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Stoff für Träume

tfa

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21.04.2003
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Stoff für Träume

In seinem roten Sportwagen älteren Baujahrs schlängelte er sich über eine Küstenstraße an der Côte d’Azur, zu seiner Linken ein sanft ansteigender Hügel voller mediterraner Vegetation, hauptsächlich Zypressen, durch deren sattes Grün die Sonne den Weg zum Waldboden nur an wenigen Stellen finden konnte, Stellen, an denen einige Grillen den Juli zurückflehten. Zu seiner Rechten spannte das Mittelmeer eine unendliche tiefblaue Fläche auf, die durch das gleichmäßige, ja berechenbar erscheinende Blitzen des reflektierten Lichtes der Mittagssonne im Ganzen eine Beruhigung in ihm auslöste, als sei das unantastbare Blau die einzige Konstante in seinem Leben. Er genoss einige tiefe Atemzüge, in denen er nicht nur das Salz des Meeres und den Harz der Pinienwälder, sondern auch einen Hauch von Lavendel zu erkennen glaubte, typisch für den Spätsommer in dieser Region. Im Ganzen verband die südfranzösische Luft in ihm Assoziationen von Freiheit, Geborgenheit und Lebensfreude, und als er um die nächste Ecke bog und sich ihm eine lange Gerade zu Füßen legte, verlieh er einem plötzlich aufsteigenden Glücksgefühl mit dem Gaspedal Ausdruck, jedoch nur soweit, dass die mittägliche Schläfrigkeit, die über der Landschaft und den wenigen Bauernhäusern lag, gewahrt blieb. Nach einigen Tagen in Marseille hatte er genug von dem Großstadt-Brei, genug von dem Gestank aus jeder Ecke und aus jedem Auspuff, von den Menschenmassen und der schwülwarmen Luft, die auch im Spätsommer noch ein Gefühl von latentem Unwohlsein in ihm erweckte. Nun lagen noch Cannes, Nizza, Monaco und Menton vor ihm - Orte, deren Namen in ihm Hochgefühle auslösen konnten, eben wegen der Erinnerungen, die mit ihnen verknüpft waren - bis er die Grenze nach Italien überschritten hätte, bis er sich seinen Kindheitstraum, der immer einer hätte bleiben sollen, erfüllt hätte...
Dieser Moment war zu gut. Oder zu schlecht?
Alle Plätze, an denen er in den letzten zwei Septemberwochen gewesen war, in der Normandie, in Biarritz, in Paris, hatte er schon einmal gesehen, überall war er schon gewesen, hatte alles in sein Gedächtnis aufgesogen, wie eine Zecke Blut saugt, hatte die Erinnerungen immer wieder aufgewärmt, verklärt und ein Fernweh kultiviert, das ihm eine Ersatzdroge war und ihm half, viele einsame Nächte durchzustehen. Und er hatte diesen Traum geträumt, eine Reise durch Europa, alleine, „irgendwann“. Die Möglichkeit, die sich ihm spontan bot, hatte er anfangs ein wenig zweifelnd, doch später sehr entschlossen wahrgenommen.
Nun gingen ihm diese Gedanken durch den Kopf. Durfte man in dieser Situation überhaupt nachdenken, sollte man sich nicht dem Moment hingeben, die Gedanken schleifen lassen, gen Himmel, der das Meer in vollkommenen Blau ertrinken ließ. Doch die Gedanken ließen ihn nicht mehr los, trotz perfekten Wetters, trotz einer Atmosphäre, wie sie stimmiger kaum sein konnte, war er nicht glücklich, nicht zufrieden, nein, irgendetwas lag drückend auf ihm, es war, als hätte ihn ein Stein an einer empfindlichen Stelle getroffen, nur ein kleiner Stein, der jedoch eine Lawine ankündigte. Der Sandstrand war nicht weitläufig genug und zu dunkel, außerdem passten die Trabantenstädte Toulouses nicht in seinen Rahmen, die er vor einigen Minuten aus einigen hundert Metern begutachten konnte. Warum war Paris so schmutzig, wo war die zarte Atmosphäre der Bistros und Straßencafés hin, die Romantik, die durch einen Besuch mit seiner langjährigen Freundin untrennbar mit der Stadt verband? Ja, es waren kleine Dinge, das war ihm bewusst, doch sie erschienen ihm plötzlich als Welten, und wieder hatte der Schein sein Duell gegen die Wirklichkeit gewonnen. Er fühlte erst Sehnsucht, dann Wehmut und schließlich pure Enttäuschung. Der überwältigend blaue Himmel erschien ihm als eine Farce, der Geruch wirkte nicht mehr einzigartig sondern stank auf einmal wie eine billige, flache Kopie, eine Blaupause der Realität... nein... das begriff er jetzt, nicht der Realität, eine Blaupause seines Traumes, den er für Realität gehalten hatte und der in diesen Minuten zum letzten Mal geträumt wurde. Die überwältigenden Erinnerungen, die er im Laufe von Jahren gesammelt hatte, waren auf einmal tot, ermordet von ihren Eltern, vernichtet von der Realität. Dies begreifend, stieg ein Gemütszustand von Wut und Verzweiflung in ihm auf, ohne dass er die geringsten Chancen gegen sein Unterbewusstsein gehabt hätte. „Die Landschaft kann schön sein, doch niemals so schön wie das Bild, das man sich von ihr machen kann“, war sein Gedankengang bevor er das Lenkrad scharf nach rechts einschlug, den Motor des Wagens zum Ächzen brachte und die Leitplanke wie eine Luftschlange mit sich nahm.
Von einigen entfernten Badestränden erblickte niemand den kleinen roten Punkt, der zwanzig Meter in die Tiefe segelte, niemand sah wie der Blechklumpen im Geröll zerbarst, niemand beachtete den Rauch, der, von der Brise angefacht, schräg eine Schneise in die blaue Unendlichkeit schlug, niemand wollte so etwas sehen im Paradies, zwischen Sand, Sonne, Zypressen, Rotwein und Schafskäse; Stoff für Träume...

