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Stilles Gleis
Ihren Blick wandte Malou von ihm ab, sah zunächst auf den Boden, dann an ihm vorbei aus dem Fenster in eine unbestimmte Ferne. Die Ärmel ihres übergroßen Pullovers mit dem Zopfmuster hielt sie mit den Fingerspitzen umklammert, die Arme vor der Brust verschränkt.
In den letzten Tagen hatten sie nur noch selten gemeinsam an diesem Tisch gesessen, dessen grobe Holzplatte Benedikt schon am zweiten Tag auf der Terrasse zurecht gesägt und abgeschliffen hatte. Kurz darauf stellten sie fest, dass sie zusammen mit dem Gestell nicht mehr durch die Tür in das Zimmer passte, so dass er es wieder abschraubte und sie die Teile einzeln hereintrugen. Damals konnten sie darüber gemeinsam lachen.
Malou schob ihm den Umschlag herüber, der vor ihr lag und sagte: "Es ist alles so gemeint wie es darin steht, aber wenn man es liest, fühlt es sich nicht so an, wie es gemeint ist. Ich habe mehrere Versuche gebraucht und das ist die beste Version, es tut mir leid." Sie rutschte auf der Bank hin und her und setzte sich auf ihre Hände.
Benedikt rauschte das Blut in den Ohren, er ließ seinen Blick über den Brief schweifen und sah an ihr vorbei auf die noch nicht gestrichene Wand.
***
Im Frühjahr davor war es ihr erster gemeinsamer Urlaub, ein schlichtes Häuschen, die dänische Flagge flatterte klein und keck an der hohen Stange, das Meer war zu hören, aber nicht zu sehen.
Sie liehen sich Räder, Malou packte ein Provianttäschchen für sie beide und Benedikt zeigte ihr die Straßenkarte. „Wir könnten erst ins Landesinnere und dann über diesen Aussichtspunkt zu dem kleinen Städtchen und am Meer entlang zurück.“
Sie entgegnete, „lass uns einfach losradeln, wir finden schon einen schönen Weg.“
Benedikt fuhr mit dem Trekkingrad vor, achtete aber darauf, dass sie trotz seiner 21-Gänge den Anschluss auf dem schweren Damenrad nicht verlor. An den Kreuzungen hielt er jeweils an und ließ sie über die Richtung entscheiden. Das Gebäude auf der rechten Seite nahm er nur aus dem Augenwinkel wahr und fuhr vorbei. An der nächsten Ecke bemerkte er, dass sie ihm nicht gefolgt war und fuhr zurück.
Sie stand vor einem alten Bahnhof. „Da könnte man was draus machen, das wäre doch toll. Ein Platz nur für uns allein, ein richtiges Projekt.“
Das Gleis parallel zur Straße war zugewuchert, Insekten surrten zwischen den Brombeersträuchern. Die Fenster waren vernagelt, der Backstein teilweise von Wildrosen bewachsen. Die drei Stufen lagen wenige Schritte von der Straße entfernt, ein Fahrradständer neben dem Eingang.
„Komm, lass uns mal rumgehen“, sagte sie und zog ihn mit.
Seitlich führte ein gefliester Weg zu der Bahnsteigkante, die Schranke war offen, der Mast mit zwei Lautsprechern daran ragte hoch hinaus. Hinter dem Gebäude lag ein kleiner Garten, eingefasst von einer Hecke, der Rasen überwuchert mit Unkraut. Die Nachmittagssonne schien ihnen in das Gesicht, als sie sich den Weg zum Hintereingang bahnten, sie nahm in bei der Hand, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. „Das ist toll hier, das hat eine ganz warme und positive Energie.“
***
Malou versuchte es erneut. „Wer weiß denn, ob Du überhaupt so lange lebst? Davon hätten wir jetzt etwas und nicht vielleicht irgendwann.“
Die Lebensversicherung hatten seine Eltern für ihn eingerichtet, als sein Vater die Generalagentur übernahm. Das war kurz nach Benedikts Geburt und die Versicherung würde noch sehr lange laufen, mehr als 20 Jahre, bis zu seinem 65. Geburtstag. Benedikt stockte die Versicherungssumme auf und übernahm die Prämien, als er das erste Staatsexamen bestand und im Referendariat Geld verdiente. Dank der alten Verbindung seines Vaters fielen keine neuen Abschlusskosten an.
„100% Sicherheit kann man nicht kaufen, aber das Risiko kann man reduzieren.“ Sein Vater sagte diesen Satz bei dem Jubiläum seiner Agentur und der Übergabe an den Nachfolger bei einer kleinen Feierstunde, Benedikt hatte ihn schon oft gehört. Diese Risikoreduzierung begleitete ihn sein gesamtes Leben und es gab keinen seiner Freunde aus dem Jurastudium, der nicht genau so dächte.
„So ist das ganze Geld gar nichts wert, liegt da nur rum, virtuell, aber Dir ist es offenbar mehr wert, als unser Traum.“
Malou dachte anders, das war ihm klar, und es wäre unverzichtbar, sich gegen seinen Vater zu stellen. Den Vater, der ihm das Studium ermöglicht hatte, der in allen praktischen Dingen für ihn da war und Probleme löste. Er würde es ihm nie verzeihen, diese Lebensversicherung aufzulösen und in einen Bahnhof in Jütland zu investieren, an dem nicht mal mehr ein Zug hielt. Aber er würde Malou gern zeigen, wie viel sie ihm bedeutete, und ihren Traum zu seinem machen. Nur er verfügte über das Geld, das nötig sein würde, nur er hatte überhaupt den Überblick, wie so eine Sache zu regeln war.
