Stimmen des Windes - Der deutsche Rekrut
Das Geräusch des Hauptrotors war nur so laut, dass es schon von einem heftigen Ausatmen übertönt werden konnte. Und das, obwohl die Türen des Helikopters an beiden Seiten gänzlich aufgezogen waren. Die Platten der Außenhülle schienen eins zu werden mit dem eisigen Nachtwind, der hier oben herrschte. Es waren nicht die Maschinen, sondern der kühle Höhensturm, der sie mit seinem kalten Griff immer weiter in diese skurrile Parallelwelt riss.
Die Vororte Hamburgs lagen zwischen den hohen und scheinbar schon seit Ewigkeiten unberührten Wäldern lichtlos da. Es erinnerte an die Zivilisation eines südamerikanischen Volkes, das von den Kolonialmächten ausgelöscht worden war. Jetzt begann die Natur ihre Städte und Tempel zu überwuchern. Regungslos saßen die vier Männer im Laderaum des Hubschraubers und versuchten ihre Anspannung und Aufregung mit den Eindrücken zu ersticken, die sie alle dunkel übermannten.
Was einen wirklich beängstigte, waren nicht diese Geisterstädte und auch nicht die weite Zivilisationslosigkeit. Es war die Stille an sich. Sie schien ein ganz eigenes Geräusch zu sein – eine ganz individuelle Stimme auszubilden, deren leises Flüstern so unheimlich klang, dass man es meist zwanghaft mit anderen Dingen übertönte, wenn man ihm hilflos ausgesetzt war. Hier funktionierte das jedoch nur sehr begrenzt. Jeans Gedanken kreisten nervös und flogen schließlich ganz dahin. Die gespiegelten Wälder, die durch seine dunklen Pupillen rasten wurden zu einem verschwommenen Fluss – bauten sich in neue Landschaften um und wechselten schließlich auch die Farben. Ohne es zu wollen, erlag er einem intensiven Tagtraum. Selbst wenn er es gewollt hätte, hätte Jean an nichts Anderes denken können. Seine Augen fielen zu. Still hoffte er, dass es nicht wieder der gleiche Alptraum sein würde.
»Sie belügen dich, Jean,« sagte der Mann mit der Glatze. Um den Hals der dünnen Gestalt baumelte ein leuchtender blauer Stein. Der Rest des Körpers war in eine Art Toga aus grauem Stoff gewickelt. »Du wirst ihnen nicht mehr lange folgen können, Jean.«
Da existierte nur dieser dünne Mann, der anscheinend zu viel Radioaktivität abbekommen hatte und er selbst. Sie standen in einer Art Kanalschacht und die Schwärze lies einen nur in einige Meter Entfernung blicken.
»Aber ich muss mit ihnen gehen,« schrie Jean ihn an, »dies ist mein Leben! Die haben mich von der Straße aufgesammelt.«
Unter den eingefallenen Wangen bildete sich ein fahles Lachen, das trotz des abweisenden Ambientes sehr warm wirkte. »Ach Jean, erinnerst du dich denn gar nicht mehr an mich? Du warst damals so aufgeweckt und hoffnungsvoll.« In den braunen Augen des Mannes, die sich in ihrer Lebendigkeit scharf vom Rest seiner fast steinernen Gestalt abgrenzten, begann es aufzuglimmen.
»Nein! Du kennst mich nicht, Strahlenvieh!« Es machte Jean wütend, wenn man in seiner Vergangenheit stocherte. Er erinnerte sich an nichts vor seinem siebten Lebensjahr. Vor dem Jahr, in dem es passiert war. Und es war besser so. Das Militärwaisenhaus hatte aus ihm einen ausgezeichneten Menschen gemacht. Langsam verschwamm die Szenerie und das schraubende Geräusch der Rotoren kehrte mehr und mehr zu ihm zurück.
Die Anderen durften es nicht bemerken! Langsam öffnete er seine Augen und bemühte sich, nicht hektisch oder aufgeregt zu wirken. Das Glänzen in den Augen des Glatzköpfigen schienen noch immer auf ihm zu ruhen, als sei es ein Teil seiner selbst. Doch langsam vergaß er wieder, wurde wieder er. Jean versuchte ganz leise zu atmen, lies seinen Blick über das Meer an Geräuschlosigkeit schweifen und konzentrierte sich ganz auf das leise Pfeifen des Fahrtwindes in seinen Ohren. Hastig griff er nach dem kleinen quadratischen Gerät in seiner Tasche und starrte einige Sekunden regungslos auf das Display, bevor er den Geigerzähler einschaltete. Es war das neuste Modell – sehr genau und auch dazu fähig, bei starken Schwankungen einen passablen Wert zu ermitteln. Zwar hatte er damit gerechnet, doch das überraschend schnelle Knacken des kleinen Lautsprechers erschreckte ihn im ersten Moment. Auch die anderen Drei fuhren erschrocken hoch und blickten gebannt auf Jean, der die Nummern immer weiter anwachsen sah. Dann blieb der Zähler stehen und die Ziffern blinkten zwei Mal auf, um den Messwert auf dieser Höhe zu bestätigen. Es waren zweihundertsiebzehn Microroentgen; kein Grund zur Aufregung, aber dennoch ein Wert, der die gewöhnliche Höhe um das zwanzigfache überschritt – und das in der Luft! Um die neugierigen Blicke zu befriedigen, streckte Jean den Arm aus und zeigte das Messgerät den beiden, die ihm gegenüber saßen und auch seinem Nachbarn.
Der einzige, dessen Augen nicht einmal den Hauch eines Schreckens zeigten, war Michael. Man hatte den kräftig und groß gebauten Jungen mit seinen charismatischen fahlgrünen Augen zum Anführer ihres Teams gemacht. Sie alle absolvierten heute ihre Abschlussprüfung, um endlich in die Spezialeinheit aufgenommen zu werden. Jean war mit zwanzig Jahren bereits an der Altersgrenze, also würde das heute seine erste und einzige Chance sein, sich zu bewähren.
Michael fuhr sich mit den schlanken Fingern durch sein halblanges dunkelblondes Haar, das in der Dunkelheit wie wehendes ausgetrocknetes Gras wirkte. »Macht euch bloß nicht ins Hemd,« begann er, »zweihundert sind überhaupt nichts. Tausend Microroentgen sind ein Milliroentgen und eintausend davon ein Röntgen. Es brät einen erst bei fünfhundert Röntgen und dann auch nur, wenn man fünf Stunden drin bleibt.«
Michael drängte sich gern in den Mittelpunkt. Ihm war mit Sicherheit bewusst, dass die Einsatzleitung alles durch die Mikrophone, die sie bei sich trugen, mithörte – so wollte er wohl Extrapunkte kassieren. Dabei war das, was er gesagt hatte, bereits eine so verbreitete Information, dass es schon kleinen Kindern beigebracht wurde, die nur draußen spielen wollten. Trotzdem verschwendete Jean keinen Gedanken daran, sich über Michaels übertriebenen Ehrgeiz aufzuregen. Lieber sponn er in seiner Phantasie ein wenig weiter. Bei dem Anschlag auf die beiden Reaktoren im schwedischen Barsebäck waren vor zwölf Jahren bis zu fünfzigtausend Röntgen in der Nähe der Kraftwerke gemessen worden. Berichte von glühenden Gebäuden und ganzen leuchtenden Wäldern waren keine Seltenheit. Von den armen Schweinen, die es direkt gegrillt hatte einmal ganz zu schweigen.
Nur der Norden und ein wenig des Ostens Deutschlands hatten etwas abbekommen. Hamburg galt als relativ sicher, aber dennoch fiel es in die Sperrzone, die die neue Militärregierung der Deutschen Föderation direkt nach ihrem Putsch im Jahr zweitausend eingerichtet hatte. Jean war darüber geteilter Meinung. Einerseits hatte dies ein wenig Ordnung in den Staat gebracht, der seit der Katastrophe im Juni 98 in eine Art Anarchie verfallen war und durch die neue Führung wieder Ordnung erhielt, aber andererseits fehlte nun sogar eine Verfassung, deren alleinige Existenz nur noch als schwächliche Überflüssigkeit angesehen wurde. Jetzt waren es Generäle und Wirtschaftsbosse, die das Ruder in der Hand hielten.
Nachdenklich hielt Jean einen kleinen Teich, auf dessen Oberfläche das Mondlicht wie durch einen verschwommenen schwarzen Spiegel reflektiert wurde mit seinen Blicken fest. Die Sperrzone war das Gebiet, in das man Schwerverbrecher und Strahlungsopfer abschob. Es gab genau genommen viele Gründe, in die Sperrzone abgeschoben zu werden – von übertrieben schwachen Lernleistungen in der Schule bis zum Steuerbetrug; die Liste war endlos. Jedes Vergehen, was einen in die Sperrzone brachte, war gleichzeitig als schweres Verbrechen klassifiziert. Darüber gab es nur noch die Todesstrafe. Ob dies nicht eigentlich die gnädigere Variante war, konnte Jean noch nicht einschätzen – aber nach Allem was man so hörte, war er fast schon davon überzeugt.
Sein Herz schlug schneller, als die Bauwerke unter ihnen dichter wurden. Ganz vereinzelt sah man jetzt auch mal ein Licht durch die gesichtslose schwarz-graue Steinmasse scheinen. Die wenigen hellen Stellen in der Stadt wirkten wie Sterne, die hinter einem bedeckten Nachthimmel hervor schimmerten. »Sie belügen dich!« Der Gedanke raste wie ein unsichtbares Flüstern durch seinen Kopf, ehe Michaels Stimme es übertönend auflöste.
»Der erste muss gleich raus,« sagte er emotionslos. »Zielgebiet eins ist der ehemalige Stadtteil Steinwerder.« Er hatte sich in den empfohlenen geistigen Status bei einer Außenmission versetzt, wie er ihnen von den Ausbildern dargelegt worden war. Kein überflüssiges Wort sprechen, keine überflüssige Bewegung machen, keine überflüssige Emotion zulassen und keinen eigenen - also damit auch überflüssigen - Gedanken denken.
Man bemerkte ein kribbelndes Gefühl in der Magengegend, als der Helikopter die Flughöhe mehr und mehr verringerte. Je tiefer sie gingen, desto schneller huschten die vermeintlich verlassenen Blocks unter ihnen hindurch. Immer wieder wich der Pilot höheren Gebäuden aus, um die geringe Höhe halten zu können. Jean hatte davon erzählt bekommen, dass die Bewohner der Stadt dazu neigten, Flugobjekte abzuschießen, um deren Inhalt zu plündern. Je tiefer und schneller man also flog, desto schlechter war das Ziel, was man eventuellen Terroristen bot. Wie unter Hypnose verfolge Jean immer wieder einzelne schwarze Fenster in der grau braunen Betonmasse, als würde er mit jedem Blick ein unsichtbares Auge fixieren.
Plötzlich änderte sich das Geräusch der Rotoren und der Flug wurde abgebremst. Michael, der neben ihm saß, klopfte auf Jeans Schulter. »Du gehst,« hauchte seine schneidend flüsternde Stimme durch den verdunkelten Innenraum und Jean hechtete nach vorn, um im nächsten Moment aufzuspringen und sich an einem Bügel, der über der weit geöffneten Seitentür angebracht war festzuhalten. Als er in die Stille der Nacht hinein hörte, vernahm er hinter dem wehenden Höhenwind das rauschende Geräusch des Elbwassers. Summend bewegte sich das automatische Geschütz an der Unterseite des Hubschraubers, als dieser immer tiefer ging. Die Nase des Helikopters wurde nach oben gezogen, so dass er scheinbar in der Luft anhielt.
Jean blickte auf eine weitläufige Straße und eine dahinter gelegene Häuserfront, die auf etwas erhöhtem Terrain gebaut worden war. Die kalte Luft streifte Wangenknochen, als wollte sie ihm zeigen, wie unwillkommen er an diesem Ort war. Direkt unter ihm lag ein weitläufigerer Platz, auf dem mehrere einzelne Gebäude in die Höhe ragten. Über einem hielten sie schließlich komplett an, um im nächsten Moment in Landeposition zu gehen.
Nahezu lautlos sanken sie immer weiter hinab. Durch seine Konzentration hindurch bemerkte Jean, dass sein Herz stark gegen die Innenseite seines Brustkorbes trommelte und immer schneller pulsierendes Adrenalin in seine Venen jagte. Er würde auf das Dach des seltsamen Kuppelbaus springen müssen, dessen einst wohl dunkelgrün gefärbte Oberfläche die Gestalt von vermodertem Stein angenommen hatte. Hoffentlich würde es ihn halten.