by Matthias P.

 

Hallo tfa,
Geld macht also unglücklich, oder zumindest nicht glücklich wenn es auf ein der Müßigkeit überdrüssiges Millionärssöhnchen trifft? Der reißt dann den Lenker auch schon mal aus purer Langeweile über die Klippen, weil er es nicht mehr erträgt, dass es Trabantenstädte gibt, oder dass sich seine Fantasie etwas anderes ausgemalt hatte?
Ach, ist der arme Mensch zu bedauern.
Ich weiß nicht so genau, was du dir bei diesem Inhalt gedacht hast, ich kann dir allerdings beschienigen, dass du ihn in ansprehende Sätze und schöne Worte und Bilder gekleidet hast. Stilistisch ist an deiner Geschichte nichts auszusetzen.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo sim,

erst einmal vielen Dank für deine Lesemühen.

Ich finde, du hast die Geschichte zu oberflächlich gelesen. Ersteinmal ist es eine Geschichte der Romantik, die ihren Schwerpunkt auf Atmosphäre und Wirkung setzt. Danach sollte der intensive Leser etwas verträumt durch die Gegend blicken, das ist alles. Der Inhalt ist dabei gegenläufig. Er sagt nicht viel aus, zumindest spricht der nicht viel über sich, dafür fehlt es aber nicht an Prägnanz.

Ich kann nicht nachvollziehen, wie du das Millionärssöhnchen findest?! Der Mann erfüllt sich einen Traum, seinen eigenen Traum von der Europareise:

Und er hatte diesen Traum geträumt, eine Reise durch Europa, alleine, „irgendwann“. Die Möglichkeit, die sich ihm spontan bot, hatte er anfangs ein wenig zweifelnd, doch später sehr entschlossen wahrgenommen.

Er hat also in seinem Leben auf einmal die Möglichkeit für diese Reise bekommen, die er natürlich erst skeptisch unter die Lupe nahm, da es ja sein Lebenstraum war, doch schlussendlich ergriff. Er reist einsam nun durch Europa und lebt von Errinerungen und Träumen an Plätze, die er bereits gesehen hat. Also dort sehe ich keinen Hinweis auf ein Millionärssöhnchen?

Weiter war er bereits in Paris, das wieder einmal in seiner Errinerung ganz anders aussieht. Der Mann lebt also in einer Traumwelt, die aus diesen schönen Errinerungen besteht. Doch in der Isoliertheit und Einsamkeit beginnt er zu Denken und nutzt seinen Verstand, was er selber noch als unfair gegenüber dieser unberechenbaren Schönheit ansieht und stellt dann eben fest, dass alle seine Plätze in seiner Errinerung schlussendlich aus seiner eigenen Phantasie entstanden sind. Einerseits entsteht dadurch das Dilemma für ihn, dass sein Lebenstraum(!) zerstört ist, weil er sich ja eben nach dem Glück und der Perfektion in der Schöhnheit Frankreichs, Spaniens und Italienes gesehnt hat und andererseits, dass dieser Mensch durch lange Einsamkeit anfängt sogar die festgefahrensten und verklärtesten Bilder der Schönheit zu überdenken und sie sich selbst durch konstruktive Selbstbeeinflussung zu vernichten.