Die Lösung fand sich im Freundeskreis. Ein Kommilitone aus dem Studium hatte eine große Summe geerbt und überließ ihm das Geld gegen eine stille Abtretung seiner Lebensversicherung – ohne Nachricht an die Gesellschaft, ohne Eintrag in der Urkunde und mit dem Recht, jederzeit die Versicherung gegen die Darlehenssumme wieder auszulösen. 725.000 EUR, eine kleine Reserve war eingeplant, nachdem die Kaufsumme, die Gebühren an das Grundbuchamt, für den Makler, den Anwalt und den technischen Sachverständigen entrichtet waren. Der Sachverständige war Benedikts Idee, aber bevor das Gutachten überhaupt geschrieben war, hatte er auf ihr Drängen den Kaufvertrag unterschrieben.
Mit der kleinen Reserve gönnten sie sich, das war Malous Vorschlag, im besten Restaurant der nächsten größeren Stadt ein festliches Essen. Sie strahlte ihn an, die Wangen vom Sekt gerötet und drückte seine Hand. Er zwang sich, sie nicht von ihr wegzuziehen und den Abend zu genießen.
***
Die Erinnerungen an das als Kind so fremde Land: Das viel zu große Fernglas, von seinem Vater vor Benedikts Augen gehalten, ein verwackeltes Bild, der Walfisch springend am Horizont trotzdem nicht zu sehen, offenbar sprang er nur, wenn der Vater das Glas vor seinen Augen hielt. Das Ferienhaus unmittelbar an der Abbruchkante der Dünen, der Wind kämmt das Gras in alle Richtungen, die Wolken ständig wechselnd, der Geruch der Sonnenmilch, Stärke acht, seinerzeit die höchste Stufe, jeden Tag ein Eis, auch wenn es kühl war.
Erinnerungen, die Benedikt abrufen konnte, wie er sie brauchte. Erinnerungen, die sich mit einer Zukunft in diesem Land verbinden sollten, einer Zukunft im Hier und Heute, in einem gemeinsamen Traum mit Malou.
***
Benedikt hatte das ganze Wochenende kaum etwas gegessen und litt unter Magenkrämpfen, er führte das auf den Freitagabend im Old Trafford zurück, wusste aber, dass das nicht stimmte.
Das Gespräch mit dem für ihn zuständigen Seniorpartner war auf Montag, 9 Uhr, angesetzt, er hatte Anfang der letzten Woche um einen schnellen Termin gebeten.
Pulvermacher Lühn Ewaldt & Handke war die führende Kanzlei für Vertragsrecht in Norddeutschland, fünf Seniorpartner, mehr als zwei Dutzend Juniorpartner und Benedikt war seit sechs Monaten einer von ihnen.
„Kommen Sie rein, nur keine Scheu, wie war Ihr Wochenende?“
„Danke, Herr Ewaldt, wie immer, viel geschlafen, ein bisschen Sport.“
„Ja, ich war segeln, herrliches Wetter, wir sind erster geworden, halbe Bootsläge Vorsprung, war knapp. Was haben Sie denn auf dem Herzen?“
Benedikt merkte, wie er zu schwitzen anfing, der neue Anzug war unter den Armen eng geschnitten, das Hemd scheuerte am Hals, der Krawattenknoten war ihm heute nicht gelungen.
„Ja, äh, ich sag mal wie es ist. Ich möchte mit meiner Freundin nach Dänemark ziehen, wir haben ein Haus im Auge und ich würde gern von dort aus arbeiten.“
Herr Ewaldt sah in an, ohne sich etwas anmerken zu lassen. „Neue Freundin!? Gut, gut, das ist immer gut, wie lange denn schon?“
„Fast ein Jahr“, sagte Benedikt, das hörte sich für ihn in dieser Situation passender an als siebeneinhalb Monate.
„Gut, ein Jahr schon, klasse, aber wieso Dänemark, sind Sie auch Segler?“
„Nein, wir haben uns in das Land verliebt. Ich habe mir das überlegt, ich arbeite genau so viel wie hier und schalte mich zu den Konferenzen zu, wie die Kollegen aus den anderen Büros, Internet ist da oben überhaupt kein Problem.“
Ewaldt sah ihn lange an, aber Benedikt konnte nicht erkennen, was er dachte. In ihren Blickwechsel hinein klingelte das Telefon, Ewaldt nahm ab und sprach auf Englisch mit einem Klienten in Asien. Zwischendurch legte er die Hand auf den Hörer und sagte zu Benedikt, „alles klar, wir sprechen im Laufe der Woche weiter.“
Benedikt stand auf, öffnete die schwere, mit Leder ausgeschlagene Tür, und schloss sie vorsichtig hinter sich.
***
Die internationale Spedition, die Benedikt beauftragt hatte, kam überpünktlich, der große LKW stand im Dunkeln vor dem Haus an der Straße und ließ die Druckluftbremsen zischen.
Benedikts Freunde Henry, Sebi und Karl-Phillip kamen bald darauf, die beiden Freundinnen von Malou hatten sich gestern wegen anderer Verpflichtungen abgemeldet.
Sie diskutierten lange über die Kater, Benedikt hatte gelesen, dass Katzen am besten an ihrem gewohnten Platz bleiben und Malous Mitbewohnerin wollte sie gern behalten. Malou kam mit den beiden Katzenkörbchen nach unten und stellte sie neben die Tür, ging dann noch einmal hoch und holte ihre Tasche und den Rucksack. Sie stellte sich anschließend mit einem Kaffeebecher an den LKW und sah zu, wie der Fahrer die Kisten verstaute, die Henry und Sebi herunter schleppten. Benedikt und Karl-Phillip waren oben und bauten seinen Schreibtisch und das Bücherregal auseinander. Die Fachbücher hatte Benedikt selbst sorgsam verpackt, die Sammlung der historischen Erstausgaben deutscher Klassiker, die sein Vater ihm zum Examen geschenkt hatte, ebenfalls, nur bei der Kleidung half ihm seine Mutter und sie falteten zwei Nachmittage lang Anzüge, Hemden, Hosen und Wäsche in Koffer und Kleidersäcke.
Malou hatte in ihrer Tasche neben ihrer Kleidung die beiden Bücher, die sie seit vielen Jahren begleiteten: Das andere Geschlecht von Simone de Beauvoir sowie ein Meditationsbuch, das sie am Strand in Goa geschenkt bekommen hatte.
Nach eineinhalb Stunden war der LKW voll und fuhr ab. Malou und Benedikt folgten ihm in seinem Auto, ließen sich aber Zeit lassen und übernachteten in Flensburg bei einem Studienfreund.
***
Bei der Ankunft standen sie neben dem Auto, der LKW war noch nicht angekommen, der Fahrer hatte in der Nacht eine Pause einlegen müssen.
Benedikt hatte Sekt mitgebracht, aber vergessen, Gläser einzupacken, so dass sie den lauwarmen Sekt aus der Flasche in ihrem kleinen Gärtchen tranken. „Auf uns und unseren Bahnhof, wir sollten ihm noch einen Namen geben“, sagte Benedikt. Malou kicherte und verschüttete einen Teil des Sekts auf den Boden, die Ameisen kamen aus allen Ritzen, ein Festtag auch für sie. Sie stellte sich vor Benedikt auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf dem Mund. Er drückte seine Zunge gegen ihre, obwohl er seit dem Morgen in Flensburg die Zähne nicht geputzt hatte. Malou störte sich nicht daran, wie sie sich überhaupt wenig davon beeinflussen ließ, wie er roch und ob er frisch geduscht war.
„Ich freue mich so“, sagte sie, nahm seine Hand und drückte fest zu, „hier werde ich viel Inspiration für meinen Kräuter-Blog finden“. Dann holte sie die Kater aus den Körbchen und hielt sie auf dem Arm, ein schönes Bild wie er fand. Sokrates und Osho schauten etwas verwundert nach rechts und links, und drängten bald darauf vom Arm herunter. Malou setzte sie auf eine Bank und flüsterte ihnen zu: „Erkundet die Gegend meine Lieblinge, hier werden wir alle sehr glücklich sein.“
***
In ihrer ersten Woche: Sie teilten die Aufgaben untereinander auf, Benedikt übernahm es, im Dachstuhl die Isolierung zu befestigen, Malou wählte den Garten, „das mache ich gern, das liebe ich“.
Er riss die alte Stahlwolle heraus, die Atemschutzmaske festgezogen, kaum Luft bekommend, schwitzend und unter der Maske fluchend. Die Dachsparren sahen aus, als hielten sie noch eine lange Zeit, alles trocken, doch die Isolierung hatte sich an vielen Stellen gelöst, es würde kalt werden in ihrem ersten Winter. Zwei, drei warme Wochen, anschließend kämen der Wind und bald der Regen. Benedikt arbeitete konzentriert, schnitt die neue Folie zurecht, tackerte sie dann in die Aussparung zwischen den Streben und schaffte innerhalb von vier Stunden die westliche Längsseite. Auf dem Weg nach unten nahm er so viel von der alten Isolierung, wie er zu tragen vermochte, der Container war erst gestern vor die Tür gestellt worden. Darauf sah er im Garten nach den Fortschritten.
Malou saß in Meditationshaltung und mit geschlossenen Augen auf der hölzernen Terrasse, einen Wildblumenstrauß, den sie gepflückt hatte neben sich, dazu ein Stövchen mit der Teekanne ihrer Großmutter. Sie sah glücklich aus, der Garten aber unverändert.
Er spürte den Ärger sein Rückenmark hochkriechen, kniff die Lippen zusammen und presste nur ein "hallo" hervor. "Ist das schön hier", sie lächelte ihn mit ihrem breiten Mund an, "setz dich doch zu mir".
"Ich mache erst noch das Dach fertig", sagte er im Hinausgehen, stapfte die Stufen wieder hoch und zerrte anschließend an der Ostseite die Isolierung ab.
Eine Stunde später stand er erschöpft auf der Treppe, überlegte, zu ihr hinunter zu gehen, duschte sich dann aber doch erst den Schweiß und die Erschöpfung in dem alten Bad ab.
Als er herunterkam, saß Malou auf dem Sofa, die Blumen vor sich, die Beine angezogen, jetzt ein Glas Wein in der Hand. Sie lächelte ihn an, „wir sollten ganz schnell einen Kamin besorgen, ich mag das so sehr, wenn das Holz knistert“. Benedikt sagte nichts, er stand vor dem Kühlschrank, sah Teekanne und Stövchen noch auf der Terrasse stehen und riss sich eine Dose Bier auf.
***
Benedikt hatte in den letzten Tagen vor der Abreise einen größeren Fall übertragen bekommen. Zwei Fitnessketten beabsichtigten, sich zusammenschließen und einen Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln als Investor für die Expansion nach Südeuropa dazu zu nehmen.
