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Stille
Ich schlage die Tür hinter mir zu. Stille. Ich sauge sie in mich auf, als ich noch einen Augenblick auf der Treppe vor dem Haus verweile. Es ist schon dunkel. Die laue Spätsommerluft weht in sanften Brisen, fast schüchtern. Sie kitzelt meine Haut, ist angenehm warm und doch erfrischend zugleich. Noch einmal atme ich tief durch. Dann gehe ich los, die kurze Treppe hinab und den schmalen Weg bis hin zum Gartentor. Es ist eine innerlich Genugtuung, wie es hinter mir ins Schloss fällt. Ich blicke nicht zurück. Mit jedem Schritt bin ich jetzt weiter von zuhause weg. Mit jedem Schritt fühle ich mich wohler.
Soll sie sich doch alleine darüber aufregen, dass ