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- 02.01.2011
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Straßentauben
Der Himmel war grau und der vertraute Geruch von Pisse und Zigarettenasche kroch in meine Nase. Ich saß da, nippte an der Flasche, spürte, wie der kalte Metallsitz sich in meine Arschbacken drückte und mir allmählich jegliches Gefühl aus dem Hintern trieb. Ich hatte sie mir schon immer gerne angesehen, die Menschen, wie sie durch die Welt stolzierten, unter ihren lächerlichen Frisuren ihre müden Gesichter umherschleppten, wie sie sich durchs Leben drängelten, wie Schlafwandler ihren Träumen hinterher trabten. Ich popelte eine Zigarette aus meiner Jackentasche, steckte sie mir an, inhalierte tief, blinzelte auf die Uhr, die neben der Anzeigetafel für Gleis Eins hing. Zwölf Uhr fünfundfünfzig. Noch ein paar Minuten. Ich ließ meinen Blick wieder über den Menschenstrom gleiten, der sich unermüdlich durch den Torbogen zu den Zügen presste. Wie gesagt, ich hatte sie mir schon immer gerne angesehen, aber mit ihnen reden, treffen, ins Kino gehen, nein, allein beim Gedanken daran sträubten sich mir die Nackenhaare. Ich kannte sie alle, die Leute, mit ihren unendlich vielen Gesichtern, hinter denen sich die immer gleichen Gestalten verbargen: Ich hatte sie alle schmerzlich kennenlernen müssen. Ich rauchte die Zigarette zu Ende, ließ die Kippe auf den Boden fallen und beobachtete, wie sie vor sich hin glimmte. Plötzlich durchschnitt eine kratzige Stimme die Luft.
"Ey!" Er torkelte wie immer aus dem Torbogen heraus, kam die letzten Meter zur Bank herüber, überschritt schließlich die gelbe Linie, die den Bahnhof zu einem schlechten Zoo und uns zu einem Ausstellungsstück vergangener Tage degradierte, ein Mahnmal für die Generation rosa Lunge und Morgensport.
"Na, alles klar, Göbler?"
"Na logo. Bist ja früh dran heute. Wie lief die Route?"
Er stockte einen Augenblick, drehte sein müdes Gesicht zu den Gleisen weg. "Na wie 's halt immer so läuft."
"Haste was gefunden?" Er sah mich immer noch nicht an, starrte in die Ferne, mit diesem Blick, als verstünde er die ganze Welt. Der Wind schlug ihm um die Nase, streifte ihn durch seine nach hinten gekämmten Haare.
"Nä." Er ließ die Plastiktüte aus seiner Linken gleiten, bückte sich und kramte in ihr herum. "Was soll 's. Weißt du, Göbler, mal ist man der Hund, mal ist man der Baum." Er hob den Kopf und sein typisches breites Grinsen zog sich bis unter beide Ohren, die dünnen Lippen so weit auseinander gerissen, als wolle er mit seinem faulen Gebiss prahlen. Ich musste schmunzeln, denn ich wusste, dass er es ernst meinte. Das war kein Spruch von einem, der eine schlechte Phase hatte, der sich absichtlich gehen ließ, auf Mitleid wartete, nein, das war das Lebensmotto, an dem er sich damals in den eisigen Zeiten auf der Straße die Finger wärmte.
"Ha ha. Da haste wohl recht, Gerd."
Er zog eine Dose aus der Tüte, drückte sie ein, hob sie nach oben. "Prost Göbler."
"Prost."
