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Straßenbahn
Straßenbahn
oder
„Überkulturelle Verhaltensnormen des Kompromissbildens“
Ja, die Green Line 14 hatte gelegentlich Verspätung.
Ja, gelegentlich auch mehr.
Ja, er verstehe sehr gut, dass es an manchen Tagen Beschwerden von Fahrgästen hagelte.
Ob er dem Untersuchungsausschuss erklären könne, wie es zu fünf bis zehn Minuten Verspätung, in letzter Zeit sogar manchmal bis zu einer halben Stunde, kommen konnte?
Das käme darauf an, wie viel Zeit der Herr Vorsitzende habe?
Er solle sich kurz fassen, und bitte nicht versuchen, witzig zu sein.
Ob der Herr Vorsitzende denn schon einmal mit der Straßenbahn in Glitt’ring gewesen sei? Nein?
Aber er wisse sicher, wer da wohne?
Selbstverständlich, deswegen hätte man ja ihn für den vierten Wagen der Green 14 ausgesucht, als sie vor einem Jahr eröffnet wurde, weil es bekannt sei, dass Halbblute am besten mit den Erdfeen zurechtkämen.
Wo denn nun bei ihm das Problem liege? Keiner der anderen drei Fahrer habe Probleme mit der Strecke, und sicher habe keiner von ihnen solche Verspätungen wie er.
Man verstehe ja, dass er das sicher nur schwer beantworten könne, immerhin sei er ja ein jahrelang gute und treuer Mitarbeiter, einer der besten Straßenbahnfahrer von ganz Elysia. Man erinnere sich noch gut an die Feier seines zehnjährigen Jubiläums vorletzten Winter.
Man habe ja auch schon seit Wochen, nein, Monaten über seine Verspätungen hinweggesehen, und immer wieder ein und manchmal sogar zwei Augen zugedrückt.
Nun, aber sehen Sie, wenn man noch in Elysia-Stadt ist, ist das auch gar kein Problem, den Fahrplan einzuhalten. Von Core Station bis Muran’din’s Corner sind auch vernünftige Leute in der Bahn, Zwerge, Kobolde, Menschen, Elben, halt alle, die noch gewisse…wie hat es Deip’Ol genannt? Ja! – „Überkulturelle Verhaltensnormen des Kompromissbildens“ einhalten. Aber die allerwenigsten Dig’dip tun das. Und…
Was das denn nun mit seinen Verspätungen zu tun habe. Man möchte doch meinen, dass in der Innenstadt, wo es viel mehr Fahrgäste gebe, eher mit Verspätungen zu rechnen sei.
Man rechne ihm ja an, dass es tatsächlich die wenigsten Beschwerden von Core Station bis etwa zwei Drittel der Strecke Richtung East Green, eben Muran’din’s Corner, gebe.
Aber es könne wohl nicht angehen, dass er auf den insgesamt 14 Stationen durch Glitt’ring, nach East Green und zurück, ständig solche Verspätungen ansammle, zumal er ja an der Endstation immer zwanzig Minuten Pause habe.
Nun ja, er müsse zugeben, dass er seine Pause dort genauso wenig genommen habe wie in Core Station, und das seit mindestens vier Monaten.
Ob das hieße, dass er noch mehr Verspätungen gehabt habe?
Und ob er das nun endlich einmal erklären könnte?
Man habe kein Verständnis mehr.
Nun ja, da ist erst einmal Familie Cavegarden mit ihren sieben Kindern am Forest Horizon, genau zwischen Elysia und Glitt’ring. Dort steigen meist die letzten Nymphen, Hobbits und Kobolde aus, die auf den Feldern und Farmen arbeiten. Die Cavegardens sind glaube ich die einzige Familie der Dig’dip, die so nahe an der Stadt wohnt, und Mr. Cavegarden ist wohl auch der einzige, der in Elysia arbeitet. Er und seine Frau beherrschen die Verhaltensnormen, aber ihre Kinder nicht. Ihre Mutter kann sie leider nicht immer zurückhalten, und manchmal graben sie an den Gleisen und blockieren sie mit Erde, die dann erst schnell wieder weggeschaufelt werden muß. Und manchmal stehen sie mitten auf den Schienen und spielen ein Hüpfspiel und weigern sich, wegzugehen, bevor sie fertig sind.
Warum es denn den anderen drei Fahrern hier gelänge, weiterzufahren?
Verzeihung, aber ich bin kein Ork-, Zwerg- oder Trollhalbblut, dass ich einfach auf spielende Kinder zufahre und davon ausgehe, dass sie gefälligst zu springen hätte. Ich bin ein Halbmensch, und ich wende mich an die Mutter. Das dauert gelegentlich einen Moment.
Aber das ist ja nur eine Station.
An der nächsten Station, Rockwood Gate, beginnt Glitt’ring.
Sehen Sie, In Elysia steigen die Leute in die Bahn ein, setzen sich oder bleiben stehen, die meisten Leute gehen ihren eigenen Beschäftigungen nach, und es bleibt jeder für sich. Man ist anonym. Man macht sich gegenseitig keinen Ärger. Alle Rassen müssen hier ihre Streitereien draußen lassen, und den Eingewohnten gelingt das auch. Ich hab in all den Jahren noch keinen Streit zwischen Elben und Zwergen mitbekommen, oder zwischen Trollen und Gnomen.
Sie alle halten sich an einen ungeschriebenen Verhaltenskodex, ohne den das nicht möglich wäre.
Die Dig’dip tun das nicht.
Ob sie sich nun auf den Gleisen unterhalten oder spazieren gehen, die Türen blockieren, in der Bahn eine Prügelei anfangen, auf der Bahn herumturnen, oder ob sie einfach wieder mal ihre Stadt verändern: Es ist nicht einfach, durch diesen Wald zu fahren.
Die Stadt verändern? Wie er das bitte meine?
Keiner der anderen Fahrer habe so etwas berichtet.
Ja, vermutlich weil die nur die Gleise und den Fahrplan sehen.
Glitt’ring verändert sich ständig, wenn man es beobachtet. Bei meiner Fahrerehre! Ich kannte jede Strecke, die ich bisher gefahren, nach wenigen Wochen auswendig, aber die Schienen und die Stationen sind zwischen Rockwood Gate und East Green das einzig Beständige. Mit ihrer Erdmagie bauen die Dig’dip ihre Hügel und den Wald ständig um.
Mrs. Pumpkintree braucht eine neue Lagerhöhle? Sie erhebt sich einfach eine neben der alten, und wenn da grade die Schienen liegen –liegen sie da halt. Es hat mich eine halbe Stunde gekostet, sie zu überreden, ihre Lagerhöhle so weit zu verschieben, dass die Gleise wieder befahrbar sind.
Oder Mr. Stonepouch meint, dass er mit seinen Schülern Hecken um eine Station herum pflanzen müsste –natürlich auch über die Schienen. Jaja, ich weiß, das hat Kazak auch schon gehabt, aber wenn ich mich recht erinnere, ist er einfach über die Sträucher drübergefahren, nicht? Das hat ihm keine Freunde in Glitt’ring gemacht, viele Fahrgäste haben mir erzählt, dass sie deshalb nicht mehr mit ihm fahren wollen.
Manchmal stehen sich auch einfach Fuhrwerke auf einer Straße gegenüber, die gestern noch doppelt so breit war, und die Fahrer streiten sich darüber, wer zurückfahren muß. In so einen Streit mischen sich auch die anderen nicht direkt ein, aber ich kann mir vorstellen, dass Tikal die Wagen einfach zur Seite schieben würde. Aber ich hab kein Trollblut, also bleibt mir in dem Fall nichts andres übrig als zu warten.
Und Gemri ist es ja mal passiert, dass irgendein Spaßvogel kurz vor East Green auf hundert Schritt die Erde unter den Gleisen abgetragen hat. Er hat ein wenig Felsmagie von seiner Mutter geerbt und konnte den Fels wachsen lassen, um die Gleise zu stützen –ich hab’s bei meiner Fahrt nach ihm gesehen. Aber als derselbe Spaßvogel mich damit erwischte, musste ich mit meinen Fahrgästen verhandeln, bis sich schließlich einer bereiterklärte, für drei Freifahrten und meine Frühstücksdose das Gleisbett wieder zu unterfüllen.
Von diesen Vorfällen habe man von den anderen Fahrern nichts vernommen.
Und wie er dazu käme, Freifahrkarten auszustellen?
Ich hab sie aus meiner Tasche bezahlt.
Und natürlich wissen Sie von nichts; solange der Fahrplan eingehalten wird, kann es Ihnen auch egal sein, was auf der Strecke passiert.
Natürlich passiert auf den anderen Straßenbahnstrecken Elysias auch immer wieder was, jede Bahn hat mal Verspätung, das wissen Sie, das weiß ich. Mir ist selbst klar, dass so viele Verspätungen wie bei mir ein Kündigungsgrund sind, und glauben Sie mir, ich liebe meine Arbeit. Ich mag auch die Strecke nach East Green, eben weil da immer was passiert, und ich bemühe mich auch wirklich, so pünktlich wie möglich wieder an Muran’din’s Corner zu sein, aber es geht halt nicht immer.
Die Dig’dip halten sich nicht an die Verhaltensnormen von Elysia, für sie ist alles in Veränderung und genug für alle, und sie sehen es in ihrer eigenen Stadt als ihr berechtigtes Recht an, ihre Kultur zu leben, wie sie es für richtig halten. Kazak, Gemri und Tikal sehen das als Freifahrtschein, über diese Kultur hinwegzurollen, was sie in Elysia nicht können, aber ich nicht. Wieso müssen die Dig’dip sich denn dem Fahrplan anpassen?
Warum sollte sich nicht der Fahrplan an sie anpassen?
Er habe Mr. Cavegarden erwähnt. Ob er gewusst habe, dass Mr. Cavegarden im Magistrat von Elysia beschäftigt wäre?
Ob er denn von der Einreichung Mr. Cavegardens im Namen der Erdfeen gewusst habe?
Oder von dem offenen Brief einer gewissen Deip’Ol im Elysischen Boten?
Er käme nicht zum Zeitung lesen?
Er solle nicht so verwundert tun, es könne doch nicht sein, dass ihn offensichtlich so viele Einwohner von Glitt’ring kennen, und er von nichts wisse.
Man habe nach dem Vorfall von vergangener Woche, als er seine Straßenbahn fast zwei Stunden am East Green unbeaufsichtigt habe stehen lassen, die Bitte um seine Entlassung dem Magistrat vorgelegt.
Zwei Tage später sei besagter offener Brief in der Zeitung erschienen, in dem eine gewisse Deip’Ol sich über seine Qualitäten als Fahrer geäußert und die Entlassung der anderen drei Fahrer gefordert habe.
Gestern habe Mr. Cavegarden den Einspruch zum Entlassungsantrag im Namen der Erdfeen eingereicht, mit einer Handabdrucksliste aller Einwohner von Glitt’ring und einem weiteren Antrag, die anderen Fahrer der Green 14 zu entlassen.
Ob er vielleicht erklären könne, was an jenem Tag geschehen sei, und wo er gewesen sei?
Und wer diese Deip’Ol sei?
Sie kennen Deip’Ol nicht? Sie ist die Älteste des Ältestenrates von Glitt’ring, und außerdem die Priesterin des East Green Temple. Sie müssten bei der Planung der Strecke eigentlich mit ihr gesprochen haben… Ach, alles lief über Mr. Cavegarden, verstehe.
Wie gesagt, sie ist die Priesterin, und wenn ich in meiner Pause dort einmal Zeit habe, lädt sie mich häufig auf einen Tee ein, und wir unterhalten uns. Sie hat früher auch einmal in Elysia gesagt, und sie erklärte mir die „Überkulturellen Verhaltensnormen des Kompromissbildens“, und warum ihr Volk die nie annehmen würde.
Er habe also seine Bahn verlassen, um im Tempel Tee zu trinken?
Auch an dem besagten Tag vergangener Woche?
