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Straßenbahn 7

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01.11.2021
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Straßenbahn 7

Es ist morgens irgendetwas zwischen 6 und 7, es wird langsam hell und ich sitze - mal wieder - in der Straßenbahn, Linie 7, auf dem Heimweg nach einer durchzechten Nacht.
Mein Mund ist staubtrocken, mein Gesicht fühlt sich an, als hätte es jemand mit Sandpapier bearbeitet. Die laute Musik aus der Bar klingt wie ein auditives Nachbild in meinen Ohren. Meine Augen brennen und kratzen, ich bin unendlich müde. So müde. Wann ist die Euphorie der letzten Nacht auf der Strecke geblieben? Vermutlich ist sie nicht tageslichttauglich und hat sich bei Sonnenaufgang verabschiedet, einfach so, ohne Abschiedsgruß. Ich frage mich, ob der letzte Abend ein guter war und komme zu dem Schluss, dass nichts, das so einen schlechten Geschmack im Mund hinterlässt, gut sein kann. Eine verschwendete Nacht. Wieder.
Ich betrachte gedankenverloren meine Hände und stelle fest, dass sich anscheinend der Dreck aus sämtlichen Bars, die ich heimgesucht habe, unter meinen manikürten Fingernägeln angesammelt hat. Bardreck. Ich schäme mich und balle die Hände zu Fäusten, damit niemand meine schmutzigen Finger sehen kann. Als ob das irgendjemand interessieren würde!
Vermutlich ist auch mein Make Up total verschmiert. Oder weg. Irgendwo zwischen erster und letzter Bar von meinem Gesicht abgefallen. Nun ist der Lack ab und jeder kann mich sehen. Ich ziehe mir meinen Schal tiefer ins Gesicht. In der Straßenbahn befinden sich bereits viele Fahrgäste: arbeitendes Volk, Schüler und Senioren mit seniler Bettflucht. Ich habe das Gefühl, dass alle mich anstarren, mich durchschauen, missbilligen. Ich starre wie gebannt aus dem Fenster und gebe mich gleichgültig. Niemand sieht her. Hoffentlich sind wir bald da, ich bin so müde. Vielleicht kann ich ja heute schlafen?

Mir fällt ein, dass ich keine Milch für meinen Kaffee zu Hause habe und auch nichts zu essen, außer Instantsuppe. Das deprimiert mich, weil es bedeutet, dass ich heute noch einkaufen gehen muss. Außerdem ist morgen mein Urlaub zu Ende und ich muss wieder in die Tretmühle. Dieser Gedanke deprimiert mich noch mehr.

Mir ist kalt, meine Hände zittern und als ich aufstehe, um an meiner Haltestelle auszusteigen, schwanke ich ein bisschen. Natürlich ist mir das wieder peinlich, ich bilde mir ein, dass alle mich anstarren, mich auslachen. Aber niemand sieht her und keiner lacht.

Der kurze Fußmarsch bis zu meiner Wohnung fällt mir schwer. Ich renne fast, weil mir so kalt ist, aber ich komme trotzdem viel zu langsam vorwärts. Endlich bin ich da. Ich habe Schwierigkeiten, den Schlüssel ins Schloss zu bekommen. Endlich drinnen, werfe ich erleichtert die Tür hinter mir zu. Sicher. Ich wasche mir den Dreck der vergangenen Nacht ab und falle todmüde ins Bett.

Die Gedanken in meinem Kopf haben, wie immer, nur darauf gewartet, dass ich mich ihnen ungestört widmen kann. Sie kreischen, sie wirbeln herum und wollen wieder dafür sorgen, dass ich mich ihnen schlaflos ergebe. Aber nicht heute - heute habe ich mir den seltenen Luxus einer Schlaftablette gleistet. Ich merke, wie meine Augenlider schwer und die Gedanken leiser und leiser werden. Stille.

 

Hallo @Veni , willkommen im Forum.
Also erst einmal hast du das Gefühl nach so einer harten Nacht gut beschrieben. Erinner ich mich auch noch gut dran:). Wie man immer denkt, dass alle einen anstarren, was natürlich völliger Schwachen ist. Meistens zumindest. Es sei denn, man sieht richtig fertig aus (hahaha).
Jedenfalls gefiel mir auch das Detail mit den Fingernägeln, und wie die Protagonistin sie verstecken will. Außerdem, welch eine Erlösung die eigen Haustür am Ende ist.

Leider finde ich nur, dass die Geschichte nirgendwo richtig hinführt. Auch auf den nötigen Einkauf, der erwähnt wurde, wurde gar nicht mehr eingegangen. da hast du meiner Meinung nach eine gute Chance vertan, noch viel mehr Dramatik reinzubringen. Denn, wie du wahrscheinlich weißt, ist ein Einkauf in diesem Zustand ein Spießrutenlauf.
Ich nehme mal an, da es dein erste Beitrag ist, wolltest du mal ein bisschen rumprobieren und schauen.
Ich hoffe, wir hören mehr von dir. Einen schönen Tag noch. Gruß.

heute habe ich mir den seltenen Luxus einer Schlaftablette gleistet.

geleistet.

