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Stillstand

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08.08.2002
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Stillstand

Sie starrte aus dem Zugfenster hinaus in die finstere Nacht und kam dabei nicht an ihrem eigenen Spiegelbild vorbei. Ihr Blick verfing sich in den Fältchen ihres Gesichtes. Sie erschienen ihr überdeutlich wie tiefe Kerben, Krater ihrer Seelenlandschaft. Wie müde ihr Gesicht geworden war im Laufe der letzten Jahre. Soviel Energie hatte sie aufgewandt um ihre Ziele und Träume zu erreichen. Immer wieder hatte ihr das Schicksal Steine vor die Füße geworfen. Sie war darüber geklettert, gekrochen und darum herum gegangen. Aber kaum, dass sie ein Hindernis überwinden konnte, waren zwei neue da. Nun hatte sie keinen Atem mehr weiterzumachen. Erschöpft lehnte sie sich gegen die harte Polsterung ihres Sitzes.

Ihr Blick wanderte über die Gesichter der anderen Fahrgäste. Sie schienen ähnlich verwoben in trübseligen Gedanken wie sie selbst. Ein alter Mann saß ihr gegenüber, seine Finger von Gicht gezeichnet und zittrig. Doch sein Blick war wach. Aufmerksam nahm er die Umgebung wahr. Er spürte, dass sie ihn anschaute und lächelte sie freundlich an.

„Haben sie einen guten Tag?“ fragte er. Sie versuchte pflichtschuldig das Lächeln zurückzugeben. Irgendwie missglückte es, war es doch nur versuchte Höflichkeit.

„Was bedrückt sie denn?“ fragte er, nun neugierig geworden, was sich hinter dem traurigen Blick ihm gegenüber verbarg. „Das Leben, vielleicht, ich weiß nicht“. Resignierend hob sie ihre Schultern und ein gepresstes Stöhnen entkam ihrem Mund.

Auf ihrem Schoß hielt sie einen locker in Seidenpapier eingeschlagenen Blumenstock. Ihre Freundin wünschte sich diese Pflanze zum Geburtstag um die Vielfalt an duftenden Blüten in ihrem bereits paradiesartigen Garten einmal mehr zu bereichern. Diesem Wunsch war sie gerne nachgekommen. Ein Marienkäfer saß auf einem Blatt und krabbelte nach oben. Dann flog er hoch und landete auf dem Fenster.

„Hab schon lange kein Marienkäferl mehr gesehen. Als ich noch ein Junge war, habe ich sie oft auf dem Finger krabbeln lassen und ihre Punkte gezählt“ sagte der alte Mann. Ein Versuch mit seinen Kindheitserinnerungen der jungen Frau ein wenig Lebensfreude zu vermitteln.

Ihre Augen folgten dem kleinen Käfer der nun mehrmals gegen das Fenster flog, vergeblich bemüht hinaus ins Freie zu gelangen. „Er ist genau so ein Gefangener wie wir. Sehen sie? Er will weiter, sucht Wege die Welt zu erkunden und wirft sich ständig gegen die Scheibe die ein Weiterkommen nicht möglich macht.“
Wieder erbrachte ihr ein harmloses Ereignis den Beweis für die Unzulänglichkeit des Lebens.

Der alte Mann neigte sich der Frau zu und sagte: „Der Käfer weiß nur nicht um die Zusammenhänge. Er verbraucht seine ganze Energie um gegen das immer gleiche Hindernis anzufliegen in seinem Bestreben wegzukommen, fliegen zu können. Hätte er Bewusstsein wäre er vielleicht auf dem Blatt sitzen geblieben."

Die Frau lachte heiser auf. „Ja wunderbar, er wäre auf dem Blatt gesessen und hätte die Wahl gehabt zwischen Verharren und Dahinkrabbeln. Welch grandioses Leben für ein Fluginsekt. "

Der Mann lehnte sich zurück. „Sie vermuten Stillstand hinter der vorübergehenden Bewegungslosigkeit?" Seine Augen wanderten hinauf zu dem abermals von dem Fensterglas zurückgeworfenen Käfer.

"Diese ungewohnte Zeit des geduldigen Zuwartens hätte ihn aber durch ihr Zutun in einen Garten voll Vielfalt und ungeahnter Möglichkeiten gebracht, oder nicht? Hätte es dann in größerem Zusammenhang gesehen nicht Sinn gemacht einfach mal nur zu sein und zuzulassen, was immer da kommen will?

Was meinen sie?“

 

Hallo schnee.eule,

wenn wir nur öfters den Überblick über unser Tun hätten! Unsere Anstrengungen würden nicht in bloßem Aktionismus verkommen. Außerdem würde die Erkenntnis von Zusammenhängen unser Leben bereichern.
Letztlich greifst Du das Thema `Erkenntnisfindung´ von uns Menschen auf. (Ein sehr interessantes Thema.)
Selbst wenn der Käfer nicht in den Garten getragen würde, wäre er im Blumentopf besser aufgehoben als am Zugfenster, selbst wenn der Zug ihn in weite Entfernung gebracht hätte. Sogar das schönste Ziel des Zuges wäre wohl nicht passend für den Käfer gewesen, wahrscheinlich wäre er gestorben, bevor er einem guten Platz gefunden hätte.