Nein, Deip’Ol hat den Tee immer zu mir in die Fahrerkabine gebracht, und ja, auch an jenem Tag. Aber ich… kann nicht sagen, was da genau geschehen ist. Deip’Ol sagte, ich wäre umgekippt, vermutlich von der Hitze an dem Tag, und sie hatte mich in den Tempel gebracht und mich betreut, bis es mir wieder besser ging. Ein paar Nachbarn haben auf den Zug aufgepasst, während ich ohnmächtig war.
Ja, Tikal und Gemri, die nach ihm in die Station eingefahren seien, hätten von unkooperativen Erdfeen berichtet, die sie daran gehindert hatten, sich der Bahn zu nähern.
Mehr habe er dazu nicht zu sagen?
Nur, dass er ohnmächtig geworden sei und sich an sonst nichts erinnern könne?
Wenn dem so sei, werde der Vorstand sich über seine Aussagen beraten und die Entscheidung dem Magistrat übertragen. Bis zu einem Entschluss des Magistrates sei er bis auf weiteres beurlaubt.
Er könne nun gehen.
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Als er auf den breiten Stufen des Hauptsitzes der Straßenbahngesellschaft an der Core Station stand, atmete er tief durch.
Er hatte den Vorsitzenden des Vorstands belogen. Deip’Ol hatte ihn zwar in den Armen gehalten, als er zu sich kam, doch war er nicht ohnmächtig gewesen. Wenn das je herauskäme, wäre er gefeuert.
Aber das war er vielleicht sowieso.
Aber hätte er dem reinrassigen Kobold erklären können, dass Deip’Ol ihn auf eine Traumreise geschickt hatte mit ihrem Tee; dass er sogar darum gebeten hatte?
Er hatte zwar immer schon gewusst, dass er kein reinrassiger Mensch sein konnte, doch hatte ihm niemand sagen können, mit welcher Rasse seine Vorfahren ihr Blut gemischt hatten. Fast jedes Halbblut wusste das über sich selbst, doch er nicht. Er hatte keine besonderen Gaben an sich entdeckt, die zu irgendeiner Rasse passen würden; alles, was er konnte, war Straßenbahnen durch Elysia zu lenken.
Und die Erdmagie der Dig’dip machte es möglich, das zu erforschen.
Er hatte den Tee getrunken, und nach wenigen Minuten hatte sich die Welt verändert, als hätte sich ein Schleier gehoben, der ihren wahren Anblick verborgen hatte. Er konnte den Strom des Lebens erkennen, der Bäume und Sträucher wachsen ließ, hörte die Winde, welche die Wolken an den Himmel malten, und spürte von den Fußsohlen bis zu den Haarspitzen ein pulsierendes Vibrieren, die lebendige Erde, die ihn grüßte. Alles, wirklich alles war im Fluss, das einzige, was sich dem Fluss der Veränderung widersetzte, waren die Gleise und der Wagen der Straßenbahn. Doch die Lebendigkeit des Waldes kämpfte beständig gegen die Starre der Bahn an, und wenn die Bahn lange genug stehen bliebe, würde auch sie eins mit dem Fluss.
Er entdeckte ein glitzerndes Band aus roten und weißen Funken, das vor ihm in der Luft schwebte. Es schien aus seiner Brust, seinem Herzen zu entspringen und führte in den Wald hinein. Er folgte ihm, immer tiefer in den atmenden Wald, den er noch nie in so leuchtenden, fließenden Farben gesehen hatte.
Und dort, im tiefen Wald, führten ihn die Funken zu einer Höhle, die der Ursprung des beständigen Pulsierens zu sein schien.
Er hatte keine Angst.
Er ging in die Höhle, tiefer und tiefer hinein in die Erde, und je tiefer er kam, desto sicherer fühlte er sich. Es fühlte sich gut an. Schließlich kam er in eine weich in rotem Licht glühenden Höhle, in deren Mitte eine uralte Dig’dip saß und ihm zulächelte. Ihre großen goldenen Augen waren voller Weisheit und Güte, das Haar lang und weiß, und obwohl ihre Gestalt so zierlich wirkte, strahlte sie die ganze Kraft der Erde aus.
Sie hielt die Arme auf, und er kuschelte sich hinein.
Er war zuhause