Gerd ließ sich neben mich auf die Bank fallen, stöhnte kurz, nahm einen kräftigen ersten Schluck. Der erste ist der Entscheidende, sagte er immer, geht der runter wie Öl, kann man durchzechen bis übermorgen, und wenn nicht, dann muss man entweder krank, tot, oder einer dieser Pseudosäufer sein, die in ihren sauberen Hosen und pinken Polohemden freitagabends vor unseren Bars herumlungerten, die das ganze Low-Life Ding irgendwie hip fanden und nach drei Stunden kotzend in der Hecke lagen. Denen fehlte einfach eine ordentliche Portion Wut im Bauch und Scheiße in der Hose, um zu verstehen, was wir hier wirklich machten: Die Pinten sind halt keine Theateraufführung, die man sich am Wochenende mal ansehen gehen kann, sagte er immer, die sind das Wohnzimmer, in das du gehst um zu weinen, wenn du traurig bist, und um das Leben zu feiern, wenn du wieder mal Blut geschissen hast und befürchtest, dass die zweite Halbzeit sich nun langsam ihrem Ende entgegen neigt.
Wir saßen da, sprachen kein Wort. Es war keine unangenehme Stille. Alles was gesagt werden musste, schien gesagt zu sein. Wir konnten oft stundenlang schweigend dasitzen, trinken, die Leute beobachten, mit denen wir nie reden, essen, schlafen würden, und ich brauchte keine Angst zu haben, dass er wie all die anderen war, dass er fragen würde: Göbler, wieso hast du keinen richtigen Job, kein Geld, keine Frau, keine Kinder? Er kannte die Antworten, ohne je gefragt zu haben. Das kalte Metall drückte sich in unsere Arschbacken und ich sah ihn von der Seite an, sah wie er dasaß, sah die tiefen Falten, die sich durch sein Gesicht fraßen, die schwarzen Polster, die sich unter seine Augen drückten. Ich nahm einen weiteren Schluck, und ein wohliges Gefühl sackte in meinen Magen. Ich trank die Flasche leer und kramte zwei Alufoliepäckchen aus meinem Rucksack heraus.
"Auch 'n Brötchen?"
Gerd drehte sich zu mir und starrte mich einen Moment lang so an, als hätte ich ihn gerade nach dem besten Julia Roberts-Film gefragt.
"Was?"
"Willste auch 'n Wurstbrötchen?"
Sein Mund verzog sich wieder zu einem breiten Grinsen. "Ach so, hä hä. Klar Kumpel. Mensch Göbler, du bist halt einfach einer von den Guten."
Er griff mit seiner Pranke nach dem Päckchen, faltete es geduldig auf und biss hinein. "Geil!"
Ich holte mir eine Dose aus dem Rucksack, knackte sie ein.
"Wie läuft das Zeitungsgeschäft?", fragte er, während ein paar Tauben in unsere Richtung glotzten.
"Och, wie 's halt so läuft. Man reißt sich für 'n Hungerlohn 'n Arsch auf, dass die Herrschaften sich schon im Bademantel über die da oben das Maul zerreißen können."
"Mhm." Er nickte verständnisvoll, schmatzte, beobachtete weiter die Clique Federviecher, die sich langsam in unsere Nähe hervortappte. "Scheiß Tauben", knurrte er, "sind wie Ratten mit Flügeln."
"Ja", gluckste ich, "da sagste was."
"Schau se dir doch mal an. Wie se die Scheiße vom Boden fressen, mit diesem dämlichen Blick, das macht mich krank, Göbler."
"Ha ha, mich auch, Gerd."
Er stopfte sich das restliche Brötchen zwischen die Zähne, zerknüllte die Alufolie zu einem Ball und schleuderte ihn wütend in Richtung der Tauben. Sie erschraken und flatterten davon.
Ich aß auf, spülte einen Schluck Bier nach. Die Leute zogen an uns vorbei, sahen uns nicht an. Wir waren Streuner, Aussätzige, Einsiedler.
Quietschend schob sich ein Zug vor uns auf Gleis Eins und spuckte einen kreischenden Haufen Schüler aus, wie jeden Tag um die Zeit. Eine kleinere Gruppe Halbstarker war unter ihnen, ging aber nicht zum Torbogen wie die anderen, sondern schlich sich in unsere Richtung, stellte sich ein paar Meter neben uns, druckste herum, ließ schließlich ein paar Zigaretten reihum gehen. Sie sogen den blauen Dunst in ihre pickeligen Gesichter, lachten über irgendetwas. Plötzlich verstummten sie, tuschelten, sahen zu uns herüber.
"Hey!"
Wir beachteten sie nicht, nippten weiter am kalten Blech.
"Hey, ihr da!"
Ich konnte spüren, wie sich ihre Blicke in mein Gesicht bohrten. Jetzt kamen sie die paar Meter zu uns herüber geschlendert, blieben vor uns stehen und einer trat hervor.
"Ey, seid ihr taub?"
Ich blinzelte kurz zu ihm nach oben; tief hängende Hose, Baseballcap, leichter Flaum über den Lippen, stechende Augen, hagerer Körper.
"Was is'?", schnauzte Gerd vor sich hin, sah an dem Kerl vorbei.
"Wollt ihr zwei euch 'n bisschen Geld verdienen?"
"Nä", knurrte es neben mir.
"Kommt schon, ich geb' euch", er zog den Geldbeutel aus der Innentasche seiner Jacke, kramte darin herum, "zehn Euro. Ihr kauft uns im Bahnhof 'n Sixer, der Rest is' für euch."
Gerd sah ihn immer noch nicht an, stierte ohne Miene vor sich hin.
"Zisch ab, Kurzer."
"Was?"
"Hast mich schon richtig verstanden."
Der Kerl drehte sich irritiert zu seinen Leuten um, zog sich seine Käppi zurecht. "Ich glaub' du weißt nicht, mit wem du hier redest, Opa."
"Und wenn 's der Heilige Geist wäre, zisch' ab und lass' uns in Ruh'."
Wieder blinzelte er zu seinen Leuten, die ihm mit ihren aggressiven Blicken den Rücken zu stärken schienen.
"Scheiße, denkst du, ich lass' mich von so 'nem Penner wie dir anfucken? Sag' das nochmal, und ich polier' dir die Fresse, Spast!" Er trat einen Schritt näher, holte Schwung, kickte gegen die Plastiktüte, die vor Gerd stand. Zahlreiche Dosen flogen aus ihr heraus und rollten klappernd über den Bahnsteig. Ein paar Passanten drehten sich im Vorbeigehen verdutzt zu uns um, glotzten, liefen weiter.
Einige Sekunden vergingen, in denen nichts geschah, in denen eine drückende Leere zwischen den paar Halbstarken und uns hing. Da sprang Gerd blitzschnell auf, krallte seine Finger um den Hals des Typen, zog ihn ein Stück nach oben, sodass der Kerl auf Zehenspitzen gezwungen wurde und sich der Kopf in den Nacken schob. Damit hatte er nicht gerechnet. Man konnte die Angst in seinen Augen rasen sehen, während er versuchte, sich die Hand vom Hals zu reißen, aber er schaffte es nicht. Langsam lief sein Kopf rot an.
"Jetzt hör' mir mal zu, du Scheißer!", fauchte Gerd, zog ihn etwas zu sich, schüttelte ihn, "solche Muttersöhnchen wie dich hab' ich schon zu Hackfleisch geprügelt, da hat dich deine Mami noch nich' mal rausgeschissen!" Jetzt lief auch Gerds Gesicht blutrot an, eine dicke Ader pochte an seiner Schläfe. Ich sah kurz zu dem Rest der Clique; die stand angsterstarrt da, zuckte mit keiner Faser. "Nimm deine Fickerfreunde und mach', dass du dich verpisst!"
Mit einem Ruck schubste er den Kerl einen halben Meter zurück, der stolperte, keuchte, seine Käppi rutschte ihm ins Gesicht.
"Sch-Scheiße", stammelte er, zitterte ein paar Schritte rückwärts, "scheiße, na wartet! Wenn ich euch", er zog sich die Mütze aus dem Gesicht, begann sich jetzt wieder zu fangen, "wenn ich euch Wichser wieder sehe, na wartet, ich-ich bring euch um!"
Auch seine Kumpane schienen wieder aufgetaut zu sein, hatten aber scheinbar immer noch nicht richtig verstanden, was gerade passiert war. "Ich bring euch um!"
Hektisch liefen sie den Bahnsteig abwärts, drehten sich noch ein paar Mal um, riefen uns irgendetwas zu.
"Hä hä."
Ich saß immer noch da, merkte erst jetzt, wie sehr meine Hände zitterten. Ich schaute zu Gerd hoch.
"Hä hä. Na Göbler, da siehste mal, was der alte Gerd noch so auf 'n Kasten hat."
Ich versuchte meine Lippen zu einem Lächeln zu biegen, doch der Schock saß mir noch zu frisch in den Knochen.
"J-Ja. Scheiße Gerd, du hast 's drauf."
Gerd schlenderte über den Bahnsteig, fingerte die Dosen vom Boden, steckte sie zurück in die Plastiktüte, rutschte wieder auf den Platz neben mir, streifte sich durch die Haare. "Ich pass' auf uns auf, Göbler." Er klackte eine Dose ein, ließ seinen Blick wieder zu den Menschen gleiten, die durch den Torbogen zu den Zügen trabten. "Ich pass' auf uns auf. Wir sind doch welche von den Guten."
Es war bereits Abend und die Kälte fraß sich trotz der Trinkerei tief in mein Gesicht. Ich rieb mir die Hände, faltete sie wie zum Gebet und versuchte, sie mit meinem Atem warm zu pusten. Die Hauptstoßzeit war vorbei; die Pendler waren nach Hause gefahren, die restlichen Touristen und Studenten kauerten hinter dem Torbogen in der Heizungsluft des Bahnhofs herum. Ich wollte nicht nach Hause gehen, ich hatte die ewige Stille und diese verdammten blauen Wände satt. Würden sie mich nur eine Sekunde länger anstarren, anschweigen, diese verfluchten Wände, dann ... Ich saß da und dachte darüber nach, was wohl der qualvollere Abgang wäre: Ein Sprung aus dem vierten Stock, oder der vor einen einfahrenden Zug. Ich konnte mich nicht entscheiden. Der Gedanke daran, jederzeit das Handtuch werfen zu können, gab mir ein wohliges, sicheres Gefühl. Vielleicht hatten die Christen, Moslems, Zeugen Jehovas ja doch recht, und ich könnte schon morgen mit Bernd, Knut und all den anderen über weiße Strände spazieren und über das primitive Leben hier unten lachen. Ich musste schmunzeln.
Gerd schraubte den Verschluss vom Flaschenhals, kippte sich einen großen Schluck zwischen die Backen, verzog das Gesicht.
"Auch noch einen?"
"Gern."
Ich setzte an und spürte, wie es sich meine Speiseröhre hinunter brannte. "Übler Fusel."
"Ja."
Auch Gerd schien die Kälte mitzunehmen. Ich sah in seine Augen, und da war nichts mehr vom Feuer zu sehen, das heute Mittag da gebrannt und diesem Jüngling die Angst durch die Adern getrieben hatte. Alles was davon übrig war, waren glasige, knopfgroße Punkte, umringt von herunterhängenden Hautlappen, fahl, müde, erledigt; vom Winter, vom Trinken, vom Leben.
"Gerd", sagte ich, "alles gut bei dir? Schaust nich' gut aus."
Er versuchte mir sein Lächeln zu zeigen, hob die Lippen an, aber sie sackten nach einer Sekunde wieder schlapp nach unten. "Göbler", murmelte er, "mach' nich' so 'n Theater. Scheiß Korn, scheiß Suff."
Er hob die Flasche, nippte. Seine Augen kreuzten meinen Blick, zuckten schnell zur Seite. "Und es is' so scheiße kalt."
"Dann lass' uns doch nochmal ins Seebär schauen, da ist 's wenigstens warm."
Gerd kramte eine zerknüllte Selbstgedrehte aus seiner Jackentasche heraus, steckte sie sich zwischen die Lippen. "Nä, kein' Bock mehr heute, ich bleib' noch 'n bisschen hier sitzen."
