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Stoff für Träume
In seinem roten Sportwagen älteren Baujahrs schlängelte er sich über eine Küstenstraße an der Côte d’Azur, zu seiner Linken ein sanft ansteigender Hügel voller mediterraner Vegetation, hauptsächlich Zypressen, durch deren sattes Grün die Sonne den Weg zum Waldboden nur an wenigen Stellen finden konnte, Stellen, an denen einige Grillen den Juli zurückflehten. Zu seiner Rechten spannte das Mittelmeer eine unendliche tiefblaue Fläche auf, die durch das gleichmäßige, ja berechenbar erscheinende Blitzen des reflektierten Lichtes der Mittagssonne im Ganzen eine Beruhigung in ihm auslöste, als sei das unantastbare Blau die einzige Konstante in seinem Leben. Er genoss einige tiefe Atemzüge, in denen er nicht nur das Salz des Meeres und den Harz der Pinienwälder, sondern auch einen Hauch von Lavendel zu erkennen glaubte, typisch für den Spätsommer in dieser Region. Im Ganzen verband die südfranzösische Luft in ihm Assoziationen von Freiheit, Geborgenheit und Lebensfreude, und als er um die nächste Ecke bog und sich ihm eine lange Gerade zu Füßen legte, verlieh er einem plötzlich aufsteigenden Glücksgefühl mit dem Gaspedal Ausdruck, jedoch nur soweit, dass die mittägliche Schläfrigkeit, die über der Landschaft und den wenigen Bauernhäusern lag, gewahrt blieb. Nach einigen Tagen in Marseille hatte er genug von dem Großstadt-Brei, genug von dem Gestank aus jeder Ecke und aus jedem Auspuff, von den Menschenmassen und der schwülwarmen Luft, die auch im Spätsommer noch ein Gefühl von latentem Unwohlsein in ihm erweckte. Nun lagen noch Cannes, Nizza, Monaco und Menton vor ihm - Orte, deren Namen in ihm Hochgefühle auslösen konnten, eben wegen der Erinnerungen, die mit ihnen verknüpft waren - bis er die Grenze nach Italien überschritten hätte, bis er sich seinen Kindheitstraum, der immer einer hätte bleiben sollen, erfüllt hätte...
Dieser Moment war zu gut. Oder zu schlecht?
Alle Plätze, an denen er in den letzten zwei Septemberwochen gewesen war, in der Normandie, in Biarritz, in Paris, hatte er schon einmal gesehen, überall war er schon gewesen, hatte alles in sein Gedächtnis aufgesogen, wie eine Zecke Blut saugt, hatte die Erinnerungen immer wieder aufgewärmt, verklärt und ein Fernweh kultiviert, das ihm eine Ersatzdroge war und ihm half, viele einsame Nächte durchzustehen. Und er hatte diesen Traum geträumt, eine Reise durch Europa, alleine, „irgendwann“. Die Möglichkeit, die sich ihm spontan bot, hatte er anfangs ein wenig zweifelnd, doch später sehr entschlossen wahrgenommen.
Nun gingen ihm diese Gedanken durch den Kopf. Durfte man in dieser Situation überhaupt nachdenken, sollte man sich nicht dem Moment hingeben, die Gedanken schleifen lassen, gen Himmel, der das Meer in vollkommenen Blau ertrinken ließ. Doch die Gedanken ließen ihn nicht mehr los, trotz perfekten Wetters, trotz einer Atmosphäre, wie sie stimmiger kaum sein konnte, war er nicht glücklich, nicht zufrieden, nein, irgendetwas lag drückend auf ihm, es war, als hätte ihn ein Stein an einer empfindlichen Stelle getroffen, nur ein kleiner Stein, der jedoch eine Lawine ankündigte. Der Sandstrand war nicht weitläufig genug und zu dunkel, außerdem passten die Trabantenstädte Toulouses nicht in seinen Rahmen, die er vor einigen Minuten aus einigen hundert Metern begutachten konnte. Warum war Paris so schmutzig, wo war die zarte Atmosphäre der Bistros und Straßencafés hin, die Romantik, die durch einen Besuch mit seiner langjährigen Freundin untrennbar mit der Stadt verband? Ja, es waren kleine Dinge, das war ihm bewusst, doch sie erschienen ihm plötzlich als Welten, und wieder hatte der Schein sein Duell gegen die Wirklichkeit gewonnen. Er fühlte erst Sehnsucht, dann Wehmut und schließlich pure Enttäuschung. Der überwältigend blaue Himmel erschien ihm als eine Farce, der Geruch wirkte nicht mehr einzigartig sondern stank auf einmal wie eine billige, flache Kopie, eine Blaupause der Realität... nein... das begriff er jetzt, nicht der Realität, eine Blaupause seines Traumes, den er für Realität gehalten hatte und der in diesen Minuten zum letzten Mal geträumt wurde. Die überwältigenden Erinnerungen, die er im Laufe von Jahren gesammelt hatte, waren auf einmal tot, ermordet von ihren Eltern, vernichtet von der Realität. Dies begreifend, stieg ein Gemütszustand von Wut und Verzweiflung in ihm auf, ohne dass er die geringsten Chancen gegen sein Unterbewusstsein gehabt hätte. „Die Landschaft kann schön sein, doch niemals so schön wie das Bild, das man sich von ihr machen kann“, war sein Gedankengang bevor er das Lenkrad scharf nach rechts einschlug, den Motor des Wagens zum Ächzen brachte und die Leitplanke wie eine Luftschlange mit sich nahm.
Von einigen entfernten Badestränden erblickte niemand den kleinen roten Punkt, der zwanzig Meter in die Tiefe segelte, niemand sah wie der Blechklumpen im Geröll zerbarst, niemand beachtete den Rauch, der, von der Brise angefacht, schräg eine Schneise in die blaue Unendlichkeit schlug, niemand wollte so etwas sehen im Paradies, zwischen Sand, Sonne, Zypressen, Rotwein und Schafskäse; Stoff für Träume...
by Matthias P.