Der Vertragsentwurf, von Benedikt in zwei Wochen mit langen Tagen geschrieben, umfasste inzwischen zusammen mit den Anlagen mehr als 400 Seiten. Trotzdem waren viele Fragen offengeblieben, die abgestimmt werden mussten. Benedikt sagte zu, sich von Dänemark aus darum zu kümmern.
Am Ende der ersten Woche, als Malou eine Mahlzeit improvisierte, baute Benedikt den Schreibtisch im Obergeschoss auf, stellte über das Mobiltelefon eine Verbindung zu dem Büro her und rief seine Mails ab. Der Investor listete fast 20 Änderungswünsche auf, die Benedikt einarbeiten und mit den beiden Fitnessunternehmen abzustimmen hatte, die Zeit drängte. Zum 1. Oktober sollte der Deal abgeschlossen werden, die Verträge mussten spätestens vier Wochen vorher fertig sein.
Malou kam kurz hoch, um ihm ein Tablett zu bringen. Sie hatte eine frische Gemüsesuppe zubereitet und das am Vortag gebackene Brot mit Antipasti belegt, Besteck und Serviette arrangiert und eine Kerze angezündet. Dazu ein Glas mit einem leichten Rotwein und eins mit Wasser, sie bestand darauf, mit ihm anzustoßen, und ließ ihn danach in Ruhe weiterarbeiten. Manchmal hörte er von unten Geräusche, schaffte es aber, sich auf die Änderungswünsche zu konzentrieren.
Nach einigen Stunden hatte er die meisten eingearbeitet und eine Stellungnahme zu den Punkten geschrieben, die zu Diskussionen zwischen den Partnern führen würden. Er mailte sie an alle Vertragspartner und klappte das Notebook zu, die Augen brannten ihm und er hatte Durst.
Er fand Malou auf ihrer Yogamatte im Schneidersitz vor dem Fenster sitzen und in den Abendhimmel schauen. „Benno, so habe ich mir das aber nicht vorgestellt, lass uns morgen bitte was zusammen machen, sonst bekomme ich schlechte Laune.“ Sie sprach, ohne ihn anzusehen, er trat hinter sie, legte ihr beide Hände auf die Schultern, drückte sie kurz und sagte „versprochen“.
***
Die Arbeiten schritten anfangs zügig voran, sie rissen in allen Räumen die Bretter von den Fenstern, kehrten den auf dem Boden liegenden Schutt zusammen, fegten die Spinnweben in den Ecken weg und richteten ein provisorisches Schlafzimmer ein.
In der oberen Etage war ein Bad mit einer Toilette ohne Sitz und einer Dusche ohne Vorhang. Nachdem Benedikt einen Boiler besorgt hatte, baute der Klempner ihnen diesen ein und es gab warmes Wasser, eine Erleichterung. Malou, die vorher überzeugt war, darauf keinen Wert zu legen, weil sie früher beim wilden Campen auch kein warmes Wasser brauchte, gab zu, dass es so „viel besser“ ist. Sie duschten einige Male zusammen, Benedikt war glücklich, sie so glücklich zu sehen.
Das Gemüse, für das sie ein Beet anlegten, wuchs allerdings nicht richtig an, dazu war es zu spät im Jahr. Benedikt brachte die Samen und Zwiebeln in den Schuppen, Malou würde sie im nächsten Frühjahr pflanzen.
***
Sie lag auf seiner Seite des Bettes, als er hereinkam und sah seitlich zur Wand, ein Bein über die Decke gelegt, der Lack an den Zehennägeln blätterte an einigen Stellen ab.
„Benno?“ Das o zog sie hoch und dehnte es wie eine dritte Silbe, meist ein Zeichen, dass sie etwas von ihm wollte. Manchmal war sie dann in Stimmung für Sex, normalerweise gab es aber zunächst eine Aufforderung oder sie wollte über einen von ihm achtlos dahingesagten Satz sprechen.
„Ja, Malou?“, auch er dehnte die letzten Vokale zu einer dritten Silbe.
„Ich finde, wir sollten mal eine Pause machen und verreisen, ich vermisse die Sonne.“ Es war einer der Herbsttage, in denen der Regen und der Wind daran erinnern, in Jütland zu sein. „Ich war mal um diese Jahreszeit auf Jamaica eingeladen, Freunde von Patrick hatten da ein Haus, wir sind Wasserski gefahren und konnten um Mitternacht noch draußen tanzen.“
Benedikt sagte nur „mhm“.
„Und da gab es so leckeres Essen, so richtig karibisch mit diesen leckeren Gewürzen.“ Sie sah ihn an mit einer Mischung aus wohliger Erinnerung und Aufforderung, das Bein hatte sie nun angezogen.
„Malou!? Jütland ist nicht Jamaica. Hier gibt es Bahnhöfe, dort nicht. Und wir haben hier einen Bahnhof gekauft, ich kann mich erinnern, dass Du das auch so gewollt hast.“ Er war selbst über seinen energischen Tonfall erstaunt, und merkte, wie ihm der Puls in den Ohren schlug.
Malous Blick veränderte sich, die Pupillen wurden größer, sie legte die Hände um das angezogene Bein. „Och Benno“, dieses Mal nur zwei Silben, „sei doch nicht so streng mit mir, ich meinte ja nur. Komm her und halt mich mal fest.“
***
An einem Freitag kaufte er im SuperBrugsen in der Nachbarstadt eine Flasche Barolo, ein Luxus, den er sich selten erlaubte. Malou war überrascht, sie merkte, dass es ihm wichtig war und kostete davon, schob das Glas dann beiseite und blieb beim Edelsteinwasser, das sie in der Vollmondnacht zuvor angesetzt hatte.
Sie saßen auf ihrer Terrasse auf den Stühlen aus dem Baumarkt, erst im nächsten Jahr wollten sie Möbel von einem Tischler anfertigen lassen. Er sah in den Abendhimmel, es war inzwischen kühl, doch der Wein wärmte ihn von innen und er fühlte sich eins mit sich. Die Sterne, die besser zu sehen waren als in Hannover, erschienen ihm unwirklich, der Mond stand leuchtend daneben, wie ein Zuschauer. Er wünschte sich Musik, die Bluetooth Box lag in Greifweite, er wusste aber, dass Malou das stören würde.
Er dachte an seine Freunde, die heute Abend im Old Trafford zusammensaßen, einige Runden Kickern, dann Dart, dann Whisky. Malou hatte sie gemocht, vor allem Sebi, war aber bald gelangweilt von den immer gleichen Themen und kam bald nicht mehr mit. Er ging auch seltener hin, wurde anfänglich vermisst, sie zeigte ihm ihre Welt und seine Welt wurde ihnen beiden unwichtiger.
Henry sagte ihm bei einer Hochzeitsfeier die Meinung, draußen wurde es schon hell, die Worte über Freundschaft, Loyalität und Selbstverleugnung perlten aus seinem Mund direkt in Benedikts Herz. Er nahm sich vor, mit Malou darüber zu sprechen, doch am nächsten Tag lag sie mit Migräne im Bett und er wollte sie nicht belasten. Außerdem fürchtete er ihre Reaktion, sie wurde im Streit persönlich und wirkte dann so verletzt, dass er ihr nicht böse sein konnte. Einige Tage später war der Gedanke verschwunden wie eine Nebelwolke, die sich auflöst, aber heute Abend war er wieder da.
Sie saß neben ihm und schrieb im Schein einer Kerze in ihr Tagebuch. Er leerte sein Glas und füllte es erneut auf, es war der Rest aus der Flasche, trank einen weiteren Schluck und war kurz davor, sie anzusprechen, aber sie war vertieft in das Schreiben und Benedikt wusste schon nicht mehr, was er ihr sagen wollte. Er trank aus und murmelte „mir ist kalt, ich gehe rein“. Sie schien ihn nicht zu hören.
***
Eine Fahrt zum Baumarkt in der fünften Woche. Benedikt steuert den geliehenen Transporter auf der rechten Spur, die Einheimischen überholen ab und an. Die Sonne scheint und im Autoradio schrebbelt auf dem Classic-Rock-Sender A walk in the park, der Wind bläst von beiden Seiten durch die offenen Fenster in das Auto.
Malou hat die Füße in Turnschuhen gegen das Armaturenbrett gestellt und sieht auf der Beifahrerseite aus dem Fenster in die Ferne. Sie spielt in ihrem Schoß mit ihrer Sonnenbrille, die sie den ganzen Tag auf dem Kopf oder in den Händen hält, aber nicht aufsetzt. „Benno? Was mich ja total abtörnt an diesem Land sind diese Schweine-KZs hier überall bei den Bauern, das ist so widerlich.“
Benedikt sagt nichts, doch er hat den Geschmack der Hot Dogs auf der Zunge, die er in der letzten Woche beim Supermarkt gekauft und schnell gegessen hat, als er allein einkaufen war, zwei für 40 Kronen.
Er zeigt in der Ferne auf eine Windmühle. „Guck mal, das ist schön, wie schnell der Wind die Flügel bewegt.“
***
Sein Bruder rief ihn spät am Sonntagabend an, als er sein Buch zur Seite legte und im Begriff war, das Licht zu löschen. Das Telefon war auf lautlos gestellt, doch das Display blinkte in dem Moment, in dem er sich zum Lichtschalter drehte.
„Jerre, bist Du das?“
„Benne, gut dass ich Dich erreiche.“
Jeremias hielt sich nie lange mit Begrüßungen oder Verabschiedungen auf, seine Sprache war geprägt von den amerikanischen Polizei- und Gerichtsserien, die er nahezu ständig schaute. „Hör zu, Du musst sofort kommen.“
Benedikt hatte in den verschiedenen Stationen seiner beruflichen Laufbahn gelernt, dass kaum etwas so dramatisch ist, wie es sich für den Betroffenen unter dem Eindruck des Ereignisses darstellt. Sein Bruder war mehr als sechs Jahre jünger und neigte von jeher zu Übertreibungen.
„Was ist denn los, Shorty?“
„Papa musste heute Nachmittag ins Krankenhaus, wahrscheinlich Blinddarm, er hat richtige Schmerzen.“
Benedikt legte den Kopf in den Nacken, Malou sah ihn von der Seite müde blinzelnd an. „OK, und da ist er auch noch?“
„Ja, klar, die haben ihn direkt dabehalten, er soll morgen früh um sieben operiert werden.“
„Das ist gut, dass Du anrufst, aber ich kann jetzt nicht kommen. Es sind mehr als zehn Stunden Fahrt, wenn ich da bin ist der Blinddarm schon raus und tun kann ich ohnehin nichts. Wie geht’s Mutter?“
„Die ist ganz cool, die kennt das ja von sich selbst, vor zwei Jahren, wenn Du dich erinnerst.“
„Klar erinnere ich mich. Geh schlafen, Shorty, und sag mir morgen Früh Bescheid, wenn er wieder aufwacht. Ich rufe ihn dann gegen Abend an, OK?“
„Alles klar, Alter, bis morgen.“
Benedikt löschte das Licht und legte Malou die Hand auf den Kopf. „Ist nichts, schlaf gut.“
***
Es war Samstagabend, sie hatten den Tag damit zugebracht, zwei der Räume im Obergeschoss zu tapezieren. Malou hatte eine pastellfarbene, leicht ungleichmäßig quer-gestreifte Tapete bestellt, es fehlte aber am Ende eine Rolle, so dass sie beschlossen, eine Wand stattdessen lindgrün zu streichen. Am Sonntag waren alle Geschäfte geschlossen, sie würden morgen nicht weitermachen können.
