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Stillstand
Sie starrte aus dem Zugfenster hinaus in die finstere Nacht und kam dabei nicht an ihrem eigenen Spiegelbild vorbei. Ihr Blick verfing sich in den Fältchen ihres Gesichtes. Sie erschienen ihr überdeutlich wie tiefe Kerben, Krater ihrer Seelenlandschaft. Wie müde ihr Gesicht geworden war im Laufe der letzten Jahre. Soviel Energie hatte sie aufgewandt um ihre Ziele und Träume zu erreichen. Immer wieder hatte ihr das Schicksal Steine vor die Füße geworfen. Sie war darüber geklettert, gekrochen und darum herum gegangen. Aber kaum, dass sie ein Hindernis überwinden konnte, waren zwei neue da. Nun hatte sie keinen Atem mehr weiterzumachen. Erschöpft lehnte sie sich gegen die harte Polsterung ihres Sitzes.
Ihr Blick wanderte über die Gesichter der anderen Fahrgäste. Sie schienen ähnlich verwoben in trübseligen Gedanken wie sie selbst. Ein alter Mann saß ihr gegenüber, seine Finger von Gicht gezeichnet und zittrig. Doch sein Blick war wach. Aufmerksam nahm er die Umgebung wahr. Er spürte, dass sie ihn anschaute und lächelte sie freundlich an.
„Haben sie einen guten Tag?“ fragte er. Sie versuchte pflichtschuldig das Lächeln zurückzugeben. Irgendwie missglückte es, war es doch nur versuchte Höflichkeit.
„Was bedrückt sie denn?“ fragte er, nun neugierig geworden, was sich hinter dem traurigen Blick ihm gegenüber verbarg. „Das Leben, vielleicht, ich weiß nicht“. Resignierend hob sie ihre Schultern und ein gepresstes Stöhnen entkam ihrem Mund.
Auf ihrem Schoß hielt sie einen locker in Seidenpapier eingeschlagenen Blumenstock. Ihre Freundin wünschte sich diese Pflanze zum Geburtstag um die Vielfalt an duftenden Blüten in ihrem bereits paradiesartigen Garten einmal mehr zu bereichern. Diesem Wunsch war sie gerne nachgekommen. Ein Marienkäfer saß auf einem Blatt und krabbelte nach oben. Dann flog er hoch und landete auf dem Fenster.
„Hab schon lange kein Marienkäferl mehr gesehen. Als ich noch ein Junge war, habe ich sie oft auf dem Finger krabbeln lassen und ihre Punkte gezählt“ sagte der alte Mann. Ein Versuch mit seinen Kindheitserinnerungen der jungen Frau ein wenig Lebensfreude zu vermitteln.
Ihre Augen folgten dem kleinen Käfer der nun mehrmals gegen das Fenster flog, vergeblich bemüht hinaus ins Freie zu gelangen. „Er ist genau so ein Gefangener wie wir. Sehen sie? Er will weiter, sucht Wege die Welt zu erkunden und wirft sich ständig gegen die Scheibe die ein Weiterkommen nicht möglich macht.“
Wieder erbrachte ihr ein harmloses Ereignis den Beweis für die Unzulänglichkeit des Lebens.
Der alte Mann neigte sich der Frau zu und sagte: „Der Käfer weiß nur nicht um die Zusammenhänge. Er verbraucht seine ganze Energie um gegen das immer gleiche Hindernis anzufliegen in seinem Bestreben wegzukommen, fliegen zu können. Hätte er Bewusstsein wäre er vielleicht auf dem Blatt sitzen geblieben."
Die Frau lachte heiser auf. „Ja wunderbar, er wäre auf dem Blatt gesessen und hätte die Wahl gehabt zwischen Verharren und Dahinkrabbeln. Welch grandioses Leben für ein Fluginsekt. "
Der Mann lehnte sich zurück. „Sie vermuten Stillstand hinter der vorübergehenden Bewegungslosigkeit?" Seine Augen wanderten hinauf zu dem abermals von dem Fensterglas zurückgeworfenen Käfer.
"Diese ungewohnte Zeit des geduldigen Zuwartens hätte ihn aber durch ihr Zutun in einen Garten voll Vielfalt und ungeahnter Möglichkeiten gebracht, oder nicht? Hätte es dann in größerem Zusammenhang gesehen nicht Sinn gemacht einfach mal nur zu sein und zuzulassen, was immer da kommen will?
Was meinen sie?“