Straße der Sehnsucht
Nachts stand ich gerne an dem Fenster, das mir einen kompletten Blick über die Stadt ermöglichte. Die Lichter der Nacht tänzelten vor meinen Augen, wurden kleiner und kleiner, bis sie am Horizont verschluckt wurden. Im Sommer war das Fenster geöffnet, ich konnte den Flieder riechen, der vor dem Haus wuchs, im Winter strömte mir eine angenehme Wärme entgegen, da sich direkt am Fenster eine Heizung befand. Tagsüber war der Blick auf diese Stadt ein anderer, fremd, distanziert, so, als würde ich kein Teil von alledem sein. Besonders angezogen fühlte ich mich von einer Straße die in die Stadt im Tal führte, sich wie eine Lichterkette schlängelte, um dann in einem Meer von Lichtern zu verschwinden. Der Blick auf diese Straße schmerzte mich fast, machte mir Sehnsucht, ein Teil von ihr zu sein, ein Teil der Lichterkette, ein Teil von denen zu sein, die sich auf ihr bewegten. Wohin führte ihr Weg? Die einen fuhren ins Licht, die anderen ins Dunkel der Nacht, dahin, wo die Straße für mich, für meinen Blick, endete.
„Schon wieder am Fenster, schon wieder die Straße anschauen?“, fragte mich mein Freund, der das Zimmer betreten hatte und mich aus meinen Träumen riss. „Ja, da würde ich jetzt gerne sein“, antwortete ich. Immer und immer wieder hatte er mir erklärt, dass wir diese Straße schon oft entlang gefahren waren und ich wusste es ja selbst, nur hatte sie da nie diesen Zauber, den ich empfand, wenn ich sie aus der Ferne sah. „Wir fahren da jetzt hin und dann wirst du sehen, dass diese Straße sich von keiner anderen unterscheidet.“
Er stellte das Motorrad an einer Nothaltebucht ab, während ich abstieg und mich zu einer Brüstung begab, die wohl im Falle eines Unfalles dafür sorgen sollte, nicht abzustürzen. Jetzt war ich ein Teil der Lichterkette, eine von denen, die sich darauf bewegte und ich spürte, wie sehr mich der Gedanke ernüchterte. Als mein Freund neben mir stand, legte er einen Arm um mich und fragte, „und, was ist jetzt so besonders hier?“. Nichts war besonders, das wusste ich ja schon vorher, ich wusste selbst nicht, warum diese Straße eine solche Anziehungskraft auf mich ausübte, immer dann wenn ich sie vom anderen Ende aus betrachtete und sie mich immer wieder mit einer solchen Sehnsucht erfasste. „Kann man von hier aus das Haus sehen, in dem du wohnst?“, fragte ich ihn. Und er zeigte es mir und wieder bekam ich diese Sehnsucht, da sein zu wollen, da, wo ich vor fünfzehn Minuten noch war.
Das ist jetzt zehn Jahre her und immer noch sehne ich mich danach, am anderen Ende zu sein und wenn ich da angelangt bin, dann sehne ich mich zurück.