Malou sah ihn auffordernd an, „komm, ich lege uns die Karten“.
Benedikt war erschöpft von der körperlichen Arbeit und der Telefonkonferenz, die er am Mittag auf Englisch mit den Vertragspartnern moderiert hatte. Sie saßen sich auf dem Sofa gegenüber, Malou drückte ihren linken Fuß sanft in seinen Schritt und bewegte die Zehen, er war angenehm müde und brummte. „Ehrlich, jetzt? Können wir es uns nicht einfach ein bisschen gemütlich machen?“
„Das können wir hinterher, ich möchte mich vom Tarot inspirieren lassen.“
Benedikt nahm ihren Fuß und presste ihn sich stärker zwischen die Beine, „aber wir machen später genau an dieser Stelle weiter.“ Sie strahlte ihn an, „genau da, das machen wir“.
Malou hob den Kartenstapel auf, der neben dem Sofa auf dem Boden lag, und ihr Buch dazu, es war auf Englisch geschrieben, das verkomplizierte es manchmal.
„Brauchen wir eine Frage oder schauen wir einfach was kommt?“, fragte sie ihn.
„Entscheide Du, aber gern nicht so ganz lang, vielleicht gibt es ja eine kurze Version“, entgegnete er.
„OK, jeder nur eine Karte, keine Frage, einfach etwas für die aktuelle Situation. Mit geschlossenen Augen ziehen, mit links, und verdeckt liegen lassen.“
Benedikt atmete tief ein und versuchte sich zu konzentrieren. Die Tarotkarten waren recht groß und fest, Malou hatte sie in Flensburg in einem kleinen Esoterikladen in einem der Höfe gekauft, während er sich die Haare schneiden ließ. Er hielt die gezogene Karte fest, nahm den Stapel und ließ Malou ziehen.
„OK, ich würde gern anfangen“, sagte sie und drehte ihre Karte schon um. „Ah, der Turm.“
Benedikt erkannte einen Turm, aus dem zwei Menschen zu stürzen schienen, nachdem ein Blitz eingeschlagen war.
Für Malou lag die Karte verkehrt herum, „das bedeutet, dass sie grundsätzlich zutrifft, es aber einen problematischen Aspekt dabei gibt.“ Sie blätterte in ihrem Buch, „ich hab das schon früher oft gelesen, möchte es aber gern mit Dir gemeinsam interpretieren“. Sie legte die Stirn leicht in Falten und kniff die Augen zusammen, während sie las und dabei für ihn übersetzte. Benedikt hatte zwei Semester an der Faculty of Law in Oxford studiert, sein Englisch war besser als ihres, aber er wollte ihr die Freude nicht nehmen.
„Der Turm ist, äh, ein Symbol für unsere Gedanken und unser Weltbild. Wir sind darin eingesponnen. Der Blitz ist ein Zeichen, dass, äh, äußere Umstände unser Weltbild erschüttern oder zerstören können, wenn wir nicht flexibel mit unserem Weltbild umgehen. Die beiden Menschen, die dort herunter fallen, symbolisieren zwei unterschiedliche Menschen: Die einen, die sich nur auf das Geistige verlassen und die anderen, die sich nur aufs Materielle stützen. Hey, das ist doch toll, das passt super für uns, Du hast ja auch schon angefangen, Dich etwas zu verändern, das freut mich, dass die Karte uns hier noch einen Schub gibt. Und hier steht noch, dass, äh durch die Lage zwischen dem Teufel und dem Stern der Turm einen Wechsel von Überheblichkeit hin zu, äh, was heißt nochmal humility?“
„Demut.“
„... ja genau, von der Überheblichkeit zu Demut darstellt. Das ist toll.“
Benedikt vermochte ihr so schnell nicht zu folgen und er fühlte sich zu keiner der beiden Gruppen gehörig, weder nur geistig, noch ausschließlich materiell orientiert. Er ließ sich aber von ihrer Begeisterung anstecken und lächelte in ihr strahlendes Gesicht. Sie spitzte die Lippen und er beugte sich vor, um sie zu küssen, „jetzt Du“.
Benedikt drehte seine Karte um, darauf war ein Ritter, der einen Ast in der Hand hielt und auf einem Pferd saß, das vorn hochstieg. Er sah Malou fragend an.
Ihr Ausdruck veränderte sich abrupt, ihre Augen wurden feucht und ihr Blick wechselte flatternd zwischen der Karte und ihm. Sie stand auf und trat an das Fenster, sie sah in die Nacht und stöhnte leise, „oh nein, nicht das“.
„Was ist denn, Moumou?“
Sie drehte sich um, eine Träne rann ihr über die Wange. „Ich geh schon mal hoch.“
Benedikt sah ihr nach, sein Herz klopfte. Er nahm ihr Buch und fand nach einigen Minuten The Knight of the Bars, den Ritter der Stäbe. Element Feuer, hitzig, untreu, emotional, aufbrausend, leidenschaftlich. Keine der Eigenschaften brachte er mit sich in Verbindung.
