ihr wollten, kleine Rätselaufgaben zu stellen, bevor sie ihnen ihren Wunsch erfüllte. So hörte man z.B. aus irgendeiner Ecke ihre piepsige Stimme sagen: "Jeder will es werden, aber niemand sein. Was ist gemeint?"...oder: "Die Armen haben es und die Reichen brauchen es? Was ist das?"...sie war wirklich ein nettes Mädel...diese Huber.
Neben ihr saß eine Blonde, die ganz klar die Rolle der Arroganten innehatte. Alles an ihrem Äußeren war perfekt gestylt. Sie sprach nicht viel, aber wenn sie sprach, sagte sie immer irgendetwas Kluges. Sie war wirklich gescheit. So hörte ich aus ihrem Lipclosemund: "War gestern shoppen!... Warum?... Mein Kleiderschrank hatte Hunger! Hahaha!". Diesen Gag hörte ich an dem Tag gefühlte zwanzig Mal. Ich fand ihn schon beim ersten Mal nicht komisch. Aber sie hatte dafür diesen Körper. Was fürs Auge! Das machte sie erträglich.
Irgendwann traute ich mich. Ich klopfte an die Tür eines Patientenzimmers. Keine Antwort. Ich öffnete trotzdem. Das Zimmer schien leer. Ich rief vorsichtig 'Hallo?' hinein. Keine Antwort. Ich wollte die Tür gerade wieder schließen, als ich am Boden eine Gestalt knien sah. Sie war mir davor nicht aufgefallen, da sie sich kaum vom dunkelbraunen Fußboden abhob. Aber jetzt, als ich sah, was da am Boden kniete, machte ich große Augen. Ein Riese. Ein Baum von einem Mann. Mindestens zwei Meter. Völlig nackt. Regungslos. Auf dem Boden kniend. Vielleicht betend? Vorsichtig schloss ich die Tür wieder. Ich wollte nicht stören. Ich ging ein, zwei Schritte, als ich plötzlich eine gewaltige Hand auf meiner Schulter spürte. Komischerweise erschrak ich nicht. Ich drehte mich um und sah den knienden Riesen von vorhin. Diesmal stehend. Er war immer noch vollkommen nackt. Sein Riesenschwengel baumelte in Höhe meiner Brust. Er blickte mich mit stierenden Augen an. Ich trat einen Schritt zurück und er trat einen Schritt vor. Ich wusste sofort, dass ich ihm so nicht entkommen würde, dass er mir überall hin folgen würde. Deshalb versuchte ich mit ihm zu reden. Ich erzählte ihm, wer ich war und was ich wollte und wo ich hinwollte. Das schien ihn zu ermüden. Langsam fielen seine Äuglein zu. Dann krachte er zu Boden. Es gab ein Mordsgeschepper. Dann stand er schon wieder. Wieder sah er mich unverwandt an. Ich hatte jetzt keine Angst mehr vor ihm. Ich wusste jetzt, wie ich ihn zur Strecke bringen konnte. Ich musste einfach nur von mir erzählen. Deshalb ging ich auf ihn zu, packte ihn unter dem Arm und führte ihn zurück in sein Zimmer. Er ließ sich wirklich von mir führen! Aber nur ein paar Meter...dann riss er mir aus, er wetzte durch die halbe Station, wie ein Irrer, sein Riesenschwanz schnalzte um seine Hüften wie eine Peitsche. Er kasteite sich selbst! Schließlich blieb er vor einem "Fluchtplan im Brandfall" stehen. Er legte seinen Zeigefinger darauf und warf mir einen Blick zu, dass ich zu ihm kommen sollte. Langsam näherte ich mich ihm. Er stand da wie eine Statue. Keine Regung. Keine Anzeichen eines Erstickungsanfalls. Er musste also atmen. Schließlich stand ich neben ihm und sah, dass sein Finger auf dem Wort Fluchtplan lag und die beiden letzten Buchstaben "an" abdeckte. Verwirrt sah ich in sein Gesicht. Es sah grüblerisch aus. Ich sprach ihn an. Er drehte seinen Kopf langsam zu mir und fragte: "Was ist ein Fluchtpl?".
Ich streunte weiter. Kam an einer Couch vorbei, auf der ein junges hübsches Mädchen saß. Sie lachte mich an. Also setzte ich mich neben sie. Ich war überrascht solch eine Person in der Psychiatrie zu finden. Ich war immer der Überzeugung gewesen, dass die 'schönen Menschen' nicht in solchen Einrichtungen landeten, einfach, weil sie 'zu schön' waren, um sie der Gesellschaft vorzuenthalten. Man konnte sie 'so schön' ausbeuten.