Alles Gute,

tschüß... Woltochinon

 
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Lieber Woltochinon!

Danke für deine Worte, es ist schön, wenn du beim Lesen meiner Zeilen diese Gedanken empfunden hast.

Ich denke oft wie eng vielleicht unser Erkenntnisradius ist. Möglicherweise ist unser ganzes Sonnensystem nur eine feine Wimper von etwas unendlich Größerem, das wir mit unserem Geist gar nicht erfassen können. Wobei es tatsächlich ja nicht um Größe geht, sondern um den nötigen Abstand um den Zusammenhang zu erkennen. Es würde unser Leben möglicherweise bereichern, vielleicht auch manches reduzieren in seiner Wichtigkeit. In jedem Fall würden sich Wertigkeiten verschieben und uns völlig neue Perspektiven eröffnen.

Ganz lieben Gruß an dich - schnee.eule

 

Hallo schnee.eule,

in dem „gar nicht erfassen können“ liegt die Tragik unseres Daseins. Deshalb kommt die Philosophie auch nicht grundlegend weiter. Wir können halt nicht unsere Perspektive verlassen und den größeren Zusammenhang sehen. (Deshalb ist ja auch Religion unfruchtbar, wenn man nicht annimmt/ glaubt, daß sie einen Input von außerhalb darstellt - oder was meinst Du?). Logik ist leider auch kein Weg aus der Erkenntnisfalle (s. „Standortbestimmung“).
Ich denke, ein wichtiger, aus dem größeren „Zusammenhang“ abgeleiteter Wert , bei dem man nicht viel falsch machen kann, ist die Liebe.

Tschüß... Siegbert

 

Hallo, schnee.eule!

Unser Sonnensystem ist - wie schreibst du so schön - nur eine feine Wimper von etwas unendlich Größerem...
Um Zusammenhänge zu erkennen, muß man vorgegebene Wertigkeiten hinterfragen und selbst beurteilen.
Jeder neue Tag trägt seine Geheimnisse in sich. Das eine oder andere davon zu ergründen, bedeutet für mich - Leben. Solange ich staunen und forschen kann - bin ich.

Ciao
Antonia

 
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Lieber Siegbert!

Vorweg gefällt mir die Kombination des uralten Wortes Religion mit der zeitgemäßen Wortwahl input sehr gut.

Natürlich beruht der Sinn von Religion darauf, dass Menschen sich an einer, über ihren begrenzten Geist hinausgehenden, Möglichkeit festhalten können. Deshalb beten und glauben die Menschen ja vor allem dann, wenn sie etwas einfach nicht mehr begreifen können oder die Furcht so groß geworden ist, dass ihnen alles weltliche Wissen nicht mehr helfen kann es auszuhalten. Aber auch, wenn etwas so wunderbar empfunden wird, dass man Übergeordnetem danken möchte für die Fülle von Glücklichsein die einem zu erschlagen droht, in der Sehnsucht oder der Erkenntnis.

Mit Sicherheit ist die Liebe jener Wert der uns diesen größeren Zusammenhang ahnen lässt. Sowohl in ihrer Verzweiflung als auch in ihrer Erfüllung zeigt sie uns, dass da etwas ist das weit über unsere kleine Welt hinausgeht und doch in uns selbst verborgen, weil fühlbar, ist.

Lieben Gruß an dich - eva


Liebe Antonia !

Wie recht du hast. Im ständigen Hinterfragen und Sehnen nach der Erkenntnis erfahren wir unser Leben.

Bei dem Wort "beurteilen" tu ich mir ein wenig schwerer. Beurteilung leitet sich ab aus "ein Urteil fällen", etwas als gut oder schlecht oder was auch immer zu bewerten. Und doch stellt sich gerade durch unser Weitergehen im Leben vieles als ganz anders dar, als wir es einst be-, ver- oder abgeurteilt haben.

Der neue Tag birgt neue Geheimnisse, wie du sagst, viel Freude wünsche ich dir sie zu erforschen.

Lieben Gruß - schnee.eule

 

Hallo schnee.eule,

„... wenn etwas so wunderbar empfunden wird, dass man Übergeordnetem danken möchte ...“ mit diesem Satz
wirfst Du eine interessante Frage auf: Warum kann der Mensch nach Gott fragen, wenn es Gott (naturwissenschaftlich gesehen, Stand 2002) überhaupt nicht gibt?
Also halten wir uns weiterhin an die Liebe...

Liebe Grüße,

tschüß... Siegbert

 
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Hallo schnee.eule,

ich denke schon, daß es dasselbe ist, deshalb will ich mich auch darum bemühen.
Die oben erwähnte Frage bleibt trotzdem ungelöst...
Alles Gute,
tschüß... Siegbert

 

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