Als er sich eine halbe Stunde später ins Bett legen wollte, sah er, dass Malou ihre Decke vom Bett genommen hatte und im Nebenraum auf ihrer Yogamatte schlief.
***
„Zwei Stunden brauche ich für mich allein, ich muss das leider heute fertig machen, die Aufsichtsratssitzung ist schon morgen und es muss noch übersetzt werden.“
Malou sah von ihren Tarotkarten auf, „klar, kein Problem.“
Benedikt vertiefte sich in den Vertragsentwurf, eine Kanne Tee neben sich, auf dem Schreibtisch mehrere Stapel der Entwürfe mit Anmerkungen und Klebezetteln darin, die Systematik hatte er sich im Referendariat angeeignet.
Nach einer knappen Stunde kam Malou herein, sie war frisch geduscht, ihr Haar noch nass und sie trug nur einen einfachen, weißen Slip. „Findest Du mich eigentlich schön? Du hast noch nie was zu meiner Figur gesagt.“ Sie stand in der Tür, die Beine verschränkt und wippte auf den Zehenspitzen, die Hände vor dem Bauch gefaltet und drückte damit ihren kleinen Busen nach vorn.
Benedikt sah sie über den Rand seiner Brille an, „klar, sehr sogar.“
„Und findest Du nicht, dass mein Hintern dick geworden ist?“, sie drehte sich um, der String fast nicht zu sehen zwischen den Pobacken, das Tattoo mit den beiden Schwalben auf der rechten Seite.
„Er ist perfekt.“
„Ja?“
„Ja, sehr perfekt.“
„Willst Du nicht vielleicht eine Pause machen und wir machen es uns gemütlich? Ich mach‘s Dir auch mit dem Mund.“
Benedikts Herzschlag beschleunigte sich, er sah von ihr weg auf den Schreibtisch. „Ehrlich, Moumou, total gern, aber es geht nicht, ich muss das spätestens um 14 Uhr an das Büro mailen.“
„Menno“, sie drehte sich um, zog die Tür hinter sich zu und ließ ihn zurück.
Zehn Minuten später sah er nach ihr, sie hatte sich angezogen, saß am Fenster, ihr Tagebuch vor sich und schrieb mit durchgedrücktem Rücken energisch hinein. Benedikt blieb in der Tür stehen, wollte sie nicht stören und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Nachdem er lange auf seine Unterlagen gestarrt und die Gedanken hatte schweifen lassen, meldete er sich um halb drei bei seinem Büro und dem Übersetzer, er würde mindestens zwei weitere Stunden brauchen.
***
Der Besuch war seit Wochen geplant. Benedikts Bruder Jeremias und dessen Freundin Sarah hatten sich für ein langes Wochenende angesagt, Malou war einverstanden. Sie richteten ein Gästezimmer her, Jeremias war unkompliziert, Sarah kannten sie kaum.
Benedikt besorgte Fahrräder für die beiden und Malou kaufte im Bioladen Gemüse, Kokosmilch, Lachs und Koriander ein, sie hatte ein indisches Rezept aus einer Zeitschrift ausgerissen und arbeitete sich durch die Zutatenliste. „Schiete, Benno, ich hab die Kichererbsen vergessen, kannst Du schnell fahren?“
Die Fragen von Malou klangen fast immer wie Aufforderungen, eine Angewohnheit, die ihm in ihren ersten Tagen aufgefallen war und ihn zunehmend störte.
„Sorry, ich hab in einer halben Stunde eine Telefonkonferenz, am Montag ist das Partnermeeting und ich muss den Fall vorher nochmal durchgehen. Lass sie einfach weg.“
„Die kann ich nicht weglassen, das ist ein Kichererbsenchutney, das kann man ja wohl kaum ohne Kichererbsen machen.“ Ihre Stimme begann, etwas schrill zu werden.
„Dann fahr Du doch schnell, nimm das Auto“, schlug er ihr vor.
„Benno, das ist echt typisch, ich geb‘ mir alle Mühe für Deinen Bruder und Du tust nichts“, entgegnete sie.
Er sah sie an, ihr Blick hatte sich verändert, er hatte öfter erlebt, dass sie anlasslos wütend wurde und er atmete tief ein.
„Pass auf, lass nicht die Kichererbsen weg, sondern das ganze Chutney, wir essen den Lachs mit dem Gemüse und es wird super schmecken.“ Benedikt hatte es eilig, das Telefon schellte bereits. Nach einigen Minuten stellte er sich ans Fenster, das Headset auf dem Kopf, die Stimme seines Kollegen im Ohr. Die gegnerische Seite hatte kurzfristig einen neuen Antrag eingereicht, eine Stellungnahme war erforderlich.
Aus dem Augenwinkel sah er Sokrates, der sich über etwas hermachte, das Malou ihm zuwarf, offenbar war es der Lachs.
***
Sie kam ihm verändert vor, nicht mehr so lebhaft.
„Moumou, hast Du was?“
„Ich hab‘ Osho schon ein paar Tage nicht gesehen, überlege gerade, wann zuletzt.“
Die Katzen kamen gegen Abend meist durch die Klappe in der hinteren Gartentür in die Küche gehuscht, Sokrates sprang gern auf Benedikts Schoß, Osho kugelte sich vor dem Kamin zusammen.
Benedikt sah sie an, „war er nicht vorgestern, nee, das war, als wir einkaufen waren, da haben wir ihn doch hinten auf dem Baumstamm gesehen“.