Der einzige Weg, gegen seine Angst anzukämpfen, war das Aufsuchen eines dissoziativen Zustandes. Für ihn war das jedoch nie leicht gewesen. Eine neue Kette an Gedanken und Angstphantasien brach in seinem Kopf los, als die rote Signallampe über der Tür zu blinken begann, was bedeutete, dass man sich zum Absprung fertig machen musste. Sie hatten ihm so oft auf der Akademie eingetrichtert, wie man seine Gedanken und damit seine Angst ausschalten konnte. Seine Hand, die den kalten Metallbügel so fest umklammerte, dass es bereits schmerzte, begann plötzlich zu zittern, als das Licht auf grün umschaltete. Ohne sein Zutun löste sich der Griff und seine Beine verloren im nächsten Moment den Boden unter den Füßen. Für endlose Sekunden schien er in der schwarzen Luft zu schweben, ehe die Sohlen seiner Stiefel das Dach berührten und er sich kunstvoll abrollte. Die Oberfläche war ungewöhnlich rutschig und er drohte bereits daran abzugleiten, als Jean im nächsten Moment ein antennenartiges Gebilde zu fassen bekam. Aufgeregt atmete er aus und riss seinen Kopf gebannt nach oben, um die Luftwirbel der Rotoren im Gesicht zu spüren. Es verschaffte einem eine Art vergänglicher Erleichterung, wenn man in diesem geisterhaften Landstrich noch nicht ganz allein gelassen war. Beschützend prangte der Hubschrauber, von dem kein Geräusch auszugehen schien, über Jeans liegendem Körper. Im nächsten Moment drehte der tiefschwarze Stahlvogel jedoch ab, um schließlich der reißenden Elbe entgegen zu jagen. Als bald blieb nichts mehr von dem Schatten übrig, der sich kurz zuvor vor den klaren Nachthimmel geschoben hatte, aus dem jetzt tausende winziger Raubtieraugen gierig zu stieren schienen. Es kam ihm fast so vor, als sei er ein Stück rohes Fleisch, das man in einen Löwenkäfig geworfen hatte.
Nachdem er sich mühsam in eine sitzende Position auf dem leicht abschüssigen Dach gebracht hatte, stocherte Jean in den Brusttaschen der dünnen Lederjacke nach der Multifunktionsbrille, über die er das Briefing erhalten würde. Es war streng verboten, sie vor Einsatzbeginn aufzusetzen, aber es verschaffte einem um so mehr Erleichterung, wenn man endlich das Gerät, was oberflächlich einer Designersonnenbrille ähnelte, in Händen hielt. Wie bereits tausende Male geübt, faltete er die Bügel auseinander, schob sie über seine Ohren und bog im nächsten Moment die winzigen Kopfhörer an den Seiten hinab. Sein verdunkeltes Blickfeld schaltete von einer Sekunde auf die Andere in eine hellgrüne Landschaft um, auf der ihm nichts mehr entgehen sollte. Die Brille war Nachtsichtgerät und Wärmebildkamera in einem und verfügte außerdem über zahlreiche Kommunikationsmöglichkeiten. Es war ein intelligentes Anzeigegerät, welches nur Wärmespuren anzeigte, die ausschlaggebend waren. Und diese waren, entgegen aller Erwartungen, nicht zu knapp. Auf dem Platz wimmelte es nur so von roten und blauen Abdrücken, die zwar teils von Hunden oder anderem Getier, aber hauptsächlich von Menschen stammten, die hier erst vor sehr kurzer Zeit vorbei gekommen sein mussten. Es wirkte wie ein impressionistisches Gemälde, welches man mit Neonfarben rasch hin getupft hatte. Warum hatte man ihn auf einem verfluchten Dach aussteigen lassen, wo ihn jeder perfekt sehen konnte? »Nicht denken,« flüsterte er immer wieder in Gedanken zu sich. »Nicht denken, Jean!« Ihm schossen Bilder von Ameisen in den Kopf, die einen lästigen Käfer erledigten, der es gewagt hatte, sich in die Nähe ihres Baus zu begeben. Es war falsch, hier her gekommen zu sein.
Eine Stimme in seinen Ohren lies ihn abrupt hochfahren, ehe er erkannte, dass es aus seinen Kopfhörern stammte. Erleichtert lauschte er den Worten des Instruktionsoffiziers am anderen Ende der Leitung. »Willkommen zu ihrer Abschlussprüfung, Rekrut. Das Codewort für ihr Team heute Abend ist 'Odin'. Sie selbst erhalten die Kennung 'Rabe drei'.« Jean musste sich ein spontanes Lachen verkneifen. Wie einfallsreich sie doch waren – zu dumm, dass Odin eigentlich nur zwei Raben hatte. Die Stimme sprach in ruhigem Ton weiter: »Sie werden mich wie gewohnt mit Leutnant Hammerschmidt anreden. Kommen wir zu ihrem Auftrag. Sie tragen zwei Maschinenpistolen, eine schallgedämpfte halbautomatische Pistole, sowie eine japanische Nahkampfwaffe vom Typ zwei mit sich.« Jean tastete noch einmal über seinen Körper und ging alle aufgezählten Waffen durch, die sich an diversen Halterungen und Gurten befanden. Zuletzt griff er über seinen Kopf und tastete den Griff des Wakizashis – eines japanisches Kurzschwertes - auf seinem Rücken. »Bestätigen sie die Korrektheit bitte mit einem Nicken.«
Jean tat, wie ihm gehießen wurde und wurde sich erneut bewusst, dass die Einsatzzentrale nun auch durch seine Augen sah. Gebannt wartete er auf seine Anweisungen. Wenn man ihn derartig ausrüstete, würde es sicherlich keine einfache Aufklärungsmission werden. Die Anwesenheit Hammerschmidts beunruhigte ihn noch ein wenig mehr. Der Mann hatte sich durch zahlreiches entschlossenes und brutales Vorgehen gegen Ausbrecher aus der Sperrzone einen Namen gemacht. Man munkelte, dass er sogar seine eigenen Eltern verraten hatte, als diese einen Flüchtling in ihrem Haus versteckt hielten. Aber alles war besser, als auf diesem Dach herumzuliegen. Die dunkle Stimme setzte fort: »Ihre Mission besteht darin, einen verrückten und geisteskranken Psychopathen auszuschalten, der bereits mehrere Unternehmer Hamburgs auf dem gewissen hat. Die erwähnten Unternehmer beschäftigten sich vor allem mit der Nahrungsmittel- und Energieversorgung der Stadt und sorgen schon lange dafür, dass es den Bewohnern Hamburgs nicht so schlecht ergeht, wie denen der restlichen Sperrzone. Es wäre dumm von uns, wenn wir zulassen würden, dass diese Versuche der Neuzivilisierung durch einen zerstörerischen Irren zunichte gemacht werden. Er hat es sich anscheinend zum Ziel gesetzt, dazu beizutragen, dass statt dessen die steinzeitlichen Strukturen bestehen bleiben.«
Jean verstand das alles nicht. Diese gestörten Strahlenopfer machten sich gegenseitig das Leben schwer und bissen sogar in die Hand, die sie fütterte. Aber was sollte man von einem Haufen Abschaum erwarten, der aus der zivilisierten Gesellschaft abgeschoben worden war? Eine Gesellschaft aus Verbrechern funktionierte eben schlecht. Zumindest war es das, was sie einem in der Schule bei brachten. Fälle wie dieser waren in der Zone jedenfalls nicht selten. Jean verachtete diese verstrahlten Monster. Vielleicht war es über lange Zeit sogar besser, wenn man diese Irren einfach gewähren lies. Hammerschmidts Stimme wirkte wie eine väterliche Eingebung, die einen dazu drängte, dem alten Herren doch mal ein Bier aus dem Keller zu holen, als er Jean dazu anwies, die Zielperson zu töten. »Sie erkennen den Mann an einer roten Baseballjacke. Sein Verstrahlungsgrad liegt irgendwo zwischen 0,5 und 1,5. Sie können also mit einem Glatzkopf rechnen. Lassen sie sich von einer eventuellen Perücke jedoch nicht täuschen – im Zweifelsfall spielt es auch keine Rolle, ob sie einen in diesem Fall unschuldigen erschießen.« Eine kurze Pause folgte, in der der Leutnant wahrscheinlich noch einmal sein Kartenmaterial begutachtete. »Ihr Einsatzgebiet für heute Abend ist der ehemalige Stadtteil St.Pauli auf der anderen Seite der Elbe. Ein kleines Boot liegt Unweit von ihnen bei den Landungsbrücken. Es ist vollgetankt. Wir haben eine Attrappe einer automatischen Gatling auf dem Dach montiert, damit es die Einwohner nicht anrühren. Machen sie sich also keine Sorgen, wenn das Ding so aussieht, als würde es auf sie feuern wollen. Wenn sie St.Pauli erreicht haben, suchen sie einen Laden auf, den man 'den bunten Vogel' nennt. Ihre Gruppenmitlgieder werden noch drei andere Bars aufsuchen, in denen die Zielperson vermutet wird. Am Ende der Mission treffen sie sich selbstständig mit ihrem Gruppenleiter und begeben sich zur Landezone, die er ihnen nennen wird. Nicken sie, wenn sie alles verstanden haben.«
Jean kam nicht dazu, denn gerade, als Hammerschmitd die letzten beiden Worte aussprach, ertönte ein ohrenbetäubender Knall und unmittelbar rechts von ihm platzte der Stein des Daches auf, als eine Kugel darin einschlug. Von Schrecken erfüllt, zog Jean die Luft ein und versuchte sich, halb rennend, halb hilflos krabbelnd, auf die andere Seite des Daches zu begeben. Etwas heißes pfiff an seinem Kopf vorbei, als er die Spitze erreichte und der Reflex, in dem er den Kopf zur anderen Seite riss, lies ihn vollständig das Gleichgewicht verlieren. Mit den Armen rudernd, kippte er nach vorn über und konnte sich auf dem rutschigen Untergrund nicht mehr halten. Gerade als seine Beine in freie Luft glitten, konnten seine Finger einen spärlichen Halt an einer Ziegel finden. Es brauchte eine Weile, ehe Jean seine Lage verstand und vollständig realisierte, dass er in mehreren Metern Höhe an einer Dachkante hing. Hammerschmidts Stimme war wie eine dunkle kratzige Alarmsirene aus einem kaputten Lautsprecher.
»Notabstieg durchführen! Miniaturhaken über ihnen in Antenne einhängen.« Vertraute Emotionen wurden durch die Stimme geweckt. Jetzt war es auf einmal wieder eine Standardsituation, in der sich Jean befand. Rasch fand er die Antenne, von der der Leutnant sprach und riss den Haken, der mit einem dünnen aufgewickelten Stahlseil an seinem Gürtel verknüpft war, von seiner Taille.
Seine Hände führten die Aktionen von ganz allein aus, als er schließlich begann, sich von dem Dach abzuseilen. »Tempelritter im Anflug,« tönte es aus den Kopfhörern. »Auf Einschläge auf der anderen Seite des Platzes vorbereiten.«
Das tiefe Pulsieren seines Herzschlages wurde allmählich von ohrenbetäubenden Pfeiflauten übertönt. Der Luftraum über Hamburg war dicht von den Patrouillen der Kampfflugzeuge abgedeckt, aber es kam Jean spanisch vor, dass sie so schnell zur Stelle waren. Ganz so, als hätten sie auf etwas bestimmtes gewartet. Sowas wie einen Schuss, der ihnen ein exaktes Ziel bot. Bewusstlosigkeit ergriff von ihm Besitz, als die Bomben zerschmetternd einschlugen. Der Haken verlor seinen Halt und er fiel in eine gedankliche Schwärze.
Der Spannhebel des Gewehrs schnellte zurück und hallte dabei metallisch in der engen Gase nach. Michael ging hinter einem wuchtigen Müllcontainer in Deckung und richtete den Lauf des G-36 direkt auf die belebte Straße, von der er gekommen war. Der Weg zu seiner Position war auf dem Wärmebild mit hellroten Flecken gesprenkelt. »Scheiße,« flüsterte er, als seine Finger seinen Oberschenkel abtasteten und auf den Schaft eines kurzen Pfeils stießen. Es musste ein Armbrustbolzen sein.
Die Brille zeigte ihm die rote Schusslinie des Gewehrs an, die immer wieder zwischen den beiden Außenwänden der Gasse wanderte. Erst jetzt bemerkte er, wie stark er zitterte. Zwei in hellem Rot leuchtende Gestalten stürmten in die Gasse und Michaels Finger verkrampfte sich am Abzug. Das Gewehr stieß ein schnelles Donnern aus. In Sekundenschnelle gingen sie zu Boden und eine Lache aus warmem Blut begann sich sogleich auszubreiten. Beide waren unbewaffnet. Ein unerträglicher Moment der Stille folgte, in dem er nur den Geruch der abgefeuerten Kugeln und den aufsteigenden weißen Rauch aus der Patronenkammer wahrnahm. Etwas über ihm knarrte. Hektisch rissen seine klammernden Hände die Waffe hinauf und durchlöcherten damit das Glas eines Fensters. Und noch eines. Wieder und wieder drangen Außenstehende in die Gasse ein. Klirrend sprang immer mehr Glas und rieselte auf das nasse und verdreckte Pflaster hinab. Ein lebloser Körper glitt aus dem Fenster einer höheren Etage und traf mit dem Geräusch des Schlages einer blechernen Trommel auf den Müllcontainer. Es fühlte sich an, wie der blitzschnelle Biss einer Schlange, als ein weiterer Bolzen von hinten in Michaels rechten Arm stach. Verschreckt öffnete sich seine Hand und das Gewehr entglitt ihm.
Seine linke Hand tastete die Pistole an seinem Gürtel, als er nach mehrmaligem Versuchen aufgegeben hatte, den rechten Arm wieder zu bewegen. Die Mischung aus hellen Grün- und Rottönen verschwamm vor seinen Augen wie geschmackloses Discolicht. Die Bolzen waren unter Garantie mit Gift eingerieben. Schwer atmete Michael und beherrschte sich, die Besinnung nicht zu verlieren. Er würde den Märtyrerruf ausstoßen und Artilleriefeuer auf die eigene Position verlangen. Schritte, immer mehr Schritte! So nah, es war so verdammt nah! Als sein Gesicht mehr und mehr nach rechts fiel, durchfuhr ihn ein letzter Schock. Eine skurrile abgemagerte Gestalt von geringer Körpergröße stand direkt vor ihm und hielt ein Gebilde in ihren Händen, was viel zu groß für sie erschien. Auf der Wärmebildkamera zeichnete sie sich nur in hellem Orange und nicht in einem für Menschen normalen Rotton ab. Ihre Körpertemperatur musste deutlich geringer sein. Die Fratze mit dem kahlen Schädel blickte ihn hämisch Grinsend an, wie ein Goblin, der gerade erfolgreich ein Tier hinterrücks ermordet hatte. Michaels Stimmbänder waren gelähmt, als er das Kommando für die Artillerie geben wollte. Die Sehne der gespannten Armbrust schnellte nach vorn. Schlagartig verdunkelte sich die rechte Seite seines Blickfeldes, als Michael das Glas der Sonnenbrille knacken hörte. Wie ein erstickter Schrei setzte der Schmerz in seinem Kopf an, doch verklang er, ehe der junge Mann etwas spüren konnte.
Durch die dumpfe Dichte wattehafter Schwärze drang ein schriller Ton. Erst wie das Piepsen von Tausend verschiedenen Vogelstimmen und schließlich wie ein kontinuierlicher Pfeifton eines Gerätes, welches einen Herzstillstand anzeigte. Immer lauter und unerträglicher wurde es, bis es Jean schließlich in die Realität zurück riss. Gerade als er angesichts des Schmerzes in seinen Ohren aufschreien wollte, wurde das Signal gestoppt. »Herr Leutnant,« murmelte er, ohne überhaupt zu wissen, wie es mit seiner Rede weitergehen sollte. Er lag flach auf dem Rücken und blickte durch die grünliche Nachtsicht hindurch in die Sterne.
»Gut gemacht, Rabe drei. Dank ihres Einsatzes als Lockvogel konnten wir endlich einen gefürchteten Trupp von Tunnelräubern ausschalten.« Hammerschmidts Stimme klang fast ein wenig feierlich.
»Schön, dass ihr mich auch mal vorher gefragt habt,« dachte Jean und setzte sich auf. Seine Hände tasteten nach seinem Hinterkopf. Als er die mit Handschuhen bewährten Finger wieder nach vorn holte, waren sie auf der Kamera mit einer rot schimmernden Flüssigkeit benetzt. Sie hatten ihn belogen. Jeans Herz schlug noch eine Spur schneller. »Sie werden dich wieder belügen!« Die Stimme meldete sich, als hätte er sie gerufen. Was passierte nur mit ihm? Mit der flachen Hand schlug er gegen seine Stirn, was die Gedanken zu verscheuchen schien.
»Ist nicht schlimm,« sagte Jean und riss eine der Maschinenpistolen unter seiner Jacke hervor.
Unter einem erneuten Rumoren, dass von einem Blitz begleitet wurde, zuckte er zusammen. Es blendete derartig stark in seinen Augen, dass er sie erschrocken zukneifen musste. Eine Welle aus warmer Luft fegte über sein Gesicht. »Sattelitenbericht,« sagte er, während er blinzelnd versuchte, wieder erste Eindrücke auszumachen. Automatisiert spannte er die Waffe und entsicherte.
Es war ein wenig beunruhigend, dass Hammerschmidt so lange brauchte und Jean konnte von seinen ersten Worten an erahnen, das es nicht gut sein würde, was er zu sagen hatte. Normalerweise war der Einsatz derartig straff organisiert, dass er stets sofort antworten konnte. Wenn es also eine kleine Verzögerung gab, wusste man sofort, dass etwas nicht stimmte. Musternd nutzte Jean den Augenblick, um die Anzeigen auf dem Inneren der Brille zu begutachten. Links unten in seinem Blickfeld befanden sich kleine Balken, die den groben Status der anderem Teammitglieder anzeigten. Es waren nur zwei.
»Mit Michaels Statusanzeige stimmt was nicht,« sagte er schließlich.
Endlich kam die Antwort des Leutnants: »Jawohl, Rabe drei. Seine Anzeige ist ausgefallen; kein Grund zur Sorge. Die Explosion stammte von ihrem geplanten Transportmittel. Anscheinend haben die davon Wind bekommen, dass es uns gehört.«
Wieder begann Jeans Herz einen trommelnden Takt vorzulegen. »Und was jetzt? Holen sie mich mit dem Hubschrauber, oder soll ich schwimmen?«
Wenn man dumme Anspielungen machte, musste man sich darauf einstellen, von Hammerschmidt das gleiche zurück zu bekommen: »Noch besser – sie wühlen sich drunter durch! Das Gebäude, auf dem sie gelandet sind, ist der Eingang zum alten Elbtunnel, der Steinwerder mit St.Pauli verbindet. Verschaffen sie sich Zugang und begeben sie sich so schnell sie können durch die Röhre.«
Bei dem alleinigen Gedanken begannen Jeans Hände unter dem dünnen Leder zu schwitzen. »Ist dort unten mit Feindkontakt zu rechnen?,« fragte er.
Die Antwort des Leutnants kam schnell und niederschmetternd. »Jetzt hören sie endlich auf, sich in die Hosen zu machen, Rekrut! Wir können nicht in die Tunnel sehen, aber das spielt keine Rolle. Sie erfüllen ihre Pflicht und stellen gefälligst nicht indirekt Befehle in frage.«
Jean zog scharf die Luft ein, als er bemerkte, dass Hammerschmidt noch nicht fertig war. »Oh, und wenn sie sich nicht beeilen, kriegt sie der Trupp, der sich gerade von dem Schiffswrack in Richtung ihres Platzes bewegt. Vorsicht links.«
Seine Angst explodierte, als plötzlich eine Gestalt um die Hauswand hechtete. Während Jean aufsprang, richtete er die Waffe auf den kräftigen Mann. Dessen Kopf war vollständig frei von Haar und in seinen Händen hielt er eine massive Eisenstange. Verschreckt blieb er stehen, als er Jeans Waffe bemerkte. »Terminieren,« drang es aus den Kopfhörern. Man dachte nicht darüber nach, was der Instruktionsoffizier sagte.
Scheppernd schlug das Metallrohr auf dem Stein des Platzes auf, bevor der massige Körper zu Boden glitt. Mit fliegenden Blicken suchte Jean nach einer Fluchtmöglichkeit und schnell war ein Fenster gefunden, welches er mit einem schnellen gezielten Tritt zertrümmern konnte. Hastig stürzte er sich in den dunklen Spalt, ohne darüber nachzudenken, dass der Sattelit nicht in Gebäude spähen konnte. Ein Schwall aus Erleichterung durchfuhr ihn, als er in dem großen Raum niemanden bemerkte. Und dann herrschte wieder die Stille. Stille, die Platz für andere Dinge machte.
So sehr er es auch versuchte; es wollte ihm einfach nicht gelingen, mit den Schatten des Raumes eins zu werden. Obwohl er jede der dunklen Ecken mit Hilfe des Brille perfekt ausspähen konnte, fühlte er sich in der Dunkelheit blind. Es kam ihm vor, als würde er mit jedem Schritt in einen Haufen hell klingender Alarmglocken treten. Seine Finger streckten sich nach dem Treppengeländer aus, welches sich in die Tiefe schlängelte. Die ganze Zeit über musste er sich bemühen, nichts zu tun, was seine Angst verriet. Doch es war zwecklos. Die Kuppe seines Zeigefingers berührte den kalten Stahl, als er bereits Hammerschmidts Stimme in den Ohren spürte und erschrocken wieder los lies. Aber es war nicht der Leutnant. »Sie haben dich rein gelegt! Hüte dich!«
Diesmal wehrte sich Jean nicht gegen die Stimme. Nein, plötzlich hatte der seltsame Begleiter das Potenzial, beruhigend auf ihn zu wirken. Als sei da ein großer Bruder, der auf ihn aufpasste. Nur wo war Hammerschmidt in diesem Spiel angesiedelt? Und wer von beiden war die Illusion? Spielte das noch eine Rolle? Das letzte Gefühl für rationales Denken hatte sich mit dem Sturz von dem Gebäude aus Michaels Herzen verabschiedet. Wem konnte er nur vertrauen?
»Zweite Maschinenpistole fertig laden!« Der Befehl kam so überraschend, dass Jean unter den Worten zusammen fuhr. Jetzt hatte er wohl die traurige Gewissheit erlangt, dass Hammerschmidt sehr wohl wusste, was ihn hier unten erwartete. Nur wie konnte das sein? Man hatte ihn doch in seinem Leben niemals so an der Nase herum geführt. Sie hatten doch die ganze Zeit über väterlich auf ihn aufgepasst. Nein, der Leutnant würde ihn hier raus holen, dessen war er sicher. Wahrscheinlich war es nur eine Vorsichtsmaßnahme. Die beiden Waffen nach vorn Gerichtet, folgte Jean mit langsamen Schritten dem Verlauf der Röhre. Jede seiner Bewegungen schien ein meilenweites Echo zu verursachen. Ein entferntes Rauschen verkündete, dass hier irgendwo Wasser fließen musste. Aber das war doch unmöglich! Die beiden roten Linien, die aus den Läufen seiner Waffen entsprangen und sich in die Unendlichkeit fortpflanzten, gaben ihm zumindest ein kleines Gefühl von Sicherheit.
Es befand sich niemand hier unten. Wahrscheinlich würde er gleich das Ende der Röhre erblicken und wäre raus aus diesem elenden Schacht. Aber etwas hier war seltsam. Erst bei genauerem Hinsehen fiel ihm auf, dass der Tunnel eine sichtbare Linkskurve machte. Das ergab alles keinen Sinn. Wieso gab es hier nicht mal ein paar Penner, wo man doch so leichten Zugang zu diesem Bauwerk hatte? Besorgt schaute er auf die schon seit Ewigkeiten erloschenen Lampen an der Decke des Tunnels. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sich das Design der Röhre sehr von dem unterschied, welches noch vor 5 Minuten vorgeherrscht hatte. Die Erklärung kam schneller, als er es realisieren konnte.
Zwei markerschütternde Schläge, die den Boden zum Beben brachten, ließen Jean das Gleichgewicht verlieren und er konnte sich nur noch gerade so auf den Beinen halten. Eine Stahlwand war vor ihm aus der Tunneldecke geschossen und hatte den Weg versperrt. Verschreckt fuhr er auf dem Absatz herum; nur um zu entdecken, dass in einigen Metern Entfernung eine zweite Barriere ausgefahren worden war. Links und rechts von ihm führte es dagegen weiter in die Dunkelheit. Der neue Tunnel, der sich aufgetan hatte, war lediglich grob mit Beton verputzt und erinnerte nur noch entfernt an den alten Elbtunnel. Das schneidende Gefühl von Gefahr lag in der scheinbar elektrisch aufgeladenen Luft. »Herr Leutnant, erbitte Instruktionen.« Seine Stimme bebte und zitterte, als brächte sein pochender Herzschlag ebenfalls die Stimmbänder in Schwingung. Und dann kam die Panik. »Herr Leutnant! Helfen sie mir!,« schrie Jean. »Hilfe!«
Aus den Kopfhörern drangen klingelnde Warnlaute. Man hatte nicht vor, ihm zu helfen. Eine blaue Schrift blinkte vor seinen Augen auf. Oben in der Tunneldecke ertönte ein Knacken, doch als Jean die Maschinenpistolen darauf richtete, erkannte er nur den gewöhnlichen Beton. Sie mussten das Ding in die Decke eingebaut haben. »EMP-Warning – take cover!« leuchtete in immer schnellerer Folge vor seinem Sichtfeld auf und die Warntöne verwandelten sich langsam in einen konstanten Pfeiflaut. Wo sollte er sich denn verstecken? Er war wie die Beute eines Delphins, die von den mächtigen ausgestoßenen Schallwellen paralysiert wurde. Unfähig zu einer Handlung streckte er beide Waffen in die verschiedenen Richtungen des Tunnels aus. Und dann geschah es.
Das Display der Brille leuchtete für einige Sekundenbruchteile in blendendem Weiß auf, bevor alle Warntöne und Anzeigen abrupt verstummten und erloschen. Der elektromagnetische Puls hatte das Gerät irreversibel lahm gelegt. Alle Elektronik an seinem Körper war dahin.
Das schnelle flache Atmen aus Jeans weit geöffnetem Mund hauchte durch die absolute Dunkelheit. Seine ausgestreckten Arme verkrampften sich. Gleich würde er die Beherrschung verlieren. Gleich würde es vorbei sein. Die Angst würde ihn übermannen und seine Gedanken ausschalten. Er würde dissoziieren und in den unterbewussten Kampfzustand wechseln, den man ihm auf der Akademie ins Hirn gebrannt hatte. Man schaltete dann komplett aus und erwachte erst wieder, wenn alles passiert war. Das Unterbewusstsein konnte auf die Bedingungen besser reagieren, als ein emotional verklärter Wachzustand. Man schaltete aus und wenn das Licht wieder anging, würde alles in Ordnung sein. Warum hatte er nur das Gefühl, dass es dieses Mal nicht so funktionieren würde? Ja, warum war er sich so sicher, dass die Kampfroutinen des Militärs hiermit nicht fertig wurden?
»Renn!« Die Stimme hallte durch die Gänge, als sei die glatzköpfige Gestalt tatsächlich in der Nähe. Verzweifelt klammerte sich Jean an den Strohhalm.
»Wohin?,« presste er heraus. Alles was er noch wahrnahm, war die majestätische Stille und der Geruch nasser Erde.
Erneut meldete ich der Begleiter. »Rechts! Lauf nach rechts! Und komm nicht auf die Idee zu schießen«
Für eine Sekunde drohte Jean erneut in den verkrampften Zustand zu verfallen, als er Anhand der allgegenwärtigen Schwärze nicht mehr sagen konnte, wo rechts oder links war. Unter Hinzunahme aller Erinnerungseindrücke, stellte er sich das letzte Bild vor, dass er von dem Tunnel hatte. Als das Getrappel vieler Füße in einiger Entfernung links von ihm aus der Dunkelheit drang, sprühte ein gewaltiger Strom aus Adrenalin in seinem Bauch los und durchzuckte all seine Glieder. Nur noch von dem Instinkt zu überleben getrieben, hechtete er in die Dunkelheit. Die Schritte hatten sich angehört, wie die eines Hundes. Das dumme war, dass man nicht exakt sagen konnte, wie groß das sein würde, was ihn erwartete, aber Jean war nicht scharf darauf, es auf eine Antwort anzulegen. Seine Hände umklammerten die Griffe der Maschinenpistolen.
»Nicht schießen!,« mahnte die Stimme erneut. »Sie haben hier Fallen installiert. In der Luft sind Gase, die sich entzünden, wenn du schießt!«
Wieder und Wieder stieß er links und rechts gegen die Außenwände des Tunnels, während er seinen mittlerweile von brennendem Schmerz erfüllten Beinen immer neue Höchstleistungen abverlangte. Wie weit musste dieses unterirdische Netz sein, was man hier nachträglich gegraben hatte? Befand er sich überhaupt noch unter der Elbe? Die Schritte waren zwar noch nicht ganz an ihn heran gekommen, doch man hörte sie mittlerweile sogar, wenn man sich im vollen Lauf befand. Noch einmal wollte er sich dazu antreiben, alles aus den erschöpften Muskeln herauszuholen, doch sein Lauf wurde abrupt von einem Hindernis gebremst. Der Gedanke, dass er in etwas Lebendes gelaufen war, ließ ihn vor Angst fast die Besinnung verlieren. Aber es bestätigte sich nicht, denn die ebene Oberfläche klassifizierte die Barriere eindeutig. »Nur eine Wand, eine Wand und nichts weiter,« versuchte er sich zu beruhigen. Seine Hände richteten die Pistolen auf die Dunkelheit hinter ihm.
»Steck sie ein und lauf nach links! Pack die Pistolen weg, oder du wirst hier heute sterben!«
Nach zwei tiefen Atemzügen folgte er den Anweisungen und spurtete weiter. Es würde nicht mehr lange dauern, bis man ihn eingeholt hatte.
Die Stimme meldete sich erneut: »Lass die Finger auch von deinem Schwert. Es wird dir gegen zwei mutierte Rottweiler und einen Wolfshund in der Dunkelheit wenig Nutzen bringen. An der nächsten Biegung noch einmal links.«
Kurz nachdem es die Stimme ausgesprochen hatte, war er auch schon in die nächste Wand gerannt. Als seine Nase erneut auf den Beton schlug, bemerkte er, dass sich bereits der metallische Geschmack von Blut in seinem Mund ausgebreitet hatte. Er biss die Zähne aufeinander, um den explodierenden Schmerz und die nahende Bewusstlosigkeit zu unterdrücken und rannte weiter.
Seine Schritte wurden nun von einigen platschenden Lauten begleitet, als befänden sich Pfützen auf dem Boden. Auch wurde das solide Gefühl unter den Sohlen immer mehr getrübt, als sich der Untergrund in eine matschige Oberfläche wandelte. Schließlich bemerkte er, dass er plötzlich knöcheltief im Wasser stand. Der nächste Schritt, der ihn bis zur Hüfte in der eiskalten Flüssigkeit versinken lies, erschrak ihn so sehr, dass er vorerst in seinen Bewegungen inne hielt.
Die Stimme lies nicht lange auf sich warten. »Weiter, weiter! Schwimm!,« trieb sie ihn an.
Jean wollte spontan einen Protest einlegen, da ihm das Gefühl, in absoluter Dunkelheit durch einen Schacht zu schwimmen, ziemlich entsagte. Doch dann erkannte er den Sinn hinter der Aktion, als er sich vergegenwärtigte, welche Wirkung Wasser auf seine Fährte haben würde, der die Hunde folgten. Außerdem konnten Menschen wohl immerhin schneller schwimmen als die Vierbeiner – zumindest wenn die Tiere keine Schwimmhäute oder Flossen durch ihre Mutationen erhalten hatten.
Während er schwamm, schien sich der Weg stärker zu verzweigen und die Stimme dirigierte ihn in immer schnellerer Folge. Mittlerweile machte er sich keine Gedanken mehr darüber, dass er einer Halluzination sein Leben anvertraute. Er verschob diese Überlegung irgendwo in die ferne Zukunft. Als er sich an den Außenwänden entlang tastete, bemerkte Jean, dass sich die Oberfläche erneut gewandelt hatte. Es waren eindeutig Mauersteine, die er spürte. Die Vorstellung lag nahe, dass er sich in einem alten Kanalsystem befand. Sie mussten durch Durchbrüche und Bauten ein ganz neues Unterreich in der Stadt erschaffen haben. Still hoffte er, bald aus dem kalten Wasser zu entfliehen, welches seine Kleidung nicht nur aufgeweicht, sondern scheinbar auch noch in ein Bündel Eis verwandelt hatte.
»Halte dich an der rechten Seite des Kanals und lass dich dann treiben. Von hier aus kommst du erst einmal allein weiter, aber wir sehen uns gleich noch.« Jean verstand das alles nicht, aber dennoch blieb ihm nichts anderes übrig, als den Anweisungen zu folgen. 'Wir sehen uns gleich noch' – was wollte die Stimme nur damit sagen? Jedenfalls vermittelte es ihm ein kleines Gefühl von Erleichterung. Zumindest einer hier schien die Situation im Griff zu haben und ihn nicht in den Tod schicken zu wollen.
Mit einem weiteren Zug veränderte sich plötzlich die Temperatur des Wassers. Im Vergleich zum vorher erlebten wirkte es fast angenehm warm, aber dennoch konnte sich Jean schönere Plätze als diesen vorstellen. Hinzu kam eine Strömung, die ihn erst sanft ergriff, nach einiger Zeit jedoch reißend hinfort zu spülen schien. Sein Begleiter hatte ihm gesagt, er solle sich treiben lassen. Jean musste sich beherrschen, nicht wieder von der Angst betäubt zu werden und redete sich immer wieder ein, dass alles in Ordnung war.
Was tat er nur hier? Noch vor einer Woche hatte er friedlich seine Ausbildung fortgesetzt, war mit einigen Kameraden aus dem Heim ausgebrochen, um das Nachtleben Frankfurts zu erkunden. So frei war er gewesen und so groß die Visionen in seinem Kopf. Eine Offozierskarriere hatte ihm gewunken. Man war sich so wichtig vorgekommen – so voller Potenzial. Und jetzt spülten einen die Leute, denen man ein Leben lang vertraut hatte, in der Kanalisation Hamburgs herunter, ohne mit der Wimper zu zucken.
Fast hätte er vor Freude einen kleinen Schrei ausgestoßen, als er bemerkte, dass er plötzlich einige schemenhafte Umrisse des Kanals um ihn herum erkannte. Hier musste irgendwo Licht sein! Erst jetzt fiel ihm auf, welche Geschwindigkeit er mittlerweile drauf hatte und dass etwas Besorgniserregendes unmittelbar bevor stand: Die rostigen Stäbe eines Stahlgitters grinsten ihm entgegen und fachten einige Phantasien in Jean an, in denen gezeigt wurde, was das Metall aus seinen Oberschenkelhälsen und Rippen machen würde, wenn er seine Fahrt nicht bremsen könnte. Von seinem angeschlagenen Nasenbein einmal ganz zu schweigen.
Bevor er sich vollends dem resignierenden Fluchen hingeben konnte, stach ihm eine schlanke Leiter am rechten Rand des Kanals ins Auge, die er um ein Haar übersehen hätte. Er betete darum, dass seine eingefrorenen Finger nicht zu kraftlos oder zu rutschig sein würden, um einen Halt zu finden und griff schließlich entschlossen zu.
Wie ein Hund, der sich getreten und misshandelt in eine Zimmerecke verkroch, kletterte Jean einige der Sprossen hinauf und kauerte sich schließlich auf der Leiter zusammen. Mit dem linken Arm umfasste er einen der Stäbe und hielt das Handgelenk mit den Fingern der rechten Hand fest umschlossen. Tief atmend lies er sich hängen und schloss seine Augen. Wie sollte es nur mit ihm weitergehen? Wenn er zurück an die Oberfläche fand – was würde mit ihm passieren? Wahrscheinlich galt er bereits offiziell als gefallen oder verschollen. Das Rauschen des strömenden Wassers unter ihm drohte ihn einzuschläfern, also beschloss Jean, den Rest der Leiter zu bewältigen, um den Versuch zu starten, den Deckel an der Oberseite aufzuhebeln.
Als er den flachen Zylinder aus rostigem Eisen genauer musterte, fiel ihm auf, dass er wohl nachträglich eingebaut worden war. Die Verarbeitung war nicht gut und man sah bereits viele Verschleißstellen. Entweder neu eingebaut, oder aber Steinalt. Was Jean jedenfalls erfreute, war die Tatsache, dass er spielend leicht geöffnet werden konnte.
Die umliegenden Stimmen, die er vorerst nur als die Wirren seines angeschlagenen Gemütes abstempelte, entpuppten sich überraschend als real. Jean spähte nicht, wie er hoffnungsvoll erwartet hatte, in einen weiten Sternenhimmel, sondern nur auf eine ungefähr fünf meter hohe Höhlendecke. Der Raum, in den er durch den Kanal geraten war, ähnelte einer unterirdischen Halle. Das fahle orangefarbene Licht einiger Fackeln erleuchtete die Umgebung und schattenhafte Menschliche Gestalten huschten durch das Zwielicht. Jean schob mit einem seiner Füße den Kanaldeckel wieder auf die runde Öffnung und versiegelte so den Eingang. Hoffentlich würden sie ihn einfach nicht bemerken. Ja, er würde hier einfach locker durch spazieren, als sei er niemand von Bedeutung. Aber ganz so einfach war es nicht.
