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Stopp
Lichter blitzen aus der Menschenmenge, welche die Szenerie aus sicherer Entfernung beobachtet. Rebecca hat es längst aufgegeben, von denen Hilfe zu erbitten.
„Im Ernstfall könnt ihr nur auf euch selbst zählen!“, hatte Sven gesagt. „Mickrige fünf Prozent leisten Hilfe, das ist statistisch erwiesen.“
Diese fünf Prozent waren heute Nacht anderweitig beschäftigt.
Ohne ihren Fuß vom Rumpf des am Boden liegenden Mannes zu nehmen, dreht sie ihren Oberkörper nach links, in die Richtung, aus der sie den auf- und abschwellenden Ton der Sirene wahrnimmt. Ihr Blick wandert zurück zu ihm, dann nach rechts, zu der auf dem Asphalt hockenden, in sich zusammengesunkenen, Frauengestalt.
„Sie kommen. Hör auf zu heulen. Du musst jetzt stark sein.“
„Hör auf zu heulen! Du musst jetzt stark sein.“
Mutters harte Hände. Stimmen. Schweben. Schmerzen. Stiche. Stille.
Säure quillt über, Piepsen, blinzle unter schweren Augenlidern, grelles Licht - Neonlicht, Tür geht auf - Schwester, Monitoralarm erstirbt, Kälte in meiner rechten Armbeuge - in der Vene, Magen beruhigt sich, linker Oberarm wird zusammengepresst - Blutdruckmanschette.
„Hallo.“
Druck im Ohr.
„So, kein Fieber. Werte sind wieder okay. Wie geht es dir?“
Schwester stellt das Kopfteil meines Bettes hoch.
„Geht es dir besser?“
„Hm“, krächze ich, „müde.“
„Müde, heut Nacht kaum geschlafen, war so ätzend auf Arbeit, Rücken hab ich auch, ich kann echt nicht.“
„Becca, reiß dich zusammen. Ute kriegt ’nen Krampf, wenn sie wegen uns zu spät kommt. Ich gebe dir fünf Minuten. Du kommst mit, und wenn ich dich an den Haaren hinschleifen muss!“
„Is ja gut, Kathi, komm ja schon.“
Schöne Freundinnen hab ich, brauch ich keine Feinde mehr, wie kann man nur so zwider sein. Schimpfend stehe ich auf.
Sitze im Bett, Klinik, Wachstation, Einzelzimmer. Viggo rechte Armbeuge, links Blutdruckmanschette, beide Hände verbunden, Schulterverband links, Halskrause. Ich schlucke, es schmerzt. Atme tief ein: Stechen links, zieht über den Brustkorb bis in den Steiß, der sich wund anfühlt. Versuche den linken Arm anzuheben, schmerzt wie die Hölle. Hebe den rechten Arm: Schmerzen von der Handwurzel bis zum Ellenbogen, Viggo zwickt. Bewege den Arm in Zeitlupe auf mein Gesicht zu und taste: Schwellung, Krusten, Pflaster, Sauerstoffsonde im rechten Nasenloch, Tamponade im linken, Schädel nicht verbunden. Senke den Arm, hebe die Bettdecke an: Patientenhemd, Pampers, kein Blasenkatheter, Gips rechter Fuß bis Unterschenkel, linkes Bein eingewickelt.
Glimpflich davongekommen. Ich atme auf. „Aua!“
Meine Blase meldet sich. Suche nach der Klingel über mir am Bettgalgen, nichts, neben mir rechts am Gitter. Drücke den Knopf, warte eine gefühlte Ewigkeit, spanne den Beckenboden an, Schmerz im Steiß bringt mich um, Magensäure brennt sich nach oben, kalter Schweiß, Monitoralarm. Tür fliegt auf, Schwester flitzt zu den Geräten.
„Ich brauch die Bettschüssel, es eilt!“
Erleichtert bedanke ich mich.