Ich versuchte mit ihr ins Gespräch zu kommen, aber sie lachte nach jedem meiner Sätze und das wurde mit der Zeit ziemlich eintönig. Auch wenn ich sie natürlich verstand. Immerhin war ich ein Scherzkeks.
Schließlich stand ich auf. Ich hatte eine Menge Fragen für Mandy und die stellte ich ihr. Mandy erzählte:
"Ja! Das ist die Frau Königs. Die wurde als ganz kleines Kind mehrmals von ihrem Vater vergewaltigt. Sie war da noch so jung, dass irgendwann da unten alles kaputt war. Sie bekam einen künstlichen Blasenausgang, weil sie nicht mehr pissen konnte. Aber irgendwie hat sie diese Vergewaltigungen verdrängt, das Trauma verarbeitet, vielleicht gerade, weil sie noch so jung war. Sie hat die Schule abgeschlossen. Danach hat sie eine Lehre angefangen, als was weiß ich nicht. Aber dann ging sie einmal mit ihrem Cousin auf eine Party und dort wurde sie dann gruppenvergewaltigt. Ihr Cousin, die Sau, muss wohl nur danebengestanden und zugesehen haben. Da ist das Trauma wieder aufgebrochen, die Erinnerung an ihren Vater usw. Dann wollte sie sich mit Schlafmitteln umbringen, hat aber nicht geklappt und jetzt ist sie hier und lacht, sobald jemand das Wort an sie richtet. Isn armes Ding!"
Ich gab Mandy da recht. War wirklich 'n armes Ding.
Ich ging erst mal was Fressen. In der Kantine gab's was. Auf den vollen Magen eine Zigarette und es ging wieder. Ich kam zurück auf Station. Den Schlüssel für die Tür hatte ich mittlerweile. Ich schloss auf und ein blond gelockter Engel trat mir entgegen.
"Ich bin die Steffi. Die Stationsärztin."
Augen zum Hineinfallen. Zum Ergeben. Zum Vergeben. Was für Augen! Ich sah es grün blitzen, leuchten und funkeln. Ich war hin und weg. Nie hätte ich mir eine Ärztin so vorgestellt. Jetzt verstand ich, wieso die ganzen Psychos hier waren und nicht mehr wegwollten. Diese Augen waren Magneten, sie hielten fest, durchdrangen einen bis ins Mark, verankerten sich dort und nötigten einen zu süßen Träumereien.
Sofort begann mein Hirn auf Hochtouren zu arbeiten. Ich suchte in Sekundenbruchteilen nach der richtigen, alles entscheidenden Antwort. Ich fand:
"Ich bin der Gerd. Praktikant."
Wir schüttelten uns die Hand. Shakehands. Yeah! In meiner Nervosität drückte ich ein wenig zu fest zu. Sie sah mich sonderbar an. Dann sah sie sicherheitshalber auf das Namensschild auf meiner Brust. Darauf stand:
"Lehner. Altenpflegeschüler."
Mit flockigem Gang verließ sie mich. Ich sah ihr hinterher. Ich schwor mir diese Augen nie zu vergessen. Solch eine Erinnerung kann einem das Leben retten. Etwas schwindlig von ihrer Berührung taumelte ich gegen einen Schneemann aus Pappe. Der Schneemann und ich fielen hin. Schnell kriegte ich mich wieder ein, stand auf und richtete den Schneemann, dem ein Teil seines Zylinders nach hinten geknickt war, wieder auf. Dann schaute ich mich um, ob jemand etwas gesehen hatte, sah nur die Königs, die lachte und schlenderte mit leichtem Herzen in Richtung des Stationszimmers.
Dort schien mich ein älterer Herr erwartet zu haben. Er fiel sofort über mich her. Schoss Fragesalven auf mich ab. Ich hatte auf nichts eine Antwort und genau diese Tatsache bereitete mir eine Heidenangst. Ich verkrümelte mich auf den Balkon. Die kalte Luft tat mir gut, noch besser tat mir der graublaue Rauch. Ich merkte, wie meine Nerven sich lockerten.
Dann stand wieder der alte Mann vor mir. Wieder legte er mit seiner Fragerei los. Aber diesmal erschreckten mich seine Fragen nicht. Diesmal wusste ich, dass ich die Antworten wusste; und wenn nicht, log ich halt einfach. Er faselte reichlich diffuses Zeugs. Anfangs verstand ich ihn gar nicht, aber mit der Zeit kriegte ich raus, dass nur jeder dritte Satz von ihm Sinn ergab und zum Vorvorletzten passte. Im Laufe des Gesprächs kam raus, dass der Alte früher Professor für Mikrotechnologie an der TU München gewesen war. Seit über 10 Jahren ist er in Rente und genau dort liegt auch sein Problem. Dieser Mensch hat es nie geschafft, sich mit seinem Status als Rentner und der daraus resultierenden übervollen Freizeit anzufreunden. Er konnte seine freie Zeit einfach nicht füllen. Er war es gewohnt, ständig unter Strom zu stehen. Das er plötzlich zu alt sei, um seiner Lehrtätigkeit nachzugehen verstand er überhaupt nicht. Noch weniger verstand er, dass die Mikrotechnologie der Nanotechnologie weichen musste. Und am allerwenigsten verstand er, wo er sich hier befand und wieso.
Hundertmal versuchte ich ihm zu erklären, dass er hier in der Psychiatrie sei. Aber alles, was er darauf als Antwort hatte, war ein roter Kopf und mehr unverständliche Fragen. Schließlich holte er aus seiner Jackentasche einen zusammengefalteten Zettel hervor, entfaltete ihn und zeigte ihn mir mit dramatischer Geste. Darauf stand: "Ich bin ein Mensch. Bon jour. Heute ist nicht Dienstag, was für ein Tag bin ich?"
Dann steckte er den Zettel zurück in seine Jackentasche und fragte mich:
"Haben sie es verstanden? Na! Was ist des Rätsels Lösung? Wissen Sie es? So sagen sie es!"
Ich schüttelte nur den Kopf. Er wiederholte das Ganze erneut. Er tat und verhielt sich wie ein Zauberkünstler, wie jemand der die Wahrheit gefunden hatte, aber seinen Trick nicht ohne Weiteres verraten will.
Ich blickte es immer noch nicht.
Resignierend stopfte er den Zettel zurück in seine Jackentaschen und begann erneut, wieder auf die gleiche Weise, mir den Zettel vorzuführen.
Ich hatte jetzt genug von dem Quacksalber und ließ ihn in der Kälte stehen. Das hoffte ich zumindest zu tun, aber der Professor folgte mir. Auf dem Weg zurück zum Stationszimmer, unterrichtete er mich wie einen seiner Studenten. Ein Vortrag über verwirrende Mathematik. Ich verstand kein Wort und ich zeigte ihm auch mein Unverständnis. Er schüttelte nur verständnislos den Kopf, ließ seine Schultern theatralisch hängen, atmete zwei Mal tief durch und sah mir dann abschätzig in die Augen, so als versuche er festzustellen, ob sich dahinter auch wirklich ein Hirn befinde. Es tat mir leid, dass ich ihn so enttäuschte. Ich wollte mich in Zukunft mehr zusammenreißen.
Wir kamen vor einer Fotografie, die eine Hummel auf einer Sonnenblume zeigte, zum Stehen. Der Professor zeigte mit ausgestrecktem Arm darauf und bemerkte:
"Leckere Umgebung, finden sie nicht auch?"
Ich nickte nur.
'Welche Last muss ein funktionierender Verstand für denjenigen sein, der ihn besitzt?', dachte ich. 'So einer muss zwangsläufig in der Psychiatrie landen.'
Er laberte weiter. Er klärte mich über dies und das auf. Er erklärte mir, dass das Universum nur aus Einsen und Nullen bestehe. Alle Erklärungen vom Universum, die darüber hinausgingen, seien reine Erfindung des fantasiegeneigten Menschen. Es gibt nur Einsen und Nullen wiederholte er immer und immer wieder. Wie im Wahn.
"Eins! Null! Eins! Null! Eins! Null!..."
Seine Augen zuckten in ihren Winkeln hin und her. Schweißtropfen sammelten sich auf seiner Stirn. Er vermittelte den Eindruck eines Atomkraftwerks, das kurz vor dem Super-GAU steht.
"Wieso gibt es dann die Zwei?", schrie ich verzweifelt.
Mir fiel nichts Besseres ein. Aber es genügte, es kam zum Reboot. Er beruhigte sich ein wenig. Die Null hatte wieder den Abstand Eins von der Eins. Alles war in Ordnung.
Ich führte ihn an einen Computer, startete ihn. Er setzte sich sofort davor und war erst Mal beschäftigt. Ich schlich mich davon. Aufs Klo. Ich brauchte einen Raum, in dem ich für mich alleine war. Ich ließ einen guten Schiss ab. Ich fühlte null. Das sind die Besten.
Als ich zurückkam, sah ich den Professor schwer beschäftigt vor dem Computer sitzen und die Tastatur mit seinen Zeigefingern bearbeiten. Neugierig geworden näherte ich mich und schaute auf den flimmernden Bildschirm.
