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Stillstand

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26.04.2002
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Stillstand

Stillstand

Ein wirrer Traum riss Luke aus seinem sonst so tiefem Schlaf. Fragmentartige Bilder von seltsamen Kreaturen und bekannten wie verhassten Gesichtern liefen wie ein Film vor seinem geistigen Auge ab. Zitternd und schweißgebadet saß er in seinem Bett und versuchte das Puzzle so zusammenzusetzen, dass es einen Sinn ergab, doch es ging nicht.
Genau in diesem Moment erhellte ein gewaltiger Blitz sein Schlafzimmer, gefolgt von einem Krachen das sein Trommelfell schmerzen liess. Er zuckte zusammen und verkroch sich unter die Bettdecke. Doch seine panische Angst vor absoluter Dunkelheit zwang ihn dazu aufzustehen und das Licht anzuknipsen. Das war’s dann wohl mit dem Schlaf.
Ein Blick auf den Wecker sagte ihm dass jetzt die beste Zeit wäre um an seinem Roman weiter zu arbeiten. 2:00 Uhr. Er wusste nicht warum, aber die besten Ideen hatte er früh morgens. Und wenn es noch dazu eine solch regnerische Nacht wie heute war, schrieben sich seine Geschichten wie von selbst.
Der Wind ließ ihn glauben, dass der sonst tropfenförmige Regen heute in Form von winzigen Nadeln herabprasselte, als Luke kurz die Wohnung verliess um sich mit lebensnotwendigen Drogen aus dem Zigarettenautomat um die Ecke einzudecken.
Zurück im Trockenen setzte er sich an seine Schreibmaschine und fing an zu schreiben:

-357-
3. Eiserne Zeit
Ich war mir bewusst, dass ich nicht mehr viel Zeit hatte. Sie lief mir davon, manchmal kam es mir sogar vor als liefe sie jeden Tag schneller als am Tag zuvor. 7 Monate blieben mir noch. Und ich wusste nicht was ich damit anstellen sollte. Eigentlich wusste ich es sehr genau, doch es waren einfach noch so viele Dinge zu erledigen, so viele Gedanken zu denken, so viele Träume und Wünsche zu realisieren, dass ich nicht wusste, womit ich anfangen sollte.
Und dann, wie als hätte ich es mir gewünscht, hörte das Ticken auf. Der eiserne Uhrzeiger des Lebens blieb stehen. Nein, ich war noch nicht tot. Nur die Zeit schien tot zu sein.
Der Tag begann mit einem gewaltigen Blitz, der mich aus dem Schlaf riss und mein Schlafzimmer sekundenlang hell erleuchten ließ. Ich weiß nicht mehr, ob ich den Wecker, der genau um diese Uhrzeit klingeln sollte, des übermäßig lauten Donners wegen einfach nicht hörte oder ob er überhaupt nicht klingelte. Während ich der Kaffeemaschine meine morgendliche Dosis Coffein in Auftrag gab, duschte ich wie jeden Morgen eiskalt um wach zu werden.
Nach einer halben Stunde -wie ich glaubte- ging ich aus dem Haus und machte mich auf den Weg ins Büro, das nur 10 Minuten zu Fuss von meiner Wohnung entfernt war. Ich wunderte mich schon ein wenig darüber, dass ich keinen einzigen Menschen auf der Strasse traf, aber es war ja noch relativ früh, dachte ich, und die Menschen werden sowieso immer fauler....
-
Luke schrieb Seite um Seite, konnte gar nicht mehr aufhören. Bald musste er jedoch eine kurze Pause machen. Seine Zigaretten waren ihm schon wieder ausgegangen. Er brauchte Nachschub um weiterschreiben zu können. (Luke war 29 und seit einer kleinen Ewigkeit riet ihm sein Arzt mit dem Rauchen aufzuhören wenn er älter als 40 werden wollte. „Ist mir egal, ich lebe hier und jetzt!“ war sein einziger Kommentar.)
Es regnete immernoch in Strömen, genau wie das letzte Mal als er aus dem Haus ging.
Er zündete sich eine Zigarette an und schrieb weiter. Mittlerweile war er auf Seite 419 angelangt. Ein kurzer Blick nach draussen machte ihn skeptisch. Wow, das geht ja ziemlich schnell heut mit dem Schreiben, dachte er, eigentlich müsste es doch langsam hell werden. Als sein Roman um weitere 20 Seiten reicher war, wagte er endlich einen Blick auf seinen Wecker. 2:00 Uhr. Nachdenklich kratzte sich der Autor am Kopf. Muß wohl stehen geblieben sein. Jetzt wollte er es aber genauer wissen und ging in die Küche. Ebenfalls 2:00 Uhr. Genau wie die Uhr an seinem Videorekorder. Er schaltete den Fernseher an. Kein Bild. Kein Ton. Nichts.
Panisch lief Luke die Treppe hinunter, nach draussen. Der gleiche nadelförmige Regen wie zuvor. Er rannte richtung Innenstadt. Kein Verkehr, kein Mensch auf der Strasse, nichtmal am Bahnhof. Auch hier ist die Uhr stehen geblieben.
Ich muss verrückt sein! Oder träumen. Die wildesten Gedanken schossen Luke in den Kopf.
Die Zeit kann doch nicht einfach so stehen bleiben, das geht nicht! Das hier ist das wahre Leben! Das geht nur in Geschichten. In meiner Geschichte! Tränen stiegen ihm in die Augen, vermischten sich mit dem Regen und liefen sein Gesicht herunter.
Verzweifelt irrte er die Strassen entlang, in der Hoffnung irgend jemanden zu treffen. Er klingelte an Haustüren, hämmerte mit seinen Fäusten dagegen ohne eine Antwort zu bekommen. Die Stadt schien wie ausgestorben.
Zurück in seiner Wohnung versuchte er zu schlafen. Vielleicht ist alles wie vorher, wenn ich wieder aufwache. Vielleicht ist das alles nur ein böser Traum, hoffte er. Doch Schlafen konnte er nicht.
5 Zigaretten später (das war nun die einzige Art für Luke, die „Zeit“ irgendwie berechnen zu können) entschloss er sich weiterzuschreiben. Schliesslich hatte er nicht wirklich was anderes zu tun. Nun wusste er genau wie sich seine Protagonistin fühlen müsste und schrieb so realistisch wie nie zuvor. Obwohl es doch eigentlich keine realistische Geschichte werden sollte. Er schrieb und schrieb. 2 ½ Schachteln Zigaretten später:

-549-
4. Die Erlösung

Ich hatte die Hoffnung fast aufgegeben. 261 Tassen Kaffee und 87 mal schlafen später schaute ich auf meine Uhr, als es plötzlich eine Minute nach 5 war. Ich dachte ich hätte Halluzinationen, doch auf den zweiten Blick sah ich, dass sich auch der Sekundenzeiger bewegte. Mein Herz hüpfte vor Aufregung und Freude. Das war das Ende. Mein Leben konnte wieder beginnen.
Ich war mir bewusst, dass ich nur noch 7 Monate zu leben hatte, doch ich wusste auch dass ich es sehr geniessen würde. Ich hatte schließlich genug „Zeit“ um darüber nachzudenken, was ich damit anstellen würde.......
-
Nachdem er diesen Satz geschrieben hatte, wagte auch Luke einen Blick auf seine Uhr und sah, dass genau in diesem Augenblick der Sekundenzeiger anfing, sich zu bewegen, womit auch seine eiserne Zeit vorbei war. Er genoss das ihm sonst so verhasste Geräusch des tickenden Uhrzeigers und wartete sehnsüchtig auf die ersten Sonnenstrahlen.
Am nächsten Tag hörte er mit dem Rauchen auf. Es erschien ihm plötzlich sinnlos, denn nun hatte er wieder Uhren, mit denen er die Zeit messen konnte.
Sein Roman „Stillstand“ wurde ein voller Erfolg. Von einem großen Teil des Geldes, das er damit verdiente, kaufte er Uhren, sehr viele, in der Hoffnung das Ticken würde die Zeit davon abhalten die Geschichte seines Lebens noch einmal still stehen zu lassen.

 

Hallo Nuwanda!

Interessante Parallelen zwischen Lukes Wirklichkeit und seiner Romanwelt. Ich frage mich, ob er auch nur noch wenige Monate zu Leben hatte, wie es dem Protagonisten seiner Story ergeht.

Die Idee an sich halte ich nicht schlecht, sie hätte vielleicht etwas spannender sein können. Allerdings ist die Schwierigkeit dabei, dass alles zweifach oder zumindest ähnlich geschieht, sodass der Leser zum Teil bereits weiß, was als nächstes folgen könnte.

Insgesamt hat sie mir jedenfalls ganz gut gefallen.

Auch las sich der Text sehr flüssig und somit zügig. Die sprachlichen Mittel fand ich ebenfalls einwandfrei.

Viele Grüße,
Michael

 

Hi Nuwanda!

Eine wirklich tolle Geschichte, wie sich Dein Protagonist seine Geschichte schreibt! Eigentlich würde ich mir das auch einmal so wünschen, daß um zwei in der Früh die Zeit stehen bleibt, bis ich alles fertig geschrieben habe... :lol:

Ein paar kleine Fehler sind noch drin, die Du ausbessern könntest, vielleicht komm ich nochmal und such sie Dir raus, hab jetzt leider nicht so viel Zeit.

Alles liebe
Susi

 

Hallo ihr beiden,
danke für Interesse & Kritik an meinem Text. Freut mich sehr, dass er euch gefällt.
Michael,
ich glaube nicht, dass er nur noch kurze Zeit zu leben hatte ("riet ihm sein Arzt mit dem Rauchen aufzuhören, wenn er älter als 40 werden wollte").
Sicher kann es sein, dass er kurze Zeit später starb, vielleicht an Lungenkrebs, da hat dann auch das Aufhören nichts mehr gebracht. Nur wusste er es vorher nicht, wie die Protagonistin seiner Geschichte.
Das Problem mit der Vorahnung des Lesers war mir bewusst, doch als ich dann erstmal drin war, dachte ich dass es mir eigentlich doch ganz gut gelingt, genau wie die Spannung...
Susi,
würd mich freuen wenn du mir ein wenig mit der fehlersuche hilfst.

Liebe Grüße
Nuwanda

 

Jaja, die Geschichte gefällt mir auch ganz gut, es sind im Grunde nur einige Einzelheiten, die mir an vielen Texten stört.
So frage ich mich, wieso man immer verschwitzt aufwachen muß? Selbst als ich mal von Brosis geträumt habe, war ich nicht verschwitzt, obwohl es einem Traum Friedmanns über Möllemann gleichkommt! Aber natürlich, sie wachen alle schweißgebadet auf und erfreuen sich der Realität. Wieso wacht nie jemand (in der Literatur) mit volgepißten oder vollgewichsten hosen auf?
Die Tatsache, daß er seinen Roman noch zuendeschreibt halte ich für ziemlich unglaubwürdig. Wahrscheinlich wäre doch wirklich, wenn er sich die Kugel geben oder total durchdrehen würde. Möglicherweise könnte er den Roman tatsächlich noch zuendebringen, doch wie würde er dann aussehen? "Tick, tick, tick, ich höre kein verdammtes Ticken mehr. Vielleicht solte ich der Uhr ein Opfer darbringen, jaaaaaa, frisches Menschenblut." Ich würde da auf jeden Fall durchdrehen, wenn die Zeit nach 87 Nickerchen immer noch nicht bewegt hätte.
Aber wie schon oben erwähnt, die parallelen Handlungen sind eindrucksvoll und stilistisch gesehen gibt's kaum was zu bemängeln.

 

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