„Gute Werte, alles stabil, wie geht es dir?“
„Besser.“
„Ein Polizist möchte dich sprechen. Aber wenn du dich nicht fühlst, schick ich ihn weg.“
Ich gebe meine Zustimmung. Kurz nachdem die Schwester das Zimmer verlassen hat, klopft es an der Tür.
„Frau Schmellin?“, fragt eine tiefe Stimme.
„Ja.“
Der Polizist tritt ein, setzt sich an mein Bett.
„Klausnik mein Name. Vermutlich fällt es Ihnen schwer, zu sprechen. Ich werde Ihnen einfache Fragen stellen. Nicken oder schütteln sie mit dem Kopf!“
Ich nicke.
Sie waren in der Nacht vom 20. zum 21. Februar in eine Schlägerei verwickelt. Kannten Sie Ihr Gegenüber?“
Ich nicke.
„In welcher Beziehung, stopp. Führten Sie zu diesem Zeitpunkt eine geschlechtliche Beziehung mit ihm?“
Zaghaft verneine ich.
„Sind Sie sicher?“
„Ich kann nicht fester mit den Kopf schütteln. Ja.“
„Sie bejahen, dass Sie mit dem Herrn liiert sind?“
„Nein, dass ich sicher bin. Also, nein, bin ich nicht!“, zische ich.
„Sie können sprechen. Das macht es einfacher. Zurück zu meiner Frage, sind sie ein Paar?“
„Nein!“
„Wer waren Ihre Komplizen?“
„Was? Meinen Sie meine beiden Freundinnen?“
„Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass Sie einen jungen, durchtrainierten Zwei-Meter-Mann so zugerichtet haben.“
„Wir haben einen Kurs gemacht.“
„Aha. Was haben Sie in dieser Gegend gesucht, mitten in der Nacht?“
„War’n in der Bar, wie hieß die, 'Zum Kelch' heißt die, glaub ich.“
„Sie und dieser Mann waren zusammen in der Bar.“
„Ja. Nein. War mit Freundinnen in der Bar. Haben den dort getroffen.“
„Sie waren mit ihm in der Bar verabredet?“
„Nein, nein.“
„Frau Schmellin? Warum waren Sie in dieser Bar?“
„Um zu feiern.“
„Juhu, das ist so cool, das muss gefeiert werden!“, kreischt Kathi. „Nie im Leben hätte ich geglaubt, dass du bestehst, Becca“, stößt sie mir ihren Ellenbogen in die Rippen.
„Autsch!“, stöhne ich lachend. „Und weißt du was? Ich glaube es noch immer nicht.“
Ute flitzt auf uns zu, ihre Urkunde schwingend, umarmt uns beide gleichzeitig und wir tanzen im Kreis wie die Indianer.
„Ute, weißt du? Ich musste Becca an den Haaren her schleifen.“
„Hahaha“, erwidere ich, „aber danke, dass du mich motiviert hast.“
In der Bar.
Hinter uns: „Hi Mädels, was geht ab?“
„Thomas, hey, was machst 'n du hier?“
Thommy, schön, dich mal wieder zu sehen. Ich trink ’nen Ramazotti aber flotti!“
„Hallo Thomas, hallo.“
„Ich geb einen aus, worauf trinken wir?“
„Schau uns an! Vor Dir stehen die Super-Selbstverteidigungs-Fighter-Champions der Volkshochschule.“
„Wow, da krieg ich aber richtig Angst.“
„Frau Schmellin, geht es Ihnen nicht gut?“
„Was? Nein, ich bin nur müde.“
„Brauchen Sie eine Pause? Dann komme ich später wieder zu Ihnen.“
„Nein. Es, es geht schon.“
„Sie kennen also den Geschädigten.“
„Geschädigten, ja, nennt man das so, ja, den kenne ich.“
„Laut Zeugenaussagen haben Sie ihn gesiezt und behauptet, ihn nicht zu kennen.“
„Ja, Sven hat uns eingeschärft, den Angreifer nie mit Du anzusprechen.“
„Sven hat Ihnen geholfen.“
„Was? Naja. Nein!“
„Wer ist dieser Sven?“
„Sven ist der ...“
„Die meisten Übergriffe geschehen im Bekanntenkreis. Niemals den Angreifer duzen, auch nicht, wenn ihr ihn kennt! Rebecca, nach vorn!“
„Och nee, nich schon wieder ich.“
Die anderen lachen, kichernd schlendere ich zu Sven.