»Was haben wir denn da?,« spöttelte eine gönnerhafte Stimme hinter ihm, die Jean sofort dazu veranlasste herumzufahren. »Da hat einer doch tatsächlich das Labyrinth bezwungen und ist noch nicht mal auf den Trick mit dem Gas reingefallen.« Der Mann, dem die Stimme gehörte, war von kleinem Wuchs und zahlreiche Narben zogen sich über sein aufgequollenes Gesicht. Haare hatte er nicht mehr.
Das Gefühl von Angst machte in Jeans Geist langsam Platz für Wut. Die alten Routinen des Militärs griffen wieder. All die Propagandafilme und die Drills der Ausbilder bauten sich in ihm auf, um sich abrupt zu entladen. »Oh ja, Strahlenvieh, ich habe es bis in eure kleine stinkende Halle geschafft und wenn du jetzt nicht deine angegammelte Zunge besser kontrollierst, jage ich euch allen eine Ladung heißes Blei in die verseuchten Ärsche.« Mit diesen Worten zog er eine der Maschinenpistolen unter seiner Jacke hervor und riss das Wakizashi aus der Scheide. Am Lauf der Waffe befand sich noch ein wenig Wasser, welches jetzt hörbar auf den steinernen Boden tropfte. Alle Anwesenden waren abrupt verstummt.
Ein schiefes Lachen verzerrte das Gesicht des kleinen Mannes. »Strahlenvieh nennt ihr uns also. Wenn dieses Wort nicht bereits so gebräuchlich wäre, würde ich es glatt als eine Beleidigung sehen und mich verletzt fühlen. Aber statt dessen ... « Er ging einige Schritte zur Seite und hob seine Hände in die Höhe, »werde ich euch kurz sagen, dass ihr euch soeben mit einem der gefürchtetsten Untergrundpiraten der Südgrüne angelegt habt – bevor ich euch exekutieren lasse und mich an dem teuren Equipment labe, welches ihr mir freundlicher Weise direkt vor die Nase getragen habt.«
»Es ist so rührend, wie ihr faulenden Mutanten euer kleines Niemandsland in Staaten aufteilt. Südgrüne nennt ihr das? Wahrscheinlich wegen des grünen Schimmels, der sich in euren Augenhöhlen bildet.« Jean grinste überlegen.
Sein gegenüber entsprach so genau dem stereotypen Bild des vertrahlten Zonenbewohners, dass er ihn einfach nicht ernst nehmen konnte. Und so bemerkte er auch erst sehr spät, dass sich bereits ein Kreis aus zwielichtigen Gestalten um ihn herum gebildet hatte. Nervös suchten seine Pupillen nach potenziellen Angreifern und guten Zielen. Nach und nach wurde erkennbar, dass die meisten der Anrückenden Gestalten grobe metallische Waffen in ihren Händen hielten. Als er schließlich eine Schusswaffe erkannte, konnte er seine Nervosität nicht mehr verbergen und begann schneller zu Atmen.
»Schlagfertig, auch wenn ihm der Tod von allen Seiten her zu Leibe rückt. Ja, das passt zu euch Freifliegern. Und jetzt quält mich nicht länger mit eurem Anblick!« Der Kopf des Piraten führte ein kaum sichtbares Nicken aus, bevor die Waffen auf allen Seiten nach oben gerissen wurden. Kampfschreie, deren Echos lautstark zurück geworfen wurden gellten durch die Halle.
Jeans Herz schien sich vor Angst fast zu verkrampfen und wieder kam er immer näher an den dissoziativen Zustand. Diesmal würde er es geschehen lassen – nein, es würde geschehen, ohne dass er etwas tat. Er bemerkte zunehmend, wie der Gedankenstrom gegen Dämme lief und ausgebremst wurde. Wie zuerst seine Angst verschwand und dann sein Körpergefühl. Wie schließlich auch die Farben vor seinen Augen ermatteten. Und dann kam der Schuss. Von irgendwo her kam der Schuss.
Reflexartig wich sein Körper zur Seite und der letzte Eindruck, den Jean auffing, war der eines fliegenden Projektils, welches knapp an seinem Kinn vorbei raste. Danach nur noch Schwärze.
Etwas an dem Zustand war neu. Im Normalfall bekam man von dem, was während der Phase geschah, nichts mit, doch dieses Mal blieb ein Stück des Bewusstseins fernab der gedanklichen Realität erhalten. Szenen und Bildfetzen, die jeden von Jeans Träumen in ihrer Klarheit übertrafen, strömten an ihm vorbei.
Ein Rauschen, das zuerst an einen kühlen Meereswind erinnerte, wandelte sich in das Hintergrundgeräusch eines Funkspruchs. Schließlich gesellte sich auch eine Stimme dazu. »Hier Tempelritter sieben – habe wie befohlen die Bomben abgeworfen. Rekrut Jean Noir noch nicht terminiert.«
Die Umgebung war auf eine Reihe an Monitoren beschränkt, vor denen verschiedene Offiziere saßen. Der Fokus näherte sich immer mehr dem Mann, den Jean als Leutnant Hammerschmidt identifizierte. Er setzte einen neuen Funkspruch ab. »Oberst Zinker, hier Hammerschmidt. Der Rekrut hat wie erwartet die Situation überstanden. Ich starte den nächsten Test und schicke ihn in die Tunnel. Jetzt können wir ihn gleich doppelt als Aufklärer einsetzen. Wollen Mal sehen, wie weit er kommt und wie viele er erwischt, bevor er drauf geht.«
Einige Schalter auf dem Bedienungspult wurden gedrückt. »Sprengung an den Landungsbrücken wird ausgeführt! Bin mal gespannt, ob es wahr ist, was man so über die Piraten in den Tunneln hört.«
Auf dem Sattelitenbild, welches über den Monitor flimmerte, erhellte eine Feuerkugel das anvisierte Territorium. Hammerschmidt begann erneut das Funkgerät zu benutzen.
»Gut gemacht, Rabe drei. Dank ihres ... « An dieser Stelle brach die Szene ab.
Dieses Mal gab es keinen Übergang – schlagartig wechselte die Umgebung wieder auf schwarz. Und da war diese Präsenz, die Jean so bekannt vor kam.
»Du siehst, dass sie dich belogen haben. Aber zum Glück lebst du.« Jetzt klang jedes Wort noch ein wenig fürsorglicher. Man bemerkte, dass der, dem die Stimme gehörte, wahrlich von Sorge zerrüttet war. Jean hegte keinen Groll mehr gegen ihn.
»Und wer bist du?«
Das Geräusch eines Glockenspiels schien Jeans Aufregung in Bruchteilen von Sekunden hinweg zu fegen. Die hellen Laute waren so fremd und doch so vertraut. Die hölzernen Gitter eines Kinderbettes lösten sich aus dem nichts und damit beginnend schien ein Licht die gesamte Szenerie aufzuhellen. Jean blickte auf das Bild eines Clowns, welches an der blau-weißen Tapete angebracht war. Die bunte Gestalt war im Begriff von ihrem Einrad zu fallen, was ihn derartig amüsierte, dass es ihm beinahe seltsam vor kam. Und dann blickte er in das Bett hinein.
Das Baby schlief unruhig und schlug ein wenig mit den kleinen Armen, als würde es im nächsten Moment aufwachen. Trotzdem lag nur tiefster Friede in den Bildern. Jean wollte – nein, das war Schwachsinn. Aber es war bereits geschehen. Die großen Augen öffneten sich und starrten ihn mit Faszination an. In Jeans Gesicht lag der gleiche Ausdruck – denn es waren seine eigenen Augen, die er sah.
Die Szene sprang abrupt um und er fand sich im Kinderbett liegend wieder. Er hatte in die Gestalt des Babys gewechselt. Einen Moment lang war er damit beschäftigt, die erschlagende Müdigkeit abzuschütteln, bis er sich schließlich auf den Bauch drehte und mit den Armen in eine Position stützte, die zum krabbeln geeignet war. Unverständliche Worte drangen von rechts an ihn heran. Er wendete den für seine Verhältnisse viel zu großen Kopf um und konnte sich nicht verkneifen, ein quietschendes Lachen auszustoßen.
Ein junger Mann von ungefähr siebzehn Jahren saß neben dem Bett und lächelte warm. Seine Augen ähnelten denen des Babys sehr. »Albert, mein Bruder,« wollte Jean sagen, doch sein Mund gab nur plappernde Laute frei, als seien seine Stimmbänder gelähmt – oder noch nicht trainiert genug. In die dunklen Pupillen des Jungen stahl sich ein seltsames Glimmen, an welches Jean sich nun sehr genau erinnerte.
Abermals veränderte sich seine Gestalt und auch die Umgebung. Abrupt schien das Licht auszugehen. Die hölzernen Stäbe wandelten sich in rostiges Metall und wurden so hoch, dass sie sich im Nichts verloren. Jean selbst wuchs wieder auf seine normale Größe und Form an. Es war keine Verwandlung, sondern eher eine Entwicklung, die er dabei durchmachte. Ganz so wie sein Bruder auf der anderen Seite des Gitters, welches noch immer höher zu werden schien.
Seine schlabberigen Jeans und der rote Pullover wurden zu einem Stück grauen Stoffs, seine Wangen fielen ein und schließlich verringerten sich die Haare auf dem Kopf - bis sie schließlich ganz weg waren.
»Du bist mein ... « Jean begann abgehackt zu sprechen, wurde jedoch sofort von seinem Gegenüber unterbrochen.
Der blaue Edelstein, der um seinen Hals baumelte, schien noch ein wenig intensiver zu glühen. »Ja, Jean, ich bin dein Bruder. Ich habe dich damals aus der Sperrzone schmuggeln können. Der Rest von unserer Familie hatte kein so großes Glück – wir wurden alle auf der Flucht erwischt. Mich hat man zum Glück leben lassen, aber die anderen ... sie sind alle tot.«
Aufgebracht packte Jean an die Gitter. »Das ist nicht ... « Als seine Finger das Metall umklammerten, sprühten Funken von den Stäben auf und ein Strom heißer Energie durchfuhr ihn. Erschrocken ließ er los. »Aber, aber meine Eltern kamen doch aus Frankreich,« stammelte er schließlich.
Ein kleines Lächeln huschte über das Gesicht seines Bruders. »Sicherlich – und die haben auch gedacht, dass du in den Tunneln überlebst - ganz bestimmt. Erkenne doch endlich die Lügen, die sie dir auftischen, Jean!« Melancholisch kippte der glatzköpfige Schädel ein wenig nach links. »Oder sollte ich lieber Jan zu dir sagen? Jan Schwartz?«
Schäumende Wut keimte in ihm auf, doch schließlich beruhigte er sich. Ganz so wie sein Bruder setzte er sich in den Schneidersitz. Er blickte noch tiefer in die dunklen Augen. Keine Lügen – es waren keine Lügen. Ob es aus Freude, oder aus Angst vor der Zukunft war, konnte er nicht mehr sagen, als er begann zu weinen. »Albert – mich hat ewig lange niemand mehr so genannt,« sagte Jan.
Als es abermals vollständig dunkel wurde, wusste Jan, dass der dissoziative Zustand aufhörte. Üblich war es, wenn man sofort wieder in die Realität sprang, aber dieses Mal kamen die Eindrücke langsam zurück.
Ein ersticktes Stöhnen fuhr durch die Dunkelheit und mehrere hämmernde Schüsse wurden abgefeuert. Abrupt kehrte seine Sicht zurück und er wäre fast erschrocken nach hinten gestolpert, als er vor sich blickte. Die Klinge des Wakizashis steckte im Hals des Piratenanführers und die Maschinenpistole hatte sein Gesicht bereits in eine breiartige Masse verwandelt. Ruckartig drehte Jan die Klinge und riss sie seitlich aus dem Hals heraus. In der Bewegung wendete er sich ab. Die Stille kehrte zu ihm zurück, als der kniende Körper zur Seite kippte und regungslos liegen blieb. Die Tunnel schienen verstummt, die Gefahr zumindest jetzt meilenweit entfernt. Routiniert schlug er das Blut von der Klinge ab und steckte sie wieder ein, bevor er sich auf Verletzungen untersuchte.
