Stilles Erwachen
Er kann diese Fratze, die ihm täglich hämisch entgegengrinst, nicht mehr ertragen.
Seine Augen stechen ihm wie glühende Nägel entgegen, jeder einzelne Gesichtsmuskel scheint aus Draht, alles ist wie versteinert – die Ohren, die niemals lernten zu hören, die markante Nase, die niemals einen Duft wirklich roch und der Mund, der seit Jahren unberührt geblieben ist.
Sein Gesicht erscheint ihm wie eine in Blei gegossene Maske, auf Knopfdruck ein Lächeln herausschneiden, oder sein gekonnter interessierter Ausdruck, bei dem er die Augen samt Augenbrauen besonders hochzieht.
„Wo ist das Lebendige, das Natürliche – das Herzliche? Was ist das Herzliche?“
Bei dieser Frage greift er mit einer gezielten Bewegung den Metallaschenbecher und wirft ihn gegen den einzigen Spiegel in seinem Haus. Er sinkt zusammen, geschüttelt von Heulkrämpfen, die ihm das Atmen erschweren und seine Adern im Gesicht schwellen lassen.
Als er erwacht ist es schon später Nachmittag. Er zieht seinem Körper einen Mantel über, zwängt die Füße in die nächstbesten Schuhe und verlässt das Haus. Mit leerem Kopf läuft er durch die Gassen des Ortes in dem er nun seit einem halben Jahr wohnt, aber dessen Namen er nicht einmal aussprechen kann, da er ihn noch nie von einer Stimme hat klingen hören. Ihm begegnen alte Männer und Frauen, Paare mit Kindern, die sich necken und spielen – aber sie erscheinen nur als Phantome, die dunkel und schnell an seinen Augen vorbei schleichen bis sie verschwinden.
„Entschuldigen Sie bitte“, hört er plötzlich eine Stimme, jedoch verunsichert, ob wirklich er gemeint ist. Anstatt sich umzudrehen geht er etwas langsamer – so hält er sich die Möglichkeit offen, unbemerkt weiterzugehen, falls er nicht gemeint ist.
„Entschuldigung“, tönt es wieder, „sind sie nicht Herr Rösler?“
Jetzt ist es definitiv. Etwas irritiert dreht er sich um und steht einer jungen Frau gegenüber, die ihn mit freundlichen Augen anlächelt. Ihre lockigen, braunen Haare fallen ihr leicht ins Gesicht, um die Schulter trägt sie eine offene Wolltasche mit allerhand Lebensmittel drinnen.
„Ich wollte Sie nicht erschrecken, aber ich sehe Sie ja so gut wie nie. Sie wohnen jetzt schon einige Zeit hier und wir haben uns noch nie unterhalten – ich bin Frau Sollberg, ihre Nachbarin, und wohne in dem Haus mit dem kleinen Gemüsegarten links neben Ihnen.“
„Ach ja?“ entgegnet er und zieht dabei automatisch seine Augenbrauen hoch. „Ich bin viel am Arbeiten“, fährt er fort, „wenn ich dann müde nach Hause komme bleiben für andere Dinge leider wenig Zeit.“
„So? Ich denke, man hat immer die Zeit, die man sich nimmt. Man muss sich nur dafür entscheiden – und gerade zum genießen sollte man sich doch seine Zeit nehmen, sonst entgehen einem viele schöne Dinge, an denen man sich erfreuen kann...“
Wieder lächelt sie, und er merkt, dass es ein ehrliches Lächeln ist , eines dass irgendwie zu ihr passt.
„Was arbeiten Sie denn wenn ich fragen darf?“
„Ich bin Pathologe“ antwortet er, als sei es etwas ganz Selbstverständliches, fixiert dabei jedoch ihr Gesicht, um ihre erste Reaktion nicht zu verpassen.
Ihr Lächeln entweicht in einem Zug und sie schaut ihn verdutzt an: “Und das macht Ihnen Spass?“, platzt es aus ihr heraus, „Jeden Tag tote Menschen - und das machen Sie sicherlich schon länger – ist das nicht ein wenig...farblos? – Oh, tut mir Leid, ich wollte Ihnen nicht zu Nahe treten...- aber so eine Tätigkeit ist nun mal ungewöhnlich...“
Er antwortet nicht. In seinem Kopf kreisen nur zwei Schlagwörter: Spass – farblos – Spass – farblos....er hatte sich noch nie wirklich Gedanken darüber gemacht, ob ihm seine Arbeit Spass macht, ob sie farblos ist - aber was geht das diese Frau überhaupt an?
„Ich muss jetzt weiter“ sagt er in einem kühlen Ton, den er eigentlich nicht angemessen fand, der ihm aber einfach herausrutschte. Im Grunde findet er diese Frau sehr sympathisch, aber irgend etwas hält ihn davon ab, sich mit ihr weiter zu unterhalten.
Sie scheint seine gedankliche Abwesenheit zu spüren und streift sich verlegen die Haare hinters Ohr:
„Vielleicht haben Sie ja mal Lust auf einen Kaffee vorbeizukommen, ich würde mich wirklich freuen, meinen Nachbarn besser kennenzulernen.“
„Ja, vielleicht bei Gelegenheit...- einen schönen Abend noch.“
Nachdem sie sich verabschiedet hatten, geht er noch eine Weile durch die leer gewordenen Gassen und gelangt an ein kleines Waldstück. Inzwischen ist die Sonne untergegangen und ein kühler Wind weht ihm entgegen.
Das war das erste Gespräch, das irgendwie anders war seitdem er hierher gezogen ist. Ansonsten reduzierte sich jeder gesellschaftliche Kontakt auf die Kassierer im Supermarkt und einige Kollegen, denen er seine Befunde über Todesursachen mitteilte.
Eigentlich möchte er sie gern besuchen gehen, aber er spürt die innerliche Hemmschwelle, sein Einzelgängerleben, das ihn mit der Zeit geprägt und vor Gesellschaft scheu gemacht hat. Ein Gefühl von Unsicherheit überkommt ihn. Sie hatte ihn kritisiert, obwohl sie ihn gar nicht kannte, steht denn das Wort „farblos“ auf seiner Stirn geschrieben? Und das Schlimmste war: er konnte ihr nicht einmal widersprechen – ganz im Gegenteil, ihre Worte klangen sogar sehr gut.
„- Man muss sich nur dafür entscheiden - ... - Zeit nehmen zum genießen - ... - Spass... - erfreuen“ – hat er jemals darüber nachgedacht, dass es noch eine andere Möglichkeiten gab, als dieses Leben in der Einsamkeit zu führen, in der alles nach Mustern abläuft?
Noch andere Möglichkeiten, als das ständige Sezieren an totem Fleisch? Dass vielleicht gerade seine Arbeit, dieses Farblose und Eintönige, dieses Leblose – dass sich vielleicht gerade das an seinem Körper, in seinem Gesicht und in seinem Geist festgenagt hatte, ihm entgegengrinste, ihn verformt hatte?
Tausend Gedanken stürzen in diesem Moment auf ihn herab. Es beginnt zu regnen und die völlige Dunkelheit breitet sich aus.
Er spürt, wie sein Fuß gegen einen verdeckten Felsstein tritt und fällt zu Boden.
Ganz still liegt er zwischen nasser Erde und Gräsern, nichts bewegt sich von allein. Nur der Regen und der Wind bringen die Blätter der Bäume in Bewegung und geben Geräusche von sich. Er traut sich kaum zu atmen, bis ihm der Geruch von nassem Holz in die Nase steigt.