Die Überschrift lautete: "Hansi's 40 Wünsche Liste". Jeden Wunsch hatte er gewissenhaft nummeriert. Die meisten Wünsche stellten das übliche Repertoire dar, das Menschen einfach haben: Schneller schmerzloser Tod; Kinder aus denen etwas wird; Frauen die sich mehr an den Bedürfnissen der Männer orientieren; Atombomben, die nur auf die USA fallen dürfen; Politiker die sich in Selbsterkenntnis die Kugel geben; die Abschaffung von Straßenschildern und Verkehrszeichen...aber die Punkte neunundzwanzig und dreißig fielen dann doch etwas aus der Reihe, sie lauteten:
"29. Kinder gehören ins Tierheim."
"30. Alte Leute gehören in den Kindergarten."
Anerkennend klopfte ich dem Professor auf die Schulter. Er hatte sich mein Lob verdient. Er drehte sich zu mir um und fing sofort wieder mit seinem Geschwafel an. Ich klopfte ihm noch mal beruhigend auf die Schultern und deutete mit meinem Zeigefinger auf seine Liste, die erst 36 Wünsche zeigte. Er verstand und machte sich wieder ans Werk.
Ich kehrte um und kam an einer Frau mittleren Alters vorbei. Sie hatte ein dezentes Nasenpiercing, guten Arsch und unscheinbare Brüste. Ein hübsches Gesicht, das nach unten hing, aufs Kinn zuschwappte, ohne jede Elastizität. Alles an ihr hing, sogar die Beine hingen mehr auf den Boden als das sie standen. Sie sah mich an. Ihre Augen hatten kaum etwas Weißes. Man sah nur Schwarz. Pupillen geweitet wie Rochen. Schatten unter ihren Augen, in ihren Augen, über ihren Augen. Dazu schwarze Augenbrauen. Ich fand sie sexy. Ich warf ihr einen aufmunternden Blick zu. Sie reagierte, indem sie sich noch mehr hängen ließ. Ich spürte die Anstrengung, mit der sie ihre Augenlieder offen hielt. Nicht mehr als ein wandelnder Schatten. Eine hübsche Silhouette.
Neben ihr stand ein Mann, der mich interessiert ansah. Ich vermutete sofort das Richtige. Das war ihr Ehemann! Die beiden sahen wenig begeistert aus Mann und Frau zu sein. Es hatte eher etwas von Notwendigkeit. Keiner von beiden wollte seinen Status in der Gesellschaft einbüßen: Mann und Frau sein! Verheiratet sein! Nichts zeugt von mehr Souveränität als das!
Lässig schlenderte ich an beiden vorbei. Beide sahen neidisch auf mich herab.
Eine halbe Stunde später saß ich mit dem Mann gemeinsam im Wartesaal der Kernspintomografie. Von seiner depressiven Frau sollte das Hirn untersucht werden. Ich war als Begleitung abgestellt worden. Gemeinsam warteten wir darauf, dass seine Frau fertig durchgescannt sein würde. Ich glaube, der Mann hoffte insgeheim auf einen Tumor im Hirn, dass würde so vieles einfacher machen, weil es Erklärungen liefern würde, die sein Gewissen reinwaschen würden. Unterdessen kamen wir ins Gespräch. Der Mann der Schönen war ein kleiner Gnom mit Koboldgesicht, graue Haare, viele Falten um den Mund, mickrige Knie. Kurz: Es schien mir unwahrscheinlich, dass er diese depressive Schönheit mit seinem Aussehen herumgekriegt hatte. Ich war gespannt. Er erzählte. Freimütig.
Seine Frau sei schon immer von der depressiven Sorte gewesen. Wenig Selbstvertrauen usw. Sie hätte schon immer viel Zuneigung gebraucht, das Gefühl, das jemand da sei, der sich um sie sorgt. Sie besäße die Unfähigkeit allein zu sein. Sie könne ihre Luft nicht alleine atmen. Sie braucht immer eine zweite Nase in ihrer Umgebung um sich wohlzufühlen. Jemanden der ihr befiehlt, was sie zu tun und zu lassen hat. Er selbst ist Vertreter für einen Informatikkonzern. Er installiert die Software. Er fährt jeden Arbeitstag über zweihundert Kilometer in die Arbeit. Die meiste Zeit sitzt er im Auto. Er fährt um sieben Uhr morgens los und kommt um zwanzig Uhr abends heim. Seine Frau ist den ganzen Tag daheim. Hat nichts zu tun. Weiß sich, ohne ihn nicht zu beschäftigen und wenn er da ist, weiß er nichts mit ihr anzufangen, weil er zu müde ist. Er sagt, dass es für ihn auch nicht einfach sei, diese Erkrankung seiner Frau, diese depressive Verstimmung. Er sei selbst schon krank. Er tue so viel für seine Frau, aber sie zahlt es ihm nicht zurück. Im Gegenteil, sie lässt sich nur noch mehr hängen. Oft denkt er daran sich umzubringen. Aber er tut es nicht, wegen seiner kranken Frau. Er liebt sie zwar nicht mehr, fühlt sich aber trotzdem für sie verantwortlich. Vor einem halben Jahr wollten sie sich scheiden lassen, aber dann kam die Krankheit dazwischen. Seitdem muss er sich um so viele Sachen kümmern. Er muss arbeiten und sich um seine Frau Sorgen machen. Er ist wirklich am Ende. Ausgelaugt. Ohne jede Lebenslust. Er kann nicht mehr. Ich rate ihm, sich die Kugel zu geben, weil alles tatsächlich aussichtslos ist. Er stutzt. Sieht mich an. Ich merke, wie es in seiner Faust arbeitet. Da kommt seine Frau vom Tomografieren zurück. Wir lassen uns nichts anmerken. Stehen auf und gehen gemeinsam auf Station zurück.