Ein Streifschuss hatte den Ärmel seiner Jacke zerfetzt, aber sonst war er gänzlich unversehrt. Gespenstisch erschienen die Leichen um ihn herum, deren hohe Anzahl ihn überraschte. Ganz so viele hatte er vorhin nicht gezählt, aber es mussten mindestens an die dreißig sein, die mit durschossenen und aufgeschlitzten Körpern auf dem schmutzigen Stein lagen.
»Was tue ich denn jetzt,« flüsterte Jan und holte den Geigerzähler aus seiner Innentasche. Eine Messung war niemals verkehrt, wenn man über die nächsten Schritte nachdachte. Erst jetzt bemerkte er, wie sehr die Aktion wohl an ihm gezehrt haben musste. Erschöpft sank er in die Knie und starrte auf das Display.
War er durchgedreht? Radioaktivität neigte dazu, die Sinne zu verwirren, wenn sie überdurchschnittlich hoch war. Man bekam auch Halluzinationen davon – das musste es sein! Aber konnte all dies eine Halluzination gewesen sein? Ein Hirngespinst führte einen jedenfalls nicht aus einem Tunnellabyrinth heraus.
Das Knacken des Lautsprechers hallte an den Wänden nach. Hier ruhte die Erklärung nicht, denn die Messung schwankte zwischen dreihundert und vierhundert Microröntgen – zwar ungewöhnlich hoch, aber noch in keinster Weise gefährlich. Seltsamer Weise wollte sich die Skala aber einfach nicht auf einen Wert einpendeln. Plötzlich wuchsen die Zahlen sprunghaft an. Fünfhundert, Sechshundert. Das Knacken des Lautsprechers erreichte eine Frequenz, die nur noch als monotones Geräusch durch ging. Siebenhundert, Achthundert. Von Angst erfüllt umklammerte Jan noch einmal sein Wakizashi, als kündete das Anwachsen einen schleichenden Angreifer an. Tausendeinhundert, Tausendzweihundert.
Jan zuckte zusammen, als die Stimme Alberts zu ihm sprach. »Hab keine Angst. Wir bedienen uns des Weltensturmes, um die besonderen Fähigkeiten in den Menschen zu wecken. Deshalb kannst du mich hören. Und deshalb hast du auch sehen können, was die Gedankenstille für Möglichkeiten bietet. Aber jetzt geht mir die Kraft aus, mein Bruder. Führe einfach deinen Auftrag zu ende – alles wird richtig kommen. Begib dich zu den brennenden Gräbern, wenn du bereit bist – ich werde dort auf dich warten.«
Siebenhundert, fünfhundert, dreihundert, einhundert, fünfzig, neununddreißig. Jan schüttelte seinen Kopf, als verweigerte er, was er gerade erfahren hatte. Man konnte Radioaktivität doch nicht so benutzen! Was war sein Bruder für ein Mensch geworden? Und was hatte sein Geist nur in ihm getan? Zu was war ein Mensch nur fähig? Er würde seinen Bruder suchen und fragen müssen. Das alles war so seltsam neu. Und so erschlagend, dass man nicht wusste, wo man beginnen sollte. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn er im nächsten Moment irgendwo aufgewacht wäre. Bis dahin würde er diesen Albtraum aber noch durchstehen müssen.
Zuerst einmal würde er das tun, was sein Bruder gesagt hatte, auch wenn er nicht wusste, wie er - angesichts der Tatsache, dass man ihn um ein Haar in den Kanälen verheizt hätte, nur um sicher zu gehen, dass es hier wirklich ein Bande von Piraten gab - noch seinen Auftrag ausführen sollte. Man würde ihn doch mit Sicherheit direkt ins nächste Messer schicken und wenn er heute nicht starb, dann gewiss beim nächsten Einsatz. Es ergab jetzt alles Sinn – da waren zu viele Anwärter auf Offiziersposten und man musste einfach spekulieren, dass einige bei den Prüfungen drauf gingen – oder man musste nachhelfen. Ersteres wusste er, aber dass sie zu zweitem fähig wären, hätte er nicht gedacht. Man wollte ihn wohl los werden, weil er zum einen eine dunkle Vergangenheit hatte und zum Anderen schon an der Altersgrenze war. Verbittert wendete er seinen Kopf und riss sich die Sonnenbrille aus dem Gesicht, die noch immer auf seiner Nase geruht hatte.
Hinter einem Ausgang aus der Halle konnte er Strukturen ausmachen, die eindeutig zum Elbtunnel gehörten. Nur gut, dass er endlich aus diesem Loch raus kam. Jan konnte doch jetzt nicht einfach weitermachen, als sei nichts geschehen. Er wollte einfach nur nach Hause – wo immer das auch war.
Ausgelaugt sank er gegen eine der Wände. Das Wasser auf seiner Haut bildete einen klebrigen Film – er wollte gar nicht Wissen, was da alles auf ihm trocknete. Immer tiefer wurde seine Atmung und verzweifelt versuchte Jan seine Gedanken zu ordnen. Ein Gefühl stach plötzlich in seinem Kopf heraus – da war eine Emotion, die er in diesem Zusammenhang nie gekannt hatte. Apathisch wanderte sein Blick von einer Leiche zur Anderen. Aus einem der Körper waren die Gedärme gedrungen, als das Schwert sie an der Seite aufgetrennt hatte. An einer Spur aus Blut und Fleisch erkannte man den kurzen Weg, den sich die ältere Frau scheinbar noch geschleppt hatte, bevor sie der Kopfschuss traf.
Was hatte er getan? Was hatte er nur sein ganzes Leben lang getan? Was fühlte er jetzt? Und warum lies er es nicht zu, das Gefühl zu sich durchdringen zu lassen?
Wann hatte die Bezeichnung 'deutsche Wertarbeit' nur ihre Bedeutung verloren? Der verfluchte Tunnel fiel jedenfalls nicht unter diese Kategorie, denn anstatt einfach bis zum nächsten Ufer zu führen, war er nach einigen Metern jenseits der Halle eingestürzt – oder eingestürzt worden. Die dicken Brocken aus Geröll und hartem Gestein erstickten jede Hoffnung auf einen baldigen Aufstieg. Daneben gab es jedoch zahlreiche Seitenarme und Verzweigungen, die sich als dunkle Alternative anboten. Das fahle Licht der Fackel, die Jan von einer der Wände gerissen hatte, reichte nur wenige Meter. Man hätte meinen können, dass die Dunkelheit gierig an dem Licht nagte und alles davon in sich hinein schlang, was sie dem Feuer mühsam abringen konnte. Dieses Mal gab es keine führende Stimme und er hoffte einfach darauf, dass er weder in eine EMP-Falle, noch in das Maul eines mutierten Kampfhundes geraden würde, als er sich in das neue Labyrinth stürzte. Die Wände des Ganges waren aus glattem grauen Gestein, an welchem ein dünner Film aus Feuchtigkeit glitzerte. Sie reflektierten und verstärkten auch den kleinsten Laut. In der Ferne waren Schritte und Stimmen zu vernehmen. Paranoid vermutete Jan hinter jeder neuen Gabelung einen Angreifer. Er versuchte sich jedoch damit zu beruhigen, dass es anscheinend sicherer sein musste, als in dem Eingangsbereich des Tunnels, da sich ja irgendwo Leute bewegten und sogar unterhielten. Seltsame Geräusche waren in jedem Fall besser, als diese beißende Stille.
Jetzt war er so weit gerannt und diese Stufen sahen doch wirklich so viel versprechend aus! Und dann endete der elende Gang doch nur in einer Sackgasse. Die Stufen, die Jan in letzten zwanzig Minuten erklommen hatte, endeten in einem kleinen Raum, der nicht mehr als zwei Quadratmeter maß. Als habe man einfach aufgehört die Treppe zu bauen, um sich über die Idioten zu amüsieren, die völlig verängstigt in der Dunkelheit durch die Unterwelt Hamburgs stolperten und in einen abrupt endenen Gag liefen.
Von Wut gepackt, schlug Jan seine Faust gegen die niedrige Decke des Raumes – und erlebte eine Überraschung. Warum war ihm das nicht schon vorher aufgefallen? Dicke Bretter aus Holz verschlossen den weg nach oben. Sorgfältig legte er die mittlerweile fast abgebrannte Fackel auf den oberen Treppenstufen ab und zog das Wakizashi aus der Scheide. »Bitte, lass mich nicht lebendig begraben werden,« flüsterte er, als er die Bretter anstarrte, die über seinem Kopf prangten. Alles kam ihm mittlerweile besser vor, als durch diese Gänge zu irren.
Mit einem beherzten Stoß traf die Spitze des Schwertes auf das Holz. Und stieß hindurch. Er atmete hörbar erleichtert aus, als er einen kleinen Blick durch den neu geschaffenen Spalt erhaschte. Da war Licht hinter der seltsamen Barriere! Erneut trieb er das Schwert in die Planken und steigerte sich allmählich in eine kleine Raserei hinein. Er wollte nun wirklich in die Freiheit und der Damm an Beherrschung, der die ganze Zeit über seine Angst zurück gehalten hatte, begann langsam brüchig zu werden und die ersten Anzeichen klaustrophobischer Panik durchdringen zu lassen.
Als er schließlich eine große Anzahl an Löchern in das Holz getrieben hatte, begann er mit Schlägen nachzuhelfen, bis das erste Brett brach und nach unten gerissen werden konnte.
Mit einem letzten Ruck, sprengte er schließlich das finale Loch in die Decke, welches es ihm ermöglichen würde, in den kleinen Raum über ihm zu klettern. Doch während sich das erste Lächeln dieser Nacht auf sein Gesicht schleichen wollte, erwartete ihn in der Dunkelheit ein neuer Eindruck, der Jan paralysieren sollte.
Es fiel ihm auf, als sich zu seinem schweren Atmen ein anderes schnaufendes Geräusch gesellte. Jan riss die Augen auf, als er in den Gang blickte und sah, was sich hinter der Fackel befand. Er wich einen Schritt zurück und stieß gegen die Wand der Kammer. Er hatte die ganze Zeit über gewartet, hatte ihn nicht angegriffen, als ob er es genossen hätte, wie verzweifelt sich sein Opfer aus der Lage retten wollte. Man hatte es schwer, wenn man sagen wollte, was sich dort aufgebaut hatte. Fürwahr, das schwarz-braune Etwas ähnelte wohl am meisten einem Hund – einem Rottweiler - ganz so, wie Albert es gesagt hatte. Der Kopf war seltsam entstellt. Es sah so aus, als habe man zwei Schädel aneinander geschweißt, denn es waren zwei Nasen, die über dem überdimensionalen Gebiss lautstark die kalte Luft einzogen und ausstießen. Es hatte insgesamt drei Augen – zwei reguläre an den Seiten und eines in der Mitte, welches anscheinend ausgetrocknet war, da es über kein Lid verfügte. Jedenfalls bewegte es sich nicht und schien einfach ins Nichts zu starren. Der Weg zum Flüchten lag über ihm offen da, aber Jan wagte es nicht, sich zu bewegen, da er von dem Anblick einfach zu gefesselt war.
Eine der mächtigen Pfoten stapfte einen Schritt auf ihn zu und Jan versuchte sich noch mehr an die Wand zu pressen – wenn er es gekonnt hätte, wäre er einfach darin versunken. Seine kochenden Gefühle drohten bereits wieder in den Hintergrund zu rücken und den Weg für eine neue Dissoziation frei zu machen, aber er wusste intuitiv, dass er diese Begegnung nicht so überleben konnte.
Knurrend fletschte die Bestie die Zähne und stieß ein dunkles Bellen aus. Bei dem kurzen Blick, den Jan in den Mund erhaschen konnte, sah er, dass der Hund auch über zwei Schlundöffnungen verfügte. Versteinert schaute er in das ausdruckslose vertrocknete Auge in der Mitte des Hundeschädels. Und dann wusste er es. Er wusste, wie er es tun könnte.
Die mächtigen Hinterläufe stießen sich auf den Steinen ab und mit einem Satz war der Hund bei ihm. Die Vorderpfoten schlugen Jan auf die Brust und trieben ihm die Luft aus den Lungen. Der Mundgeruch des Tieres war so entsetzlich, dass es ihm sofort die Übelkeit in den Körper jagte. Seine Knie drohten unter dem Gewicht einzubrechen, doch er hielt sich verkrampft in einer aufrechten Haltung.
Seine Gedanken kreisten für einen Moment unordentlich, bis er sie zu einem pfeilartigen Gebilde formte und mit all seinen Emotionen aufheizte. Das Maul des stinkenden Monsters öffnete sich und Jan starrte auf die zwei Zungen und die verkümmerte Zahnreihe, die sich in der Mitte des Kiefers entlang schlängelte. Die Zeit wurde zäh und träge. Eine Sekunde wie eine Ewigkeit. Und dann ergriff er die Psyche des Hundes und jagte all seine Gefühle der Angst in ihn hinein, als schließe er den fremden Geist an eine Hochspannungsleitung an. Jan hatte nicht nur alle Zweifel bezüglich übersinnlicher Fähigkeiten über Bord geworfen, er benutzte gerade aktiv Empathie, um sein Leben zu retten. Genau wie vorhin. Albert musste ihm nicht mehr helfen.