„Das ist nicht lustig! Wie reagierst du, wenn ich dich angreife?“
„Abwehrhaltung, Ansprache, Stoppkick und Schläge auf die Nase.“
„Richtig, los geht’s!“
„Echt jetzt?“
Sven verdreht die Augen, dann geht er mit aggressivem Blick auf mich zu.
„Stopp, fassen Sie mich nicht an.“
Ich versuche wirklich ernst zu bleiben, meine Mundwinkel machen einfach nicht mit.
„Was, Süße, ach komm, heute schon was vor?“
„Das geht dich ...“
Zack, hat er mich im Schwitzkasten. Gelächter, am lautesten aus der Kathi-Ute-Ecke.
„Wir sind nicht zum Lachen hier, sondern zum Lernen! Rebecca, du musst an dir arbeiten. Diese Typen checken alle ab und du erfüllst genau ihr Opferschema. Das ist gefährlich. Nun bist du hier, wir schaffen das!“
Es ist still geworden. Sven entlässt mich, winkt Kathi ran. Die ist in Topform, ebenso Ute. Gut für mich Lusche, solche Freundinnen zu haben.
„Frau Schmellin?“
„Ja? Ja.“
„Sie üben sich also in Selbstverteidigung, wie lange schon?“
„Das war ein Wochenendkurs. Wochenendintensivkurs für Anfänger.“
„Aha. Von der Volkshochschule. Für Anfänger. Da lernt man, einen Zwei-Meter-Mann krankenhausreif zu prügeln. Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?“
„Nein.“
„Nein, es war ein wenig anders. Sonst hätten Ihnen ja auch Ihre Freundinnen beigestanden. Das mussten diese nicht, weil Sie einen Komplizen hatten. Wen decken Sie?“
„Es gibt keinen Komplizen. Er hat uns angegriffen. Ich habe mich gewehrt.“
„Und Ihre Freundinnen?“
„Ute Schneider ist weggerannt, Kathi, Kathrin Ländler ist heulend zusammengebrochen.“
„Warum sind Sie nicht geflüchtet?“
„Sollte ich ihn mit Kathi, mit Frau Ländler, allein lassen?“
„Eine schöne Geschichte, die Sie mir da auftischen. Stimmen Sie mit mir überein, dass sie rein körperlich nicht in der Lage wären, diese Schlägerei zu gewinnen?“
„Das schon.“
Der Polizist lächelt das erste Mal, beugt sich zu mir herüber und flüstert: „Wie-haben-Sie’s-gemacht?“
„Ich weiß es nicht, kann mich nicht erinnern. Tut mir leid.“ Ich blinzle die Tränen weg.
Herr Klausnik steht auf, wünscht mir gute Genesung und droht an, wiederzukommen, wenn es mir besser geht. Mit filmreifer Geste hinterlässt er seine Visitenkarte, falls mir was einfällt.
Endlich bin ich wieder heil und zu Hause. Gleich am nächsten Tag haben mich Kathi und Ute besucht. Es war eine betröpfelte Stimmung. Über sechzehn Jahre sind wir schon befreundet und sind uns doch fremd. Die Polizei hat mich nicht nochmal vernommen. Im Briefkasten lag die Benachrichtigung für den Gerichtstermin Ende Mai. Ich bin schon erleichtert, dass Thomas angeklagt ist und nicht ich. Habe mich zum Kurs für Fortgeschrittene bei der VHS angemeldet. Ute und Kathi habe ich auch eintragen lassen, obwohl sie es sich noch überlegen wollen.