Ich strabanzte weiter. Ich fand so allerhand. Einen Alzheimerkranken mit dem Lachen eines Siebzehnjährigen. Eine neurotisch Ordnungsliebhabende, die es nicht ertragen kann, wenn die Vorhänge nicht richtig zugezogen oder geöffnet sind. Eine vierzigjährige Demente, die sich nur noch an die unzähligen Liebhaber die sie gehabt hatte, erinnern kann. Eine Nervöse, die sich die Häute unterhalb ihrer Fingernägeln aufkratzt und dann nach Wundcreme verlangt. Einen Gigolo, der keine Frau abkriegt. Ein Russe, der sich selbst Wodkaabstinenz auferlegt hat.
Dann hörte ich Mandy's Stimme laut meinen Namen rufen. Die Stimme kam aus dem Stationszimmer. Ich ging rein und sah Mandy neben einer blassen Blonden stehen. Die Blonde weinte und Mandy versuchte sie zu beruhigen. Als Mandy mich sah, nahm sie ihren Arm von der Schulter der Blonden, kam zu mir und erklärte mir in aller Kürze, was hier los sei.
"Das ist die Frau S. Sie ist traurig und hat Angst. Kümmer dich um sie!"
Ok.
Langsam trat ich auf Frau S. zu. Sie war vollkommen aufgelöst. Schluchzte in einer Tour, ohne Unterbrechung oder Pause. Die Tränen liefen, schwappten aus ihren verquollenen Äuglein hervor, wie aus überlaufenden Gullideckeln. Ich schätzte, dass sie in etwa so alt war wie ich. Sie trug eine dicke beige Winterjacke, obwohl alle anderen hier drin in T-Shirts rumliefen; es hatte ja auch gefühlte fünfundzwanzig Grad. Zu ihrer Jacke trug sie eine graue schlabbrige Jogginghose, auf der ein paar schwarze Tränenflecken gesprenkelt waren. Ihr Haar war blond und zäh. Es tropfte ihr wie Honig auf die Schultern. Als ich neben ihr stand, sah ich ihr Gesicht und sah daraus eine gekrümmte Nase hervorwachsen, einen schmalen zusammengekniffenen Mund, sodass es aussah, als hätte sie eine Hasenscharte und eine Stirn, die wirkte, als wäre sie vom Haaranfang ab nach innen gekrümmt und würde erst bei ihren Augenbrauen wieder hervorkriechen.
Mutig legte ich meinen Arm um ihre Schulter und strich ihr mit meiner flachen Hand über den Rücken. Sie reagierte und sah mich durch tränennasse Augen an. Misstrauisch. Nervös. Ängstlich. Aber nicht abweisend. Sie kramte ein Taschentuch aus ihrer Manteltasche, schnäuzte sich und sprach:
"Wer sind Sie?"
Ich sagte ihr, wer ich war und um ihre anderen Fragen vorweg zunehmen, was ich hier tat und wo ich hinwollte.
"Bleiben sie in meiner Nähe?"
Ich nickte. Das schien sie zufriedenzustellen. Sie entspannte sich ein wenig, die Tränen kullerten nur noch vereinzelt über ihre blassen Bäckchen. Ich schlug vor, dass wir uns hinsetzen. Sie war damit einverstanden. Sie suchte einen Platz auf einer roten Couch aus und ich ließ mich neben sie nieder. Da saßen wir dann. Eine Minute. Zwei Minuten. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Drei Minuten. Vier Minuten. Schließlich sprach sie:
"Sind sie sauer auf mich?"
Ich schüttelte heftig meinen Kopf. Wieder Schweigen. Ich war einfach nicht zur Konversation geboren worden. In meiner Welt reichten ein paar Gesten aus, damit ich mich verständlich machen konnte. Alles, was über die Körpersprache und primitive Laute hinausging, war für mich nicht mehr als Ablenkung vom Eigentlichen. Oh ja! Sprache verwirrt den Geist! Oder kennt jemand ein Tier das geisteskrank ist?