Der Hund fror in der Bewegung ein, bevor er ruckartig sein Maul schloss. Klebriger Speichel schoss Jan ins Gesicht. Das Letzte, was er von dem Tier erblickte, war erneut das mittlere Auge des Schädels, dessen von unten zuschnappendes Lid sich krampfhaft geschlossen hatte. Es musste ein Organ für die übersinnlichen Fähigkeiten sein – ob man dabei noch von einem Auge sprechen konnte, war wohl nicht mehr so sicher.
Zwischen Jans Augenbrauen brannte und pochte es jedenfalls auch. Er hatte einmal irgendwo gelesen, dass diese Stelle oft als ein 'drittes Auge' bei Esoterikern oder anderen als schwachsinnig eingestuften Leuten galt.
Durch das verdreckte Fenster zeigte sich ein schwacher aber dennoch unglaublich befreiender Eindruck der nächtlichen Elbe. Er hatte das tatsächlich überstanden. Ein Teil in ihm war dennoch heute Nacht gestorben. Nichts würde mehr so sein, wie es früher war. Das Schloss der einzigen Tür in dem kleinen Raum der Ruine versperrte ihm den Weg in die Freiheit. Draußen knisterte ein Feuer, dessen orangefarbener Schein die Konturen des verfallenden Gesteins ein wenig verwischte und wie die Bilder eines wüsten Traumes wirken lies. Sein Fuß fuhr nach vorn und zertrat die Tür.
Entgegen aller Erwartungen befand er sich nicht im Freien, sondern in einem weiteren Raum. Das Dach und die Wände waren hier an mehreren Stellen eingerissen, so dass der Qualm des Feuers gut abziehen konnte.
Erneut hielt Jan den Atem an. Doch dieses Mal erwartete ihn kein bedrohlicher Feind. Auf eine gewisse Art und Weise schmerzte der Eindruck noch mehr, als der Anblick des Hundes im Tunnel. Wut, unsagbare Wut loderte in ihm auf. Die Wut, die man in seinem ganzen Leben angefacht hatte, drohte sich zu einem alles verzehrenden Flächenbrand auszuweiten.
Eine kleine glatzköpfige Gestalt saß neben dem Feuer. Die Kleidung des Mädchens war zerschlissen und das Gesicht trotz des jungen Alters bereits von vielen Narben gegerbt. Jans Blick huschte zwischen all den Eindrücken hin und her, um immer neue Schrecken zu entdecken. Über die Beine, die wie dünne Metallstäbe wirkten, hatte die Kleine eine fertig geladene Armbrust gelegt und in den zitternden Händen umklammerte sie einen Stock, den sie ins Feuer hielt. Am Ende des Holzes schmorte ein Stück Fleisch – Fleisch vom Nacken.
Aus Michaels erkalteten Gesichtszügen blickte nur noch eines des fahlgrünen Augen. Seine schwarze Jacke war an mehreren Stellen aufgetrennt und man hatte bereits große Stücke seines Fleisches von ihm gelöst. Ein rostiges Fischmesser, dessen Klinge noch immer mit Blut verschmiert war, ruhte auf dem entblößten und zerschnittenen Oberkörper seines ehemaligen Gruppenführers. Die zerstörte Sonnenbrille lag ein wenig abseits des Kadavers. Die Anzeigen funktionierten noch. Aber Jan hatte zu sehr mit sich selbst zu kämpfen, als dass er daran denken konnte, einen Hilferuf abzusetzen.
Er riss die Maschinenpistole aus seiner Jacke. »Waffe weg,« drang kratzig aus seinem trockenen Mund, als er mit wackligen Händen den Lauf auf sie richtete.
Die großen hellblauen Augen des Mädchens sahen ihn für einige Sekunden verschreckt an, bevor sie die Armbrust behutsam zur Seite legte. Und dann zeigte sich plötzlich ein dunkler Ausdruck auf ihre Zügen. Ihre Mundwinkel zogen sich nach unten. Zischend begann sie zwischen den blassen Lippen Töne hervor zu pressen.
»Du kannst es nicht haben.« Ihr Blick hielt ihn umklammert. »Ich habe es gejagt, es ist meins.« Sie fletschte die Zähne – ganz so wie es der Hund getan hatte. Einer ihrer Schneidezähne fehle, aber es war wohl nur ein Milchzahn – die anderen funkelten förmlich in hellem weiß. »Ich habe Hunger und es ist mein Fleisch. Es hat auf mich und Schwesterchen geschossen. Ich habe es erledigt.«
Jan wich zurück, als es für einen kurzen Moment so aussah, als wollte sie aufspringen. »Es ist meins!«
Wer hatte hier vor wem Angst? Verwundert über die eigene Reaktion, explodierte die Wut noch heftiger in ihm. Doch sein Finger wollte sich einfach nicht dazu bewegen lassen, den Abzug zu betätigen. Er schrie sie an, doch sie blieb einfach trotzig sitzen.
»Jetzt hör mal zu, du kleines verstrahltes Stück Scheiße,« begann er zu brüllen, »du hast meinen Freund umgebracht und dafür krepierst du jetzt gleich hier in dieser ekelhaften Bude.«
Jan wusste nicht mehr, ob er mit seinen Aktionen nicht nur die Wut auf sich selbst zu kompensieren versuchte. Verbittert setzte er fort: »Weißt du was? Ich glaube, ich schieße dich einfach nur an und schmeiß dich dann ins Feuer – na, wie wäre das?«
Aber sie spielte sein kleines Spielchen nicht mit. Nein, sie spürte, wer in diesem Raum Angst hatte. Sie sah direkt in ihn und seine Gedanken hinein. »Ich knall dich ab, ich knall dich ab,« flüsterte er immer wieder.
Die dünnen Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lachen, als sie neben sich griff und etwas vom Boden aufhob. Jan spürte, wie sein Mageninhalt die Speiseröhre hinauf klettern wollte, als sie das Auge Michaels auf ihre Gesichtshöhe brachte. »Der Bolzen ist direkt daran vorbei gegangen und hat sich in sein Gehirn gebohrt,« sagte sie mit heller Stimme.
Ihre schlanken Finger steckten das Auge in ihren Mund. Knackend zerbissen die kleinen Zähne den Augapfel. Jan wollte seine Augen zukneifen, aber er konnte nichts anderes tun, als weiter gebannt auf die Geschehnisse zu starren. Rhythmisch bewegte sich ihr Kiefer auf und ab, bis sie schließlich genüsslich schluckte. Jan hob seine zweite Hand an den Griff der Maschinenpistole. Er sah es ganz genau vor sich, wie die Kugeln ihren glatzköpfigen Schädel in Stücke reißen würden, wie er Michaels Brille für den Notruf benutzen und schließlich mit dem Helikopter weit von hier weg fliegen könnte. Aber er konnte es nicht, er konnte es einfach nicht. Und doch hielt er die Waffe eisern auf sie gerichtet.
»Du kannst etwas davon haben, ein kleines Stück vielleicht – ich mag dich irgendwie.« Ihre Stimme wirkte wie ein Schraubstock, in welchen man seinen Kopf eingespannt hatte.
Während ihm die Tränen in die Augen schossen, stotterte er ein paar weitere Worte. Er fühlte sich hilflos. »Halt die Fresse, du kleines Scheusal!«
Die kaputte Holztür auf der anderen Seite des Raumes wurde aufgestoßen. Mit wehenden blonden Haaren stürzte eine junge Frau sogleich auf das Mädchen zu, nachdem eine sperrige Kiste vor Schreck aus ihren Händen geglitten war.
Jan traute seinen Augen nicht. Ihre rote Jacke war an einer Schulter mit einem Einschussloch gespickt, um welches sich ein Fleck verkrusteten Blutes gebildet hatte. Man konnte unter dem Stoff einen Verband erahnen. Die Augen der schätzungsweise fünfundzwanzig Jahre alten Frau ähnelten denen der Kleinen sehr. Nur war in ihrem Gesicht Entsetzen zu erkennen, während das Mädchen noch immer überlegen in seine Richtung stierte. Die Arme der Frau umschlossen den dürren Körper.
»Bitte,« wimmerte sie, »bitte tun sie meiner Schwester nichts.«
Jan schüttelte verwirrt seinen Kopf, während er den Schusswinkel so ausrichtete, dass er beide mit einem Feuerstoß erledigen konnte. »Nenn mir einen verdammten Grund, es nicht zu tun, Strahlenvieh.« Seine Lippen bebten. »Ich mach euch beide gemeinsam fertig, ihr kranken Monster!«
Der Griff der Frau schloss sich noch mehr, als würde sie damit den Schutz verstärken, den sie für das Mädchen ohnehin nicht darstellte.
Ihre zittrige Stimme versuchte verzweifelt auf ihn einzureden, während sie mit dem Gesicht in Michaels Richtung deutete: »Er hat einfach auf uns geschossen – ich weiß nicht warum. Er kam auf die Straße, hat mich gesehen und gefeuert.«
Jans Blick versteinerte sich, während sie weiter sprach. Glitzernde Tränen flossen über ihre Wangen. »Bitte, töten sie mich anstelle von ihr – sie kann doch nichts dafür. Ich habe ihr die Armbrust gebaut und ich – ich habe ihr auch das Betäubungsmittel für die Pfeile gegeben. Wissen sie, ich war früher Krankenschwester ... wenn, wenn sie wollen, dann können sie meinen Ausweis - «
»Keine Bewegung!,« krächzte er, als sie versuchte, in eine ihrer Taschen zu fassen. Es wäre unmöglich gewesen, darin eine Waffe zu verstecken, aber jede Demonstration seiner Machtposition, lies ihn nicht vollends unter der Belastung zusammen brechen, die die Kleine mit ihrem eisigen Blick auf ihn ausübte. Selbst wenn er es gewollt hätte, hätte er sich keinen Zentimeter bewegen können, ohne komplett weiche Knie zu bekommen.
Etwas kaltes presste sich links an Jans Stirn. Er wäre sicherlich erschrocken zusammen gezuckt, aber noch immer war er zu jeder Reaktion unfähig. »Keine Angst,« sagte eine Stimme hinter ihm. »Der Bastard und seine Freunde killen heute niemanden mehr.«
Hinter einem Spalt in der Wand tauchte eine weitere Gestalt auf und richtete eine Pistole auf ihn. Seine rote Jacke war bis zum Hals zugezogen. »Na los, runter mit dem Ding,« sagte der Junge hinter ihm.
Es wirkte auf Jan beinahe erleichternd, die Waffe zu senken und sich damit aus dem Griff des Mädchens zu befreien. Die blonde Frau zerrte das Kind weg und lies ihren Blick zwischen der Person hinter Jan und dem Mann an der Hauswand hin und her schweifen. »Warum habt ihr ihn nicht gleich abgeknallt? Ich war krank vor Angst.«
Der Griff einer kräftigen Hand zwang Jan in die Knie. Der Lauf der Waffe wurde auf seinen Hinterkopf gedrückt.
Der Junge sagte: »Alles in diesen Bestien ist auf Morden getrimmt. Jeder einzelne Tropfen ihres schwarzen Blutes verlangt danach, Leute wie uns ertränken zu dürfen.«
Das Metall wurde noch heftiger auf seinen Schädel gepresst. »Ich habe einem von ihnen in den Kopf geschossen und der verfluchte Kerl hat noch zwei von uns getötet, ehe er zu Boden ging. Den Anderen haben die Nutten erwischt. Sie zapfen ihm jetzt sein unverstraltes Sperma ab. Die beiden hier sollten wir auch direkt an sie verkaufen.«
»Na los, jetzt tu es schon und laber nicht noch lange,« verlangte die Frau. »Er macht mir Angst.«.
Auch der Mann an dem Spalt pflichtete bei: »Baller ihm schon ne Kugel in den Schädel und dann lass uns hier endlich verschwinden.«
»Hast du das gehört, du Verbrecher?« Anscheinend hatte ihm der Junge doch noch Etwas zu sagen. »Ihr habt heute grundlos zwei meiner besten Freunde und viele unschuldige Zivilisten umgebracht. Und jetzt schlachte ich dich ab, wie ihr es mit uns gemacht habt.«
Der Schlagbolzen der Pistole wurde nach hinten gezogen. Jan wollte den Kerlen noch einen letzten Fluch entgegen speien, doch er war noch immer unfähig zu jeglicher Bewegung. Es war ganz so, als habe jemand einen Hammerschlag direkt auf sein motorisches Zentrum im Gehirn ausgeführt.
