Stimmen
Stimmen
Da waren sie wieder – die Stimmen in ihrem Kopf. Drei Tage hatte Annabel jetzt Ruhe gehabt und sich schon der Hoffnung hingeben, die Stimmen nie wieder zu hören. Was sollte sie nur tun? Wurde sie verrückt?
Das Wirrwarr an Stimmen blieb, auch wenn sie ganz krampfhaft an andere Sachen dachte. Manchmal waren sie sogar da, während sie mit anderen sprach. Dann konnte Annabel sich kaum noch konzentrieren. Sie stockte beim Sprechen, was ihr von ihrem Gegenüber meist komische Blicke einhandelte.
Diese Stimmen – dieses Durcheinander in ihrem Kopf. Sie hielt das nicht mehr aus!
„Verdammt, haltet endlich die Fresse!“, schrie sie und schlug mit ihrer Stirn gegen die Wand. Erst leicht, dann immer stärker. Sie fühlte, wie etwas ihre Stirn hinunterlief. Es war warm – Blut. Doch noch immer waren die Stimmen da und ließen sich nicht vertreiben. Ein letztes Mal schlug sie heftig mit ihrem Kopf gegen die Fliesen, dann brach sie zusammen und weinte.
Blinzelnd öffnete Annabel die Augen. Alles war so grell. Sie schloß die Augen wieder. Dann hörte sie eine Stimme.
„Frau Gartner, sind sie wach? Öffnen sie bitte die Augen. Können Sie sich an gestern Abend erinnern?“
„Wo bin ich denn? Im Krankenhaus?“ Sie war verwirrt.
„Sie sind hier in der psychiatrischen Abteilung des Luther-Krankenhauses. Gestern Abend gegen 9:00 wurden sie bei uns eingewiesen. Man hatte sie auf der Toilette des Restaurants „Waldblick“ gefunden. Sie hatten einen Nervenzusammenbruch.“, erklärte ihr die Ärztin, die neben ihrem Bett stand.
„Oh!“, war das einzige, was Annabel dazu einfiel.
„Frau Gartner, was ist passiert? Woran können Sie sich noch erinnern?“
„Stimmen. Da waren überall Stimmen. In meinem Kopf. Sie gingen nicht weg, wurden immer lauter. Ich hab es nicht mehr ausgehalten.“
„Machen Sie sich keine Sorgen. Wir behalten Sie erst einmal eine Weile hier und dann bekommen wir das alles in den Griff. Schlafen Sie noch ein wenig.“, sagte die Ärztin und ging.
Annabel spürte einen Kloß in ihrem Hals, merkte, wie Tränen in ihr aufstiegen. Sie war also doch verrückt. Ihr Kopf schmerzte und sie spürte ein leichtes Pochen an ihrer Stirn. Als sie an die pochende Stelle faßte, ertastete sie ein Pflaster. Langsam stand sie auf, ging ins Bad und sah sich ihr Gesicht im Spiegel an. Scheinbar hatte sie ein Platzwunde, die genäht worden war. Ihr halbes Gesicht war blau. Was hatte sie nur getan?
Der Schmerz in ihrem Kopf wurde stärker, das Pochen breitete sich über das ganze Gehirn aus. Fast war es als würde jemand eine riesige Pauke in ihrem Schädel schlagen. Annabel merkte, wie ihr die Sinne schwanden. Mit wackligen Beinen legte sie sich wieder hin.
Die Paukenschläge wurden jetzt von einem tiefen Brummen begleitet. Mit beiden Händen faßte sie sich an den Kopf und drückte zu. Wenn doch nur endlich Ruhe in ihrem Kopf wäre. Dann hörte sie es wieder. Das Wispern, das zu dem bekannten Stimmengewirr wurde. Lauter und immer lauter. Annabel schrie so laut sie konnte.
Die Ärztin riß die Tür auf und Annabel bekam schon gar nicht mehr richtig mit, wie ihr das Beruhigungsmittel gespritzt wurde.
„Frau Gartner, wir können Ihnen nur helfen, wenn sie mit uns reden. Erzählen Sie mir bitte, wann das alles angefangen hat.“, sagte der junge Assistenzarzt, der seit einer viertel Stunde vergeblich versuchte, Annabel zum reden zu bringen.
Die junge Frau sah den Arzt an. Er lächelte aufmunternd und Annabel fing an zu reden.
„Es sind diese Stimmen in meinem Kopf. Die machen mich wahnsinnig. Es ist nicht so, daß ich etwas konkretes höre, vielmehr so ein Gemurmel und Stimmengewirr. Verstehen Sie, wie in einem Raum voller Menschen. Man hört sie, aber versteht nur einzelne Brocken. Und sie gehen nicht weg.“
„Wann hat das denn begonnen? Können Sie sich an ein bestimmtes Ereignis erinnern, das der Auslöser gewesen sein könnte?“
„Auslöser? Nein, weiß ich nicht. Zuerst war da immer nur ein leichtes Summen. Das war mal da und dann auch wieder weg. Das hat zwar genervt, aber ich hab mich darum nicht weiter gekümmert. Ich weiß gar nicht mehr... Ach doch, vor sechs Monaten oder so hat das angefangen. Es war so eine Art Hintergrundgeräusch. Nach einiger Zeit wurde da dann immer häufiger und vor allem lauter. Ich erkannte dann, daß das nicht nur einfach ein Geräusch war, sondern Stimmen. Wie schlimm es jetzt ist, sehen Sie ja. Sonst wäre ich wohl kaum hier.“
„Gibt es in Ihrer Familie Vorfälle von psychischen Erkrankungen?“
Nicht daß ich wüßte. Wieso? Bin ich verrückt? Was ist das? Was geschieht mit mir?“, fragte Annabel wieder den Tränen nahe.
„Aufgrund der Untersuchungen müssen wir wahrscheinlich davon ausgehen, daß sie eine schizophrene Erkrankung haben. Das Stimmenhören ist für Schizophrenie ein typisches Symptom. Vermutlich ist die Erkrankung noch in einem Anfangsstadium. Wir werden Sie mit Psychopharmaka, speziell mit einem Neuroleptikum behandeln, das verhindert, daß sie weiterhin Stimmen hören. Die weiterführende Therapie werden wir später mit Ihnen besprechen. Hören Sie denn zur Zeit Stimmen?“
„Nein, Gott sei Dank habe ich gerade Ruhe. Wann beginnen Sie mit der Behandlung?“
„Da Sie momentan symptomfrei sind, beginnen wir heute abend mit einem niedrigdosierten Präparat.“
Annabel goß sich ein großes Glas Wasser ein, nahm eine Tablette aus dem Röhrchen und legte sie auf ihre Zunge. Wenn sie nicht viel Wasser beim Tablettenschlucken trank, bekam sie die Tablette nicht runter.
Seit drei Monaten nahm sie jetzt regelmäßig die „Schweigetabletten“, wie sie das Neuroleptikum nannte. Stimmen hatte sie nur noch einmal im Krankenhaus gehört, woraufhin die Dosis von dem netten Arzt erhöht wurde. Annabel fühlte sich wohl. Keine Stimmen mehr, die sie verwirren konnten. Was dachte sie da eigentlich? Verwirren? Diese scheiß Stimmen hatten sie fast verrückt gemacht. Sie war so unsagbar froh, daß sie ihren Kopf wieder für sich allein hatte.
Annabel. Was war das? Sie drehte sich um. Hatte sie jemand gerufen? Aber wer sollte sie rufen, es war niemand da. Annabel. Sie rannte zum Fenster. Vielleicht einer ihrer Freunde. Langsam zog sie die Gardine beiseite. Keiner zu sehen. Wollte sie hier jemand verarschen? Plötzlich begann ihr der Kopf zu brummen. Annabel... Annabel... Annabel... Ein starkes Stechen schoß durch ihr Gehirn. Sie mußte sich setzen. Annabel. Du warst ein böses Mädchen. Du wolltest uns zerstören. Warum hast du das getan? Voller Angst vernahm sie die Stimme. Etwas war anders als früher. Während sie sonst immer nur ein Gewirr von Stimmen gehört hatte, sprach jetzt jemand mit ihr. Sie hörte genau hin. Ruhe. Nichts. Gar nichts. Nicht einmal mehr das Brummen. Annabel beruhigte sich wieder etwas. Ein lautes gehässiges Lachen ließ sie zusammenfahren. Dummes Kind. Hast Du geglaubt, du wirst uns so schnell los? Deine komischen Tabletten helfen Dir vielleicht für kurze Zeit, aber verschwinden werden wir nie. Das war jetzt eine Frauenstimme. Im Hintergrund hörte sie ein Kind weinen. Sie konnte nicht unterscheiden, ob das Kind in Kopf weinte oder ein Kind auf der Straße.
„Was wollt Ihr von mir. Scheiße, laßt mich in Ruhe. Was hab ich denn getan? Laßt mich in Ruhe. Verschwindet!“
Wieder das Lachen. Das Weinen des Kindes. Immer lauter. Immer schriller. Sie hielt sich die Ohren zu. Tränen liefen ihre Wangen runter.
Wir sind ein Teil von Dir. Wir sind Du. Du bist wir.
„Nein!“, schrie Annabel. „Geht weg von mir. Ihr gehört nicht zu mir.“
Doch die Stimmen in ihrem Kopf redeten immer weiter auf sie ein, mal lauter mal leiser. Sie schrien sie an, lachten sie aus, beschimpften sie. Annabel nahm nichts mehr um sich herum wahr. Nur noch die Stimmen in ihrem Kopf.
Als Annabels Mutter am Abend des nächsten Tages bei ihrer Tochter nach dem Rechten sehen wollte, fand sie Annabel völlig abwesend auf dem Teppich kniend vor. Ihr Gesicht war blutverschmiert und ihre einzige Reaktion war das ständige Vor- und Zurückwanken.