Frau S. begann langsam unruhig zu werden. Ihre Beine wippten immer stärker hin und her. Von Zeit zu Zeit krümmte sie sich nach vorne und hielt ihren Bauch mit beiden Armen fest. Ihr Kopf taumelte auf ihrem Hals im Kreis, so als würde er jeden Moment abfallen.
Ich suchte verzweifelt nach irgendeinem Gesprächsthema. Aber mir fiel einfach keines ein. Ich wollte meine Hand auf ihre Schulter legen, ließ das aber bleiben. Ich spürte förmlich, dass gleich etwas passieren würde, dass sie ihrer Unruhe ein Ventil geben musste. Ich hatte recht. Von einem Moment zum anderen begann sie, wie wild ihren Hinterkopf gegen die Wand zu dreschen. Es krachte böse. Ein Riesenlärm. Und wieder und wieder schlug Frau S. ihren Hinterkopf gegen die Wand. Ich saß daneben wie gelähmt.
Schließlich kam die Mandy vom Lärm angelockt um die Ecke, sah die Szene, stürzte sofort auf Frau S. zu und stellte Körperkontakt her. Das beruhigte Frau S. schlagartig. Sie hörte mit den Kopfnüssen auf. Da hätte ich auch drauf kommen können.
Ein paar Augenblicke später stand ich mit Frau S. beim Rauchen auf dem Balkon. Wir waren alleine. Diesmal wollte ich es nicht versauen und wieder soweit kommen lassen. Ich begann deshalb ein Gespräch mit ihr.
"Ich bin sechsundzwanzig...Borderlinestörung mit Psychose....Höre Stimmen....Was die Stimmen sagen?...Na!, dass ich mich umbringen soll...Indem ich eine Tasse nehme, sie zerbreche und mir dann die Pulsadern aufschneide..."
Sie zeigte mir ihre Handgelenke. Narben kreuz und quer. Ich fand, dass sie danach die Jackenärmel ein wenig zu stolz zurückkrempelte.
"...Seitdem ich zwölf bin, höre ich diese Stimmen. Erst waren sie noch ziemlich harmlos und unaufdringlich... wie leise Hintergrundmusik. Im Laufe der Zeit wurden sie aber immer stärker und drängender...dann hatte ich meinen ersten Selbstmordversuch...hab mir in der Badewanne die Pulsadern aufgeschnitten...da war ich einundzwanzig...mein Freund hat mich rechtzeitig gefunden....Der ist vierundvierzig...auch schwer krank, hat allerhand Organschäden und so'n Scheiß...Scheiße!...Ich kam dann in die Psychiatrie und dort hat mich ein Arzt ständig sexuell belästigt...Der hat seine Hände immer am Anfang des Gesprächs auf meine Schenkel gelegt und war dann irgendwann später in der Nähe meiner Mumu...keiner hat mir geglaubt, als ich davon erzählt hab...die haben mich stattdessen fixiert, immer haben sie mich fixiert, wenn ich unruhig wurde oder angst hatte, oder wenn ich wieder davon angefangen habe, dass mich der Arzt sexuell belästigt hat...Sind sie jetzt sauer auf mich?"
Ich schüttelte wieder heftigst meinen Kopf und fragte sie, warum sie denkt, dass man auf sie sauer sein sollte. Da sagte sie nichts mehr. Ich merkte, wie es wieder in ihr hochkochte. Ich fragte sie, ob die Stimmen wieder da seien.
"Die Stimmen sind immer da! Die sagen immer: Bring dich um!....Und der Teufel ist immer im Hintergrund..."
Gleich danach, begann sie ihre Stirn gegen die Glaswand zu dreschen.
Ich erinnerte mich, dass mir Mandy am Vormittag erklärt hatte, was es mit den Borderlinern auf sich hat:
"Musst dir das so vorstellen als wären diese Leute tickende Zeitbomben. Ihr Blut ist das Schwarzpulver. Diese Leute glauben, dass sie den Prozess hinauszögern können, indem sie sich selbst verletzen, sich schneiden, damit ein wenig Schwarzpulver herauslaufen kann und die Explosion, die sowieso irgendwann kommen wird, ein wenig abschwächt. Wir hatten zum Beispiel mal eine, die hatte nur noch jeweils an beiden Händen Daumen und Zeigefinger, und eine Meganarbe im Gesicht von einem heißen Bügeleisen...diese Leute verletzen sich, damit sie sich wieder selbst spüren..."