 

Hallo @Veni :-)

Herzlich Willkommen im Forum :-)

Grundsätzlich kommentiere ich jeden Text mit Eisenbahn-, Straßenbahn-, Bus-, ÖPNV-, U-Bahn-, S-Bahn, Metro-, Tunelbana-, ...bezug :-D

Ich bin der festen Überzeugung, dass du deinen kleinen Text ausbauen kannst - sprachlich tauchen schöne Formulierungen auf wie auditives Nachbild auf - dein Text wirkt auf mich wie ein kleiner Versuch, einfach mal einen Text zu schreiben und ihm Bewertungen zukommen zu lassen. Vielleicht hast du den Ehrgeiz, die Motivation oder ein unbestimmbares, vages Gefühl, etwas schreiben zu wollen. Das, finde ich, ist ein sehr, sehr guter Ansatz. Jetzt zur Kritik.

In Deinem Text schildert eine Ich-Protagonistin eine nächtliche bzw. frühmorgendliche Straßenbahnfahrt. Die letzten Stunden hat die Ich-Prota im Nachtleben einer Großstadt verbracht; sie fährt heim und erkennt die Vergeblichkeit (?), die Enttäuschung (?), die Nutzlosigkeit (?) der vergangenen Nacht. Irgendwas hat sie sich vom Nachtleben erhofft. Ihre Erwartungen sind jedoch nicht erfüllt worden. Dein Text präzisiert "Was" und "Warum" der Hoffnungen bzw. Enttäuschungen nicht.

Geschichten entstehen aus Handlung. In deinem Text kann ich eine Handlung nicht erkennen. Vom Einsteigen in die Straßenbahnlinie 7 bis zum Einschlafen im eigenen Bett verändert sich nur ihre geographische Lage. Ihre Einschätzung zur vergangenen Nacht ...

Eine verschwendete Nacht. Wieder.
... steht fest und bleibt fest. Du beschreibst ja nicht, was passiert ist. Obwohl du die subjektivste aller Perspektiven gewählt hast, die Ich-Perspektive, bleiben ihre Schilderungen oberflächlich. Aus meiner (natürlich subjektiven) Sicht könntest du hier mehr Handlung, mehr Spannung einbauen. Ist etwas passiert? Wenn ja was. Oder ändern sich ihre Einschätzungen, ihre Gedanken während der Fahrt?

Wenig erfahre ich über ihr Leben. Ich-Perspektive, okay - aber ich sehe die Ereignisse nicht aus ihrer sondern in ihrer Welt. Als Leser fühle ich mich wie ein Fahrgast. Ich sitze auf der gegenüberliegenden Seite in einem blauen Vierersitz und sehe auf dem Weg zur Frühschicht eine junge Frau mit lackierten Fingernägeln, Ausgehklamotten und Augenringen. Natürlich, die hat gefeiert und ist jetzt fertig. Das ist leider der Eindruck, den ich von deinem kurzen Text erhalten habe.

Lasse dich nicht entmutigen und sei ruhig radikal.
Lg aus Leipzig, nicht unweit von der blauen Linie 7 entfernt,
kiroly

 

Ich schäme mich und balle die Hände zu Fäusten, damit niemand meine schmutzigen Finger sehen kann. Als ob das irgendjemand interessieren würde!

Ja, das kenn ich, wenn auch nicht um sechs oder sieben (um halb acht rief einige jahrzehntelang werktags bereits die Krankenhauspforte),

liebe @Veni,
wobei ich mir nie Gedanken über meinen Zustand machte, weil ich ja i. d. R. um ihn wusste -
und damit erst ein mal herzlich willkommen hierorts!

Über diese Einleitung könnte ich fast vergessen, dass ich i. d. R. bei der ersten Begegnung darauf hinweise, dass ich keine Geschichte nacherzähle, die a) der Autor kennt und b) jeder selbst lesen kann. Die Nacherzählung gehört m. E. auf die harte Schulbank, um dort vor allem Verständnis und Gedächtnis zu trainieren, was natürlich nichts über meine Vorredner aussagt, denn tatsächlich ist da ja alles schon gesagt – bis auf eins, die geringe Fehlerquote, dass ich zunächst mal frage (ist ja kein Fehler), warum der Konj. II „würde“ im Zitat oben, wenn es auch ohne Hilfsverb geht „als ob das irgendjemand interessiert“. Wobei auch das „irgend…“ korrekt ist, denn Indefinitpronomen wie nie- und jemand z. B. brauchen keine Endung – und schon hastu`n (ich schreib manchmal wie ich sprech) Stein bei mir im Brett ... was natürlich kleinere Korrekturen nicht ausschließen kann.

