Stillstand
Manchmal wollte sich Josef in seinen Koffer setzen und warten, bis man ihn auf die Post brachte. Er hätte noch eine Weile in der Dunkelheit verharrt, wie ein Kind geschlafen, hätte dann drüben, am anderen Ende der Welt, die verklebten Augen geöffnet, mühsam die fremde Sprache erlernt. Aber so wird man kein neuer Mensch. Manchmal wollte er sich die Vergangenheit einfach rausschneiden.
Wenn Zucker in seine Tasse rieselte, sah er sie im Hochzeitskleid, kam eins zum andern, stand sie plötzlich da in Gelb und ihr Parfüm brennt sich im Zug nach Barcelona die Nase hoch. „Es ist nicht zu viel“, beteuert er zweimal und unterdrückt ein Niesen, bis er es selbst glaubt. Der Duft nach Rosen in seinem Kopf und in ihrem Garten tropft der Regen gläsern zu Boden. Kristalle sind die Ohrläppchen, Rosen die Lippen, sein Leben mit ihr ein zu kurzer Film, dessen Ende nicht passt. Wenn Josef das Haus betritt, wenn er in den Spiegel schaut und sie ist nicht da, ja, wenn er sich nur Zucker nimmt, dann drückt er auf Play. Am Ende des Films ist er einsam. Josef starrt in den Tee. Nie hätte sie gehen dürfen. Nie wird er ihr folgen können.
Irgendwann: Aus den Lautsprechern der U-Bahn nehmen ihn zwei Geigen an die Hand. Sacht wiegen die dünnen Töne sich auf, schlagen über in Vollkommenheit, sind Stärke, bleiben, hängen, stürzen dann, brechen ein in stille Klage, tanzen trauernd weiter. Das Säuseln der Geigen legt sich auf seine Haut, warmer Atem entweicht ihm, zergeht. Ist er das – sein Moment? Mit einem Fuß auf der Grenzlinie registriert er das jämmerliche Sterben der Geigen. Das Poltern der Ferne stellt Abfahrt in Aussicht. Er zögert, wartet. Eine Träne löst sich, zieht sich übers Gesicht. Es ist nur ein Schritt und ... von irgendwo hält es ihn zurück: das Nein, nein, nein. Der Zug rauscht durch. Josef wendet sich vom Gleis ab, sieht in die erschrockenen Augen einer jungen Frau, die ihn festhalten wollen und nie loslassen werden. Er streicht sich das Salz aus den Augen.
Erschöpft legt er sich schlafen, aber seine Hände zittern, als er wieder in den Nebel steigt, der durch seine Poren dringt, hinein in den Kopf und dort pulsiert und drückt und pulsiert. Als er den Schritt in ihr Zimmer wagt, sich dem Schatten stellt, der ihn verfolgt, ihm auf dem Marktplatz auf die Schulter klopft, dann, wenn er sich gerade fürs Glück entscheidet, und sagt: „Wie geht´s?“ Und das Wie geht´s kommt voller Mitleid und der Hohn, den ihm das Schicksal dann ins Gesicht speit, ist kaum zu schlucken. Und dann würgt er sich Kaffee oder Tee hinunter – bloß keinen O-Saft, nach dem war sie süchtig – und nach zahlreichen Achs und unterdrückten Tränen, geht der Freund und Josef geht nach Haus, stürzt das Nein von sich fort und nichts außer das Nein kommt zurück, denn es interessiert das Schicksal nicht, ob du Nein rufst. Ein andermal sitzt er in der Bibliothek, nicht um zu lesen, nur um zu sitzen. Und dann ist sie da, sie, mit dem glänzenden Haar, das herabfließt wie Gold, den schmalen Schultern, die brechen, beschützt man sie nicht. Und instinktiv will Josef zu ihr, will Hallo sagen, doch instinktiv hält er sich zurück, weiß, zögert. „Nein“, schießt es ihm durch den Kopf und das Echo pocht ihm gegen die Stirn, das sich immer und immer wiederholende Nein, Nein, Nein macht ihn ganz benommen und dann geht er, tippt ihr auf die Schulter. Braune Augen sehen ihn an. Ja? Es sind die falschen Braunen. Er bringt kein Wort heraus, Schockstarre und sie weiß nicht, wer er ist und was er will und „Alles in Ordnung mit Ihnen?“. Als er nichts sagt, geht sie weg. Nun betritt er den Raum und es ist fast so, als ob ihr Körper noch daliegt, sich der Brustkorb noch hebt, den Herzschlag im Maestoso umspielt. Und dann liegt sie mit Haut da, die trieft wie von Fett, die stinkt wie Fleisch, das verwest in der Hitze. Er sieht, wie das Maestoso zu einem Ritardando verebbt, langsam verstummt, hebt sich, hält aus, senkt sich, verharrt, hebt sich nur halb, senkt sich, steht still, steht still, steht still. Das Schreckgespenst in seinem Kopf. Er hat den Raum betreten und es ist ihrer. Ihr Raum, wie er sich seit einem Jahr Nacht für Nacht aufdrängt in Josefs Schädel, sich dort eingenistet, ja gezeugt und vermehrt hat seit dem Tag X. Das Wird sie es schaffen? hatte er nicht über die Lippen gebracht und nur leer vor sich hingestarrt. Und der Arzt hatte gezögert, in seinem Blick aber lag das Nein. Und dieses Nein war ein Nein, kein Vielleicht, keins mit aber. Es war ein Nein und sein Echo, das Nein, Nein, Nein pochte noch immer gegen Josefs Schädel. Sein Koffer war ein Sarg. Der Deckel war zu schwer für ihn.