Ich ließ Frau S. noch ein wenig ihren Kopf gegen die Glaswand hauen. Wartete solange bis rote Spritzer darauf zu sehen waren. Dann legte ich meine flache Hand auf ihre Schulter und streichelte ihren Rücken. Sie drehte sich zu mir um. Ich versuchte sie mit verständnisvollem Gesichtsausdruck anzusehen. Dann umarmte ich sie. Ich merkte, wie sie sich fallen ließ. Sie hing in meinen Armen wie ein Mehlsack. Ich ging mit ihr gemeinsam zurück. Drinnen angekommen setzte ich sie auf eine Couch. Die Couch war rot.
Eine Stunde später.
Ich betrete das Zimmer von Frau S. Ich sehe eine große Blutlacke im Bad und Frau S., die dem Türknauf der geöffneten Badezimmertür einen bläst.
Ich schreie nach Hilfe. Die Hilfe kommt. Sie reißen Frau S. mit einem schmatzenden Geräusch vom Türknauf weg, verbinden ihr die Handgelenke und fixieren sie dann ans Bett. Frau S. lässt all das widerstandslos über sich ergehen, so als hätte sie vorausgeahnt, dass sie mit aufgeschnittenen Pulsadern diese Welt nie verlassen wird.
Ich kam an Mandy vorbei. Sie sprach mich an und sagte mir, dass ich in fünf Minuten in einer Therapiegruppe zu sein hatte. Sie hatte mich extra angemeldet und wehe, wenn ich die Therapie verpassen sollte. Sie gab mir eine ungefähre Wegbeschreibung mit auf den Weg und ich ging los. Ein Dickwanst versperrte mir den Eingang zum Fahrstuhl und ich musste das Treppenhaus benutzen. Treppensteigen ist schon eine Sache. Jemand hat mir mal erklärt, das Gehen nur ein gebremstes Fallen ist und mir geraten, dass wenn ich ihm nicht glaube, einfach mal eine Treppe mit geschlossenen Augen hinuntergehen sollte. Was soll ich sagen? Er hat recht! Ich fiel die Treppe herunter. Landete.
Ich kam an einer Tür vorbei, darauf war ein DIN-A4 Blatt geklebt mit der Aufschrift: "Stresstoleranz". Hier war ich richtig. Ich trat ein.
Ein Stuhlkreis. Acht oder neun Leute. Ich sagte meinen Namen. Jemand erkannte mich. Es war die Therapeutin. Sie sah gestresst aus. Sie bat mich Platz zu nehmen. Ich setzte mich. Dann musste ich mich vorstellen. Ich tat das.
Auf einem roten und einem blauen Seidentuch lagen verschiedene Dinge verteilt. Muscheln, angemalene Steine, Spielzeugautos usw... alles kleine Dinge, verteilt auf Rot und Blau.
Wahrnehmungsübung. Man musste sich die Dinge, die auf den beiden Tüchern lagen merken. Dafür hatte man drei Minuten Zeit. Danach musste man die Augen schließen und die Therapeutin würde in der Zwischenzeit verschiedene Dinge auf den Tüchern verändern. Dinge wegnehmen und hinzufügen. Hinterher durfte man die Augen wieder öffnen und musste dann der Therapeutin sagen, was sich verändert hatte.
Wir taten das. Drei Minuten lang.
Als ich die Augen öffnete, sah alles aus wie davor. Dann stellte die Therapeutin die Frage, was sich alles verändert hätte. Finger schossen in die Höhe, die jeder eifrigen Erstklässlerklasse ein schamvolles Schmunzeln aufgesetzt hätte.
Es stellte sich heraus, dass sich alles verändert hatte. Die Psychos hatten sich nicht täuschen lassen. Die Therapeutin beklatschte ihren Erfolg. Ich, der keine Veränderung bemerkt hatte, hielt einfach die Klappe und alle waren zufrieden.
Dann forschte mein Blick über die Anwesenden. Ich sah jede Menge frustrierter Hausfrauen, ein paar impotente Loser aus dem Männerbereich und dann fiel mein Blick auf ein göttliches Gesicht und blieb daran haften. Rote Haare wie Feuerquallenfühler umarmten es. Eine Nase, die in jedem Film Platz gefunden hätte und Augen, türkis, wie das Meer auf verfickten Touristenanlockstränden. Sie war definitiv zu schön, um in der Psychiatrie zu enden. Sie war eher ein Lichtblitz im Dunkeln, ein vereinzelter Stern an einem vernebelten Abendhimmel. In ihrem Gesicht lag eine Kraft, die meinem Herzen einen Schlag versetzte. Es k.o. schlug. Wie konnte etwas so Wunderbares in so einer Einrichtung landen? Sie war eine der wunderschönsten Frauen, die ich je 'live' gesehen hatte. Eine Aufforderung Gottes seinen Schwanz zu benutzen.