»Warte!« Eine helle Stimme drang aus der Dunkelheit und kleine tapsende Schritte näherten sich ihm. »Tötet ihn nicht,« sagte das Mädchen.
Ihre kleinen Finger, die ein wenig wie Spinnenbeine wirkten, griffen unter sein Kinn und zwangen seine Augen dazu, in die ihren zu sehen. Das Blau erschien bodenlos. Dieses Mal war die Berührung jedoch eher angenehm.
Der Junge protestierte: »Bist du verrückt, Mädchen? Er wollte dich und deine Schwester umbringen!«
»Lass sie! Sie ist eine Windstimme, siehst du das nicht?« Die Worte des Mannes an der Hauswand klangen ehrfürchtig. Jan verstand dies alles nicht.
Das Mädchen setzte fort: »Das bin ich wohl. Und er ist es auch. Er hat die Piraten im alten Elbtunnel getötet und allein aus den Gängen gefunden, obwohl er sie vorher nie gesehen hat.«
»Unsinn! Alles Schwachsinn!« Der Junge wurde immer aufgebrachter und zwang Jans Kopf wieder in die gesenkte Position. »Er kann keine Windstimme sein – er ist nicht von hier und hat deshalb nie den Weltensturm berührt.«
Die Frau meldete sich ausder anderen seite des Zimmers zurück. »Und wie soll er dann bitte aus den Tunneln gefunden haben? Wieso haben ihn die Höllenhunde nicht zerfleischt? Er hat keinen Ablenkungsgeruch bei sich.«
»Seine Psyche hat sie zurück getrieben,« sagte das Mädchen. »Sie haben es nicht gewagt, sich ihm anzunehmen.«
»Fragen wir den Milchbubi doch selbst.« Der Mann von der Hauswand war mittlerweile in den Raum getreten und riss Jans Kopf grob an den Haaren nach oben. »Wie hast du miese Kröte da raus gefunden, hm?«
Es war ganz so, als hätte jemand am vierten Juli 1998 die Zeit angehalten. Die gigantischen Kräne des Hafens ragten wie stumme Titanen in den Nachthimmel; streckten ihre bleischweren Arme nach unerreichten Sternen aus. Ein geisterhafter stummer Schrei ging ununterbrochen durch die riesigen Stahlträger. Es war ganz so, als riefen die einst so wichtigen Geräte nach den Zeiten, in denen sie noch von Bedeutung gewesen waren. Ein kalter Hauch des Nachtwindes Pfiff durch die unzähligen Verästelungen des Metalls. Der Junge, der ihn fast erschossen hätte, schlenderte neben Jan entlang. Er hatte sich als Alexander vorgestellt und ihm gesagt, dass er ungefähr achtzehn war, es aber nicht genau wusste.
Seine rote Baseballjacke war an mehreren Stellen verschmutzt und auch schon teilweise eingerissen. Unter einer zerbrochenen Laterne stoppten sie ihre Schritte. Der Junge mit den schulterlangen schwarzen Haaren fixierte Jan. »Die haben euch also nur darauf angesetzt, jemanden in einer roten Baseballjacke zu jagen?« Voller Erstaunen drangen die Worte aus seinem Mund. »Die haben gesagt, wir würden Entwicklungshelfer umbringen?«
Stumm nickte Jan mit dem Kopf. Er wusste um die Lügen, noch ehe Alexander ihm die ganze Geschichte auftischte. Mit jeder neu entdeckten Wahrheit stieg die Angst vor der ungewissen Zukunft in ihm an. Jedes Detail brandmarkte ihn in seinem Gewissen – obwohl er nicht sagen konnte, was ein Gewissen überhaupt war.
»Wir, also meine Gang und ich, haben die Jacken in einem abgestürzten Flugzeug gefunden. Es waren zwei Kisten davon drin. Wir haben sie an alle verteilt, die zu uns gehören.« Alexanders Stirn ruhte am kalten Metall der Laterne. »Die haben euch einfach auf die Dinger angesetzt. Wie markiertes Vieh behandeln sie uns.«
Jan traute sich kaum zu fragen, doch er wollte die Sache gerne ganz geklärt haben. »Ich schätze, dass das mit den Entwicklungshelfern auch nicht stimmt,« begann er, »aber die müssen trotzdem schrecklich sauer auf euch sein. Warum?«
»Warum?« Schrie Alexander und riss seine Augen weit auf. Seine rechte Hand strich nervös durch sein Haar, bevor seine Faust scheppernd den Pfahl der Laterne traf. »Meine Leute und ich haben getötet, viele Male getötet.« Jetzt sank er in die Knie. Jan ging ebenfalls zu ihm herunter.
»Wir haben drei Zuhälter in eurer Rotlichtfestung umgelegt. Und fünf eurer Bonzen.« Alexanders Gesicht ruhte in seinen Händen.
Jan verstand nicht. »Unsere Rotlichtfestung? Wovon zur Hölle redest du?«
Ganz langsam richtete sein Gegenüber den Kopf wieder auf. »Sie haben es euch also nicht gesagt?«
»Es gibt in St. Pauli einen Bezirk, der von deutschen Truppen abgeriegelt ist. Dort kommen im Stundentakt Hubschrauber aus Deutschland an, die mit stinkenden Bonzen voll geladen sind. Generäle, Betriebsräte – sowas.« Sein Gesicht zitterte vor Wut. »Weißt du, Jan, Nutten in Hamburg sind billig. Und Prostitution im Rest des Gebietes der deutschen Föderation verboten. Hamburg ist von der Radioaktivität kaum belastet. Sie finden hier ihr qualitativ hochwertiges Fleisch, was sie den deutschen Bluthunden vorwerfen können. Die Söldner, die deine Regierung anheuert, weil sie die Drecksarbeit nicht auf sich laden will. Sie haben meine Schwester weg geschleift, vor zwei Monaten. Wir fanden sie ... « Tränen strömten aus seinen ausdruckslosen Augen. »Drei Wochen später auf der nahe gelegenen Müllhalde. Dort schaffen sie alle Opfer der Perversen hin. Sie hatten sie ... Sie war doch erst zwölf ... «
Alexander wollte weiter sprechen, doch seine Worte wurden zu einem unverständlichen Wimmern. »Wer sind hier die kranken Monster, Jan? Wer?«
Desillusioniert lies sich Jan nach hinten umfallen und blieb rücklinks auf den kalten Steinen liegen. Die Sterne am Firmament schienen durch seinen Kopf zu tanzen. »Man hat mich mein Leben lang belogen, Alex. Sie haben mich zu einem mordenden Biest gemacht.« Noch immer waren seine Gefühle wie erkaltet. Für ihn gab es keine Wut auf seine Regierung – er musste sich geradezu zwingen, es zu sagen. Aber Etwas in ihm machte ihm unmissverständlich klar, dass es richtig war, was er hier tat. »Es tut mir Leid.«
Das orangefarbene Licht der Morgensonne schimmerte bereits hinter den Kränen hervor, die wie blattlose Bäume im Winter wirkten. Kombiniert mit der seltsamen Stille, empfand Jan alles um ihn herum als sehr beruhigend. Fast klärend. Und doch erschlagend und unbegreiflich. Die beiden Jungs waren noch einmal zum Haus zurück gegangen und streiften jetzt wieder am Ufer entlang. Alexanders Hand ruhte auf dem G-36, welches er Michael abgenommen hatte. Die Finger Jans verkrampften sich um den Gegenstand in seiner Hand. Sie würden keinen Luftangriff für einen Rebellen und einen Überläufer schicken, aber in der Sonnenbrille befand sich noch immer ein Peilsender. Er warf einen letzten Blick auf das durchgeschossene Glas, bevor Jan weit ausholte und die Brille in der Elbe versenkte.
»Was hat es mit diesen Windstimmen auf sich? Wie soll ich mit dem umgehen, was mir mein Bruder gesagt hat?« Er hatte die ganze Nacht mit der Frage gewartet, aber Jan wusste, dass er letztendlich die Konsequenzen aus den Ereignissen ziehen musste.
Alexander holte zu einer längeren Rede aus. Sie blickten auf den dünnen silbrigen Nebel, der sich über dem reißenden Wasser gebildet hatte, als er zu erzählen begann.
»Als das mit den Reaktoren passiert ist, wurden viele Leute von der Strahlung entweder geschädigt oder getötet. Es gab jedoch eine kleine Gruppe an Leuten, die selbst in den am stärksten belasteten Gebieten überleben konnte. Keine Ahnung, wie das geht. Sie nannten sich selbst 'die Windstimmen' und haben viele Bereiche in der Sperrzone neu geordnet. Einige Landstriche werden direkt von ihnen regiert. Sie haben die Meisten über den Weltensturm aufgeklärt und uns gelehrt, damit umzugehen. Es wurde eine Art Religion um sie gegründet.« Eine seiner Hände machte eine wedelnde Geste. »Sie entwickelten Fähigkeiten, die über das scheinbar mögliche hinaus gingen. Telepathie, Telekinese – so ein Zeug. Jedenfalls bildete sich schnell eine gewisse Schar von Anhängern um sie. Und immer wieder verlassen viele ihre Heimat, um sich ihnen anzuschließen. Man sagt, sie hätten Kloster und ganze Tempelstädte im Norden, aber das sind Legenden. Die Meisten, die dorthin aufbrechen, sterben bei dem Versuch, zu ihnen zu gelangen. Aber dann gibt es jene, wie das Mädchen, was deinen Freund getötet hat. Es erwischt meistens die, die gar nicht damit rechnen.«
Mit einem Kopfschütteln und einem sanften Lachen kommentierte Alexander sein Unbegreifen. »Ich kenne sie und ihre Schwester schon lange, weil die Kleine mit meiner Schwester befreundet war. Es war das seltsamste Kind, was ich je gesehen habe. Selbst mit acht Jahren ist sie noch gegen Wände gelaufen und hat mit Spiegeln geredet. Sie ist auch immer im Schlaf gewandelt.« Er holte mit seiner Hand weit aus. »Irgendwann ist sie des Nachts von ihrer Schwester weg gelaufen. Es war furchtbar. Wir dachten schon, dass sie die Piraten geholt hätten. Aber nein – nach vier Monaten fanden wir sie völlig ausgehungert, mit Blut bekotzt und ohne Haare in einer U-Bahn Station ganz in der Nähe. Sie konnte sich zwar an nichts mehr erinnern, hat sich aber überraschend gut erholt – und sie brachte diese Fähigkeiten mit. Immer wenn ihre Haare bis auf die Schulterblätter nachgewachsen sind, fährt sie mit irgendeinem Geisterzug tief in die Sperrzone und kommt verstrahlt wieder zurück. Man versucht immer, sie aufzuhalten, aber sie ist listig – sie wird sogar mit jedem Mal irgendwie schlagartig intelligenter. Vor zwei Wochen ist sie das letzte Mal wieder gekehrt. Wenn man ihr jetzt in die Augen sieht – ach, du hast es ja selbst bemerkt.«
Jan wusste nicht, wie er reagieren sollte. »Und sie nimmt keine Schäden davon? Wie oft war sie jetzt schon da?«
Alexander stieß ein kurzes Lachen aus. »Es ist nicht zu fassen, aber ich habe es selbst mehrere Male gesehen. Vier mal, um genau zu sein. Sie zeigt immer die akuten Symptome, die der Weltensturm, oder – wie du es nennst – die Radioaktivität anrichtet. Haarausfall, Blut erbrechen und sowas. Aber das geht nach einigen Wochen und ansonsten geht es ihr sogar eher besser. Mit jeder neuen Reise scheint sie sich schneller zu erholen. Sie entwickelt so eine seltsame Ausstrahlung – tierisch unheimlich, wenn du mich fragst. Selbst die umher ziehenden Piratenbanden wagen es nicht mehr, sie anzurühren. Sie geht Nachts oft allein in die Tunnel und spielt mit den Höllenhunden, weißt du.«
Jan senkte seinen Kopf und beobachtete die vorbei huschenden Pflastersteine. Für mehrere Minuten blieb es still zwischen ihnen, bis er wieder das Wort ergriff. »Alexander – die brennenden Gräber, was ist das?«
Sie sahen sich in die Augen. Jan meinte, einen subtilen Anflug von Angst im Gesicht seines neu gewonnenen Freundes erkennen zu können. Dieses Detail hatte Jan vorher noch nicht erwähnt.
»Barsebäck. Die Windstimmen nennen die beiden Reaktoren in Barsebäck so.«