"Komm schon. Hier holste dir noch den Tod."
Ich hielt ihm mein Feuerzeug unter die Kippe, brachte sie zum Brennen. Er zog den Rauch langsam in sich hinein, schloss die Augen. Ein paar Minuten vergingen. Ich beobachtete, wie seine Zigarette vor sich hin glühte, wie blaue Rauchfäden sich langsam in Richtung Himmel schlängelten.
"Gerd?"
Er zuckte zusammen, blickte sich verwirrt um, hustete.
"Kommste nochmal mit?"
"Ach, Scheiße, dann geh' halt schon mal vor, ich hol' mir nochmal 'n bisschen Kohle, vielleicht steckt ja noch 'n bisschen Pfandzeug in den Eimern da drüben ..." Wieder schloss er die Augen, bewegte sich nicht, saß einfach da, als sei er eine rauchende Bronzestatue, gewidmet all den Trinkern, die hier schon ihre Tage, ihre Nächte verbracht hatten.
"Gerd?"
Er schob ein Augenlid nach oben, murmelte etwas wie: "Geh' schon mal vor, ich komm' dann ...", stützte sich mit den Armen auf der Bank ab, zog sich langsam auf die Beine, schwankte auf den ersten Mülleimer zu, die Glasflasche noch in der Hand, machte ein paar Ausfallschritte, fing sich wieder, wankte weiter, krallte sich am Eimer fest, spuckte die Kippe auf den Pflastersteinboden. "Na mach' schon, dass du abhaust! Denk' gar nicht erst daran, mir mein Geld zu klauen! Wir sehen uns gleich, alte Klette!" Er bückte sich, stellte die Flasche ab, zog sich wieder hoch und stopfte den Arm tief in den Schlitz.
"Na gut, dann bis gleich."
Ich stand auf, steckte mir eine Zigarette an, sah den Mond oben am Himmel leuchten, weiß und rund, sah den Bahnhof hinter mir immer kleiner werden.
Blasse Sonnenstrahlen fielen durchs Fenster und durchfluteten den Raum.
"Na Göbler", brummte er, "willste noch einen?"
Ich nickte stumm, ausdruckslos. Er beugte sich über den Tresen, füllte das kleine Glas auf, kniff die Lippen zusammen, sah mich besorgt an. "Alles klar bei dir, Kumpel?"
Das Geklimper der Jukebox und das Gelächter zweier grauer Männer neben mir schallte durch die Kneipe, aber ich nahm es gar nicht wahr, hockte bloß auf dem Barhocker, starrte vor mich hin. "Geht schon, Jürgen."
Er musterte mich ausgiebig, suchte offenbar nach ein paar passenden Worten. "Lass' dich nicht so hängen, okay?"
Ich nickte, hob das Glas, trank es leer.
"Na dann ... Prost, Göbler." Er schmiss sich das weiße Handtuch um die Schulter, sah mich noch eine Sekunde lang an und schlurfte dann zum Spülbecken. Ich blinzelte zur Uhr über dem Tresen: Halb eins. Ich dachte einen Moment lang nach, trippelte mit den Füßen herum, biss mir auf die Zunge. Ich schnappte mir meine Jacke und ging nach draußen.
Die Sonne hing müde am Himmel und tröpfelte ihr Licht durch die Wolkendecke. Ich stand da, saugte am Filter, wusste nicht wohin, lehnte mich an die Wand, beobachtete die Menschen. Sie sahen aus wie immer, beschäftigt, getrieben, gedankenversunken. Ich hasste sie. Und ich hasste mich selbst, ich hatte nicht den Mumm in den Knochen, den er gehabt hatte; nur ein paar Schritte wären es, und ich könnte dort sein, wo es keine Straßentauben mehr gibt, nur noch bunte Papageien, blauen Himmel und weiße Strände. Ich stand da und dachte darüber nach, sah mein restliches Leben an mir vorbeiziehen, sah mich verkatert durchs Viertel latschen, Zeitungen schleppen, meine Eier melken, mit den blauen Wänden reden. Ich fühlte mich leer, so leer wie noch nie zuvor, spürte Tränen, die sich in meinen Augen sammelten. Ein Zug rutschte vor mir auf Gleis Eins ein. Es gab noch genug andere Gleise. Ich schmiss die Kippe auf den Boden, zündete mir eine neue an, machte den ersten Schritt. Eine Flut aus kleinen Rucksackträgern prallte auf halbem Weg gegen mich, zwang mich dazu, stehen zu bleiben.