Ihre Lippen glänzten. Rosa. Natürlich.
Ich fragte mich wieso? Taxierte sie von oben bis unten. Was kann an so einer verkehrt sein?...dann fand ich es!...Kleiner-, Ring- und Mittelfinger ihrer rechten Hand fehlten. Sie waren weg. Nur Narben erinnerten an ihr Dasein. Es sah scheußlich aus...jetzt verstand ich!...der menschliche Verstand ist ein grausames Werkzeug....Trotzdem konnte ich meine Augen nicht von ihr lassen.
Ich fand sie ganz und gar zum Anbeißen. Trotz ihrer Hand, trotz ihrer damit einhergehenden Psychose. Eine Explosion. Eine Silvesterexplosion hatte sie ausgelöst. Da war die Hand weg oder zumindest drei Finger davon.
Als sie mich ansah, erwiderte ich ihren Blick, um dann sofort auf ihre verkrüppelte Hand zu starren. Ich tat das nicht aus Neugier, sondern aus reiner Bosheit. Demonstrativ bewegte ich dazu die Finger meiner Hand.
Ich hatte sie wirklich auf dem Kicker. Es hätte nicht viel gefehlt und die Situation wäre eskaliert. Da meldete sich die Therapeutin zu Wort. Eine alte Blonde, mit guter Figur, aber runzliger Haut:
"...Sie wissen ja noch, hoffe ich, wie wir das letzte Mal den Umgang mit Stresssituationen besprochen haben. Die Skills, die ich ihnen beigebracht habe, sind ihnen hoffentlich noch gut in Erinnerung. Sie erinnern sich: Kieselsteine mitführen, um sie bei Bedarf in die Schuhsohlen zu legen; der Schmerz lenkt ab; oder auf eine Chilichote beißen, lenkt auch ab; oder sich kaltes Wasser ins Gesicht und auf die Hände gießen, um sich selbst wieder bewusst zu werden, ins Reine zu kommen mit sich selbst, sein Gleichgewicht zu finden, die Stress verursachende Situation zu vergessen, einen Reboot durchzuführen, aus dem gegenwärtigen Gedankengang herauszukommen; das wichtigste ist Ablenkung; den eigenen Gefühlen nicht Raum zu lassen sich ungehindert auszubreiten, sondern sie kontrollieren zu können...."
Ich sah, wie die Rothaarige mit ihren Fußsohlen auf dem Fußboden herumscharbte. Sie hatte bestimmt ein paar Kieselsteine in ihren Schuhen. Sie sah mich herausfordern an. Ich sah herausfordern zurück. Es war alles ganz normal. Frau sieht Mann an und der Geschlechterkampf beginnt. So ist es anscheinend gewollt. Frieden scheint keine Option zu sein.
Die Therapeutin redete weiter:
"...Wertung...Wertung ist das Verhängnis der Menschheit...gut oder schlecht...schön oder hässlich...gesund oder krank...wir Menschen werten und werten und werten, wir Menschen haben verlernt nicht zu werten....Stattdessen werden wir schon im Kindergarten beurteilt, in der Grundschule, Haupt-, Realschule und Gymnasium ist sowieso klar, im Beruf werden wir weiterhin bewertet...wir können uns aus unserem Bewertungsdenken nicht lösen....Stattdessen sollten wir die Dinge, die Menschen, die Natur, all die Ereignisse, die auf uns einprasseln einfach nur auf uns zukommen lassen; sie beobachten, OHNE sie zu bewerten, sie einfach nur anschauen und sie als das wahrnehmen, was sie sind und als das, was wir mit unserem notwendigen Bewertungssystem daraus machen...damit meine ich, eine Fliege ist eine Fliege und sie ist keine schlechte Fliege, weil sie uns nervt oder eine gute Fliege, weil sie uns nicht nervt...sie ist einfach eine Fliege, die da ist...lasst sie uns anschauen...lasst sie uns wahrnehmen, lasst sie fliegen. Lasst sie ihre Runden drehen, und ob sie auf unserer Nase landet oder auf dem angrenzenden Zweig der Pflanze, die wir gezüchtet haben...ist doch egal....Lasst die Fliege einfach Fliege sein..."
Lasst die Fliege einfach Fliege sein. Oh ja! Lass die Hand der Roten einfach eine verkrüppelte Hand sein. Oh ja! Die Ansprache der Stresstoleranztherapeutin gefiel mir.
Ich sah auf die Hand der Roten. Diese verkrüppelte Hand. Dazu dieser hübsche Körper, dieses göttliche Gesicht...ihre Vagina war bestimmt noch intakt, ich war mir sicher...