Der plötzliche Tod und die plötzliche Wendung seines Geistes sollen dabei die Gefährlichkeit seines Gedankengangs zeigen, die Gefährlichkeit für ihn.

ich kenne einen Menschen, der eben diesen Lebenstraum hat und ich weiss, dass er, wenn sich dieser Traum nicht erfüllen lässt, den Lenker herumreißt.

mfg, ~tfa, der Erklärungsversuchende

 

ok tfa, das Millionärssöhnchen habe ich wohl glatt aus Neid auf solche Reise in die Geschichte gelesen. Sorry.

Deine Erklärung hilft mir schon weiter. Denn ich hatte mich im Alter deines Prots tatsächlich gehörig vertan.
Ich kann auhc den Gedankengang gut nachvollziehen, dass einige Träume besser Träume, einige Fabtasiene besser Fantasien bleiben. Ich werde mir die Geschichte auf diesen Aspekt hin noch einmal durchlesen, versprochen. ;)

 

:D Ok angenommen. Würd mich freuen, wenn du nochmal einen Kommentar schreibst, wenn du sie nochmal liest :).

 

schließe mich labanc an. Ansonsten finde ich Deine bildliche Sprache auch sehr schön. Sie ist so wunderbar verträumt, und zu Beginn der KG konnte ich mir richtig gut vorstellen, wie ich selber in dem Auto sitze und das Meer sehen kann.... :shy: ....... toll! Du bist Schuld, dass ich jetzt Fernweh bekommen habe... :crying:

@sim
"Fabtasiene" find isch 'n tolles Wort... irgendwie ;)

 

Vielen Dank für eure Kommentare :).

Ich hatte mir anfangs gedacht, dass ich die Frage nach dem "Warum" einfach weglasse um den Effekt einer Kurzschlussreaktion zu verdeutlichen. Aber ich stimme dir voll und ganz zu, das ist zu kurz ausgefallen. Ich überarbeite es nochmal :).

@Yva Wenn dir auch ein Corsa reicht, komm ich morgen vorbei und wir fahren nach Südfrankreich :).

 

Hallo tfa,

ich habe deine Geschichte jetzt noch einmal ganz in Ruhe gelesen, und sie gefällt mir schon sehr viel besser. Jetzt konnte ich sie auch als Hommage an die Sehnsucht begreifen.
Der Selbstmord zum Ende scheint mir allerdings immer noch nicht so ganz nachvollziehbar.

An einem Punkt habe ich eine Verständnisfrage.

Ja, es waren kleine Dinge, das war ihm bewusst, doch sie erschienen ihm plötzlich als Welten, und wieder hatte der Schein sein Duell gegen die Wirklichkeit gewonnen.
Für mein Gefühl hat der Schein das Duell gegen die Wirklichkeit verloren, denn es beraubt deinem Prot ja der Verklärungen seiner Erinnerungen. Es sein denn, du verwendest es als sarkastischen Gedanken deiner Figur, der diese Erkenntnis ironisch bitter feststellt in dem Moment, in dem er den Schein eben nur als Schein erkennt. Aber der Geddanke ist für Romantik/Erotik vielleicht zu philosophisch ? ;)

Das war es aber diesmal ;)
Lieben Gruß, sim

 

Nee, du hast Recht, es müsste "verloren" heissen. Das ist ein Flüchtigkeitsfehler, den ich korrifgieren werde :).

Es stimmt, wie gesagt, die Frage nach dem "Warum" bleibt generell unbeantwortet. Mein Ziel war es die Möglichkeit einer Kurzschlussreaktion beim Leser zu erzeugen, die sich aus einem minimalen Verlust der eigenen Traumwelt plötzlich in überspitzt drastischer Weise äußert. Ich glaube, dass ich an der Passage noch arbeiten muss ;).

mfg tfa

 

Hi tfa!

Die Geschichte ist – bis auf ein paar Unebenheiten und vergessenen Kommas – bunt und lebendig geschrieben. Unangenehm hat mich nur der Vergleich berührt, dass das Gedächtnis die Erinnerung an die Orte wie die Zecke das Blut aufgesaugt hat. Warum unangenehm? Weil Gedächtnis und Zecke mit Gehirnhautentzündung assoziiert.

Die inhaltliche Aussage nimmt gegen Ende zu. Man spürt die Komprimierung der Emotion und des Gefühls quasi in Zeitraffer; eine Ballung, die sich letztlich im Selbstmord explosionsartig entlädt.

Das mit dem Rotwein und dem Schafskäse, scheint mir mit Sand, Sonne und Zypressen nicht zu harmonieren; erregt eine Assoziation zum Essen, die nicht in die unmittelbare des Selbstmordes passt!

Grüße von
Aldebaran

 

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