Hier z. B.

Vermutlich ist auch mein Make Up total verschmiert.
sieht das amtliche (Schrift-)Deutsch (mehr ist „Hochdeutsch“ nicht – schon seit dem großen Karl) die eigenwillige Schreibung

Make-up

vor (im amerikanischen Englisch wirds sogar zusammengeschrieben)

und eine Flüchtigkeit

Aber nicht heute - heute habe ich mir den seltenen Luxus einer Schlaftablette gleistet.

Nun bin ich gespannt auf einen Nachfolger …

Gern gelesen vom

Friedel

 

Hallo zusammen,

vielen Dank für eure Kritik! Ich hätte gar nicht mit so einem großen Feedback gerechnet! Ich kann alle eure Kritiken sehr gut annehmen und bin sehr dankbar für eure hilfreichen Kommentare! Tatsächlich hab ich diesen Text mal aus der Hüfte geschossen, um zu sehen, ob meine Schreibe zumindest ansatzweise lesertauglich ist. :-) Und jetzt werde ich mich mal endlich (!) genauer hier umlesen und bestimmt bekommt ihr noch den einen oder anderen Text von mir auf die Augen!
Alles Liebe euch allen aus Österreich!
Verena

 

Hallo @Veni

ich mag Deinen Text! Er ist kurz und knackig, eine prägnante Szene, ich kann mich in die Prota hineinfühlen. Einige sprachliche Ausdrücke haben mich sehr angesprochen, du schaffst es, Bilder im Kopf zu erzeugen und Emotionen hervorzurufen. Die Prota macht mich neugierig und ich würd gerne mehr von ihr lesen.

Hier ein paar Leseeindrücke:

Ich betrachte gedankenverloren meine Hände und stelle fest, dass sich anscheinend der Dreck aus sämtlichen Bars, die ich heimgesucht habe, unter meinen manikürten Fingernägeln angesammelt hat. Bardreck. Ich schäme mich und balle die Hände zu Fäusten, damit niemand meine schmutzigen Finger sehen kann.

Die Scham bringst Du sehr glaubhaft rüber.
Mir sind die 2 Sätze aufgefallen. Beide fangen mit ich an. Das find ich immer ein wenig unglückich. Den ersten Satz könntest Du leicht umstellen: Gedankenverloren betrachte ich meine Hände ...

Nun ist der Lack ab und jeder kann mich sehen. Ich ziehe mir meinen Schal tiefer ins Gesicht. In der Straßenbahn befinden sich bereits viele Fahrgäste: arbeitendes Volk, Schüler und Senioren mit seniler Bettflucht. Ich habe das Gefühl, dass alle mich anstarren, mich durchschauen, missbilligen

Die senile Bettflucht gefällt mir. Da musste ich schmunzeln :)
Auch hier kann ich die Gefühle sehr gut nachvollziehen.

Mir fällt ein, dass ich keine Milch für meinen Kaffee zu Hause habe und auch nichts zu essen, außer Instantsuppe. Das deprimiert mich, weil es bedeutet, dass ich heute noch einkaufen gehen muss. Außerdem ist morgen mein Urlaub zu Ende und ich muss wieder in die Tretmühle. Dieser Gedanke deprimiert mich noch mehr.

Dieser Teil passt sprachlich nicht so sehr zum Rest. Den könntest Du lebendiger gestalten. Mehr show statt tell.

Vorschlag: Mir fällt ein, dass ich keine Milch für den Kaffee zu Hause habe und auch nichts zu essen, außer Instantsuppe. So ein Mist! Ich runzle die Stirn. Auch noch einkaufen heute. Mir bleibt nichts erspart. Morgen ist mein Urlaub zu Ende und ich muss zurück in die Tretmühle. Dieser Gedanke deprimiert mich.

Mir ist kalt, meine Hände zittern und als ich aufstehe, um an meiner Haltestelle auszusteigen, schwanke ich ein bisschen. Natürlich ist mir das wieder peinlich, ich bilde mir ein, dass alle mich anstarren, mich auslachen. Aber niemand sieht her und keiner lacht.

Könnte man streichen.

Die Gedanken in meinem Kopf haben, wie immer, nur darauf gewartet, dass ich mich ihnen ungestört widmen kann. Sie kreischen, sie wirbeln herum und wollen wieder dafür sorgen, dass ich mich ihnen schlaflos ergebe. Aber nicht heute - heute habe ich mir den seltenen Luxus einer Schlaftablette gleistet. Ich merke, wie meine Augenlider schwer und die Gedanken leiser und leiser werden. Stille.

Interessantes Ende und interessante Protagonistin. Ich bin gerne mit ihr in der Linie 7 gefahren.

Ganz liebe Grüße und einen schönen Abend,
Silvita

 

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