Plötzlich riss etwas an meiner Schulter, zerrte mich zur Seite, presste mich gegen die Wand.
"Ha ha, na Opa, heute ganz allein unterwegs?"
Ehe ich begreifen konnte, was geschah, hatten sie mich schon eingekreist, kamen ganz dicht an mich heran, setzten sich alle das gleiche Grinsen auf, ein unheimliches, dunkles Grinsen. Ich erkannte ihn sofort wieder.
"Lasst mich, ich -"
"Oh, na was los? Hab' gehört, deinen Schwuchtelfreund haben sie neulich", sein Blick schnellte zu seinen Kollegen, "von der Straße gekratzt? Musste ja schon ganz schön steif gefroren sein, was?!"
Er lachte, nahm eine unsichtbare Schaufel in die Hand und begann, etwas von den Pflastersteinen zu schippen. Dann sah er mich wieder an, seine Miene verfinsterte sich, wurde zu einer Maske des Hasses.
"Weißt du was, Spast?!" Er schob sein Gesicht ganz dicht an meines, ich konnte seinen faulen Atem riechen, sah tief in seine Augen; sie waren anders als letztes Mal, sie schrien nicht vor Angst, sie brannten, brannten vor Erregtheit, brannten vor Freude über meine Ohnmacht. "Ich feier 's! Hätte dieser Loser nicht schon schlapp gemacht, hätte ich ihm spätestens jetzt sein hässliches Gesicht zerfickt!"
Ich sah ihn vor mir und einen Moment lang geschah gar nichts, doch dann brodelte da etwas in mir, drückte in meinem Bauch, schoss mir durch die Venen, ließ mein Herz stolpern, meinen Körper taub werden. Ich sah, wie sich mein Arm hob, wie sich meine Finger zu einer Faust ballten und geradeaus flogen, wie sie in seinem erbärmlichen Gesicht landeten, und seine Nase zertrümmerten. Er fiel wie in Zeitlupe nach hinten, mit geschlossenen Augen, die Arme weit von sich gestreckt, und ich fühlte etwas, was ich lange nicht mehr gefühlt hatte, ich fühlte mich frei, leicht, schwebend, wie ein Vogel, der die Flügel ausbreitet.
Das Nächste, was ich sah, waren sie, über mir, nun ohne Grinsen, nur noch dunkle Fratzen, die stierten, stierten wie Besessene. Ihre Schuhe knallten gegen meinen Rücken, meinen Bauch, mein Gesicht, jeder Stoß raste durch meinen ganzen Körper, raubte mir den Atem, ließ die Welt um mich herum immer mehr verschwimmen. Ich hörte Schreie aus meinem Mund gellen, drückte die Augen zu, dachte an weiße Strände, an Palmen, an das Plätschern der Wellen, die meine nackten Füße streicheln; und er stand auch da, in weißen Klamotten, mit einem Papagei auf der Schulter, und er grinste, winkte ...
Ich ging nie wieder zum Bahnhof. Ich suchte mir neue Plätze, in der Stadt, im Park. Aber manchmal, wenn ich so dasitze und die Menschen beobachte, wie sie lachen, sich durch die Gegend schleppen, wenn ein paar Straßentauben sich in meine Richtung picken, dann höre ich ihn neben mir, höre seine kratzige Stimme, sehe ihn in die Ferne starren, mit diesem Blick, als verstünde er die ganze Welt. Gerd, du warst wohl einer der Wenigen, denen ich das je gesagt hätte: Du warst einer von den Guten.