Heute gehe ich in die Klinik, auf die andere, die meine Seite. Bis auf ein paar Narben und Haematome sehe ich wieder ganz passabel aus. Ich betrete die Station, versuche bekannte Stimmen zu erlauschen. Nichts, stattdessen eine deplatzierte man-könnte-die-Stecknadel-fallen-hören Stille. Zaghaft öffne ich die Tür zu unserem Aufenthaltsraum. Sie stürzen sich auf mich wie wildgewordene Groupies. Luftballons steigen an die Zimmerdecke, Seifenblasen und Luftschlangen. 'We are the Champions', heult der CD-Player. Meine Lieblingstorte, Schwarzwälder Kirsch, steht auf dem Tisch und auf meinem Stuhl ein Schild: 'Superhero'. Alle reden gleichzeitig auf mich ein.
„Stopp!“, schreie ich.
Als hätte jemand den Film angehalten, stehen sie starr vor mir mit offenen Mündern und erschrockenen Blicken. Ich muss lachen, sie stimmen mit ein.
„Mensch, Becca, ich bin so stolz auf dich!“, ruft Erwin und umarmt mich.
Andrea schließt sich an: „Hätte ich dir nie zugetraut, ich muss auch so ’nen Kurs machen.“
„Weißt du, dass du jetzt YouTube Star bist?“, fragt Alexandra. „Jemand hat das Ganze gefilmt und anonym ins Netz gestellt, hat schon massig Clicks, warte, 2 1/2 Mille schon. Du bist famous.“
„Hilfe wäre mir lieber gewesen, aber man kann nicht alles haben.“
„Willst du es anschaun?“, hält mir Alex ihr Handy vor die Nase.
Die Frau in dem Video sieht aus wie meine Mutter ohne Falten und so agiert sie auch. Mit Wucht haut sie Thomas ihre Handtasche um die Ohren. Kathi wimmert, sie dreht den Kopf zu ihr um, da packt er zu und würgt. Sie fasst eine Schrecksekunde lang an seine Hände, dann durch seine Arme hindurch, schlägt ihm die Nase blutig, er lässt heulend los, sie kickt gegen sein Schienbein. Jetzt haut er ab. Sie läuft zu Kathi.
„Wo ist Ute?“
„Schon weg.“
Zieht Kathi vom Boden hoch. „Komm!“
Ein Stoß fegt sie um, Thomas ist zurück. Sich auf den Rücken drehend kickt sie nach ihm. Seine Kniescheibe bricht knirschend. Heulend zieht es ihm die Beine unterm Körper weg, sein Kopf knallt ungebremst auf den Asphalt. Langsam geht sie zu ihm. Tastet seinen Puls, zieht seine Augenlider hoch, schaut in die Pupillen, platziert ihren rechten Pumps auf seinen Rumpf und holt ihr Handy raus.
„Hier spricht Rebecca Schmellin, ich melde einen Schwerverletzten, bewusstlos, Kniefraktur rechts, vermutlich Schädelhirntrauma und ein paar Kleinigkeiten.“
Zu Thomas: „Noch ’nen Mucks und du singst Sopran.“
Sie dreht ihren Kopf zu Kathi. „Der muckst sich nicht mehr.“
Krankenwagensirene im Hintergrund.
„Sie kommen. Hör auf zu heulen. Du musst jetzt stark sein.“
Die Sanis steigen aus. Sie nimmt den Fuß von Thomas' Rumpf und schreitet Ihnen entgegen.
„Bringt ihn ins Kreiskrankenhaus, ich arbeite dort auf der Unfallchirurgie.“
Lacht und fällt quasi auf ihre Trage. Der Plot bricht ab.