Malou sah nach draußen. „Stimmt, aber das war ja schon am Samstag, das ist fünf Tage her, so lange war er noch nie weg.“
Benedikt lief mit ihr ums Haus herum, sie riefen beide und Malou pfiff zusätzlich, das lockte ihn manchmal hervor, heute aber kam er nicht.
Am Nachmittag setzte sie sich im Arbeitszimmer ihm gegenüber auf den Stuhl an den Schreibtisch. „Ich hab ein ganz blödes Gefühl, Benno.“ „Wegen der Katze?“ „Wegen Osho. Können wir noch mal gucken gehen?“
Benedikt speicherte die Datei ab und mailte an sein Büro, dass er eine Stunde zur Pause sei. Im Garten lag Sokrates an seinem gewohnten Platz und hob kurz den Kopf, als sie an ihm vorbei über die Gleise gingen.
In dem Waldstück gleich gegenüber hatten sie zweimal einen Fuchs gesehen und morgens kamen Rehe bis fast an ihr Haus. Osho fanden sie dort nicht, obwohl sie das gesamte Dickicht durchforsteten und Malou sich dabei den Handrücken aufriss. Benedikt überzog seine Pause um eine halbe Stunde und setzte sich dann wieder an den Schreibtisch, Malou blieb bis zur Dämmerung im Wald.
Am nächsten Morgen nahm Benedikt das Auto, um im Nachbardorf das Postfach zu leeren und ein Paket abzuholen, seine Eltern hatten etwas zum Geburtstag angekündigt.
Nachdem er mit dem Wagen auf der Landstraße vor dem Haus über die erste Kuppe fuhr, sah er am Straßenrand ein Bündel. Noch während er dabei war, das Gesehene zu verarbeiten, zog sich sein Inneres zusammen und ihm war unmittelbar bewusst, dass Malou dies nicht nur als Unfall sehen würde. Er bremste abrupt, hielt am Rand der Straße an und ging zögerlich auf Osho zu. Mit trockenem Mund trat er näher, ein Schwarm metallisch blau-grüner Fliegen umschwirrte den leblosen Körper, der Bauch war aufgeplatzt, der Kater war sicher unmittelbar nach dem Aufprall tot gewesen.
Benedikt war mehrere Minuten nicht in der Lage, den Blick abzuwenden, holte schließlich ein Tuch aus dem Kofferraum, nahm damit das Bündel auf und legte es einige Meter abseits der Straße in einen Graben. Er deckte es mit Laub und Zweigen zu, sein Hals schnürte sich zusammen, er atmete tief ein und fuhr langsam weiter.
Malou erwartete ihn vor dem Haus, sie hielt Sokrates an sich gedrückt und sah mit flatterndem Blick die Straße auf und ab, „wenn Osho nicht wiederkommt, drehe ich durch.“
Benedikt nahm sie in den Arm, „er kommt ganz sicher bald zurück.“
***
„Was ist denn los, Moumou?“
Malou saß mit angezogenen Knien auf dem Sofa und starrte in eine Stumpenkerze, die halb heruntergebrannt vor ihr stand. Sie sah nicht auf, als er sich neben sie setzte. „Ach, Benno ...“.
„Hm? Was ist los?“ Benedikt legte seine Hand unten auf ihren Rücken, das mochte sie gern in solchen Momenten, jetzt aber drückte sie sich ins Hohlkreuz.
„Ich weiß auch nicht, das gefällt mir alles gerade nicht so.“ Er sah auf ihren Hinterkopf, die Haare hatte sie hochgesteckt, ihre kleinen Ohren schimmerten im Gegenlicht der Kerze.
„Was denn nicht? Was gefällt Dir alles nicht?“.
„Ach, ich weiß nicht. Dass Osho weg ist, vielleicht ist das auch ein Zeichen, dass das hier unter doch keinem so guten Stern steht. Lass mich einfach, vielleicht muss ich nur mal weinen, dann geht’s schon wieder.“
Oben im Büro klingelte das Telefon. „Du, ich muss da rangehen. Heute Abend machen wir was Schönes, OK?“ Im Aufstehen drückte er ihre Schulter, sie kam ihm knochiger vor, als er sie in Erinnerung hatte.
***
Nachdem sie ihm den Brief übergeben hatte, bestand Malou darauf, abzureisen, ein paar Tage warten, bis Benedikt seine Unterlagen ebenfalls sortiert und gepackt hatte, wollte sie nicht mehr. „Ich hab `ne Einladung nach Sardinien, da ist es jetzt noch warm, mein Ticket ist in Kopenhagen am Schalter hinterlegt.“
Er fuhr sie zum Bahnhof, Sokrates saß auf ihrem Schoß. Benedikt dachte über einen passenden Satz nach, aber Malou schaltete das Radio ein und sie hörten auf dem Classic-Rock-Sender den Logical Song.
Vor dem Bahnhof waren die Marktstände aufgebaut, so dass kein Parkplatz frei war. Malou sagte, „lass mich einfach an der Ecke rausspringen“. Er stoppte den Wagen, sie küsste Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand und drückte sie auf ihr Herz. „Mach’s gut Benno und grüß mir Hannover.“
Sie steckte die Nase in das Fell von Sokrates, setzte den Kater dann auf Benedikts Schoß und verschwand im Bahnhofsgebäude, ohne sich noch einmal umzudrehen. Benedikt atmete tief aus und beugte sich zur Beifahrerseite, um die Tür zu zuziehen, die nur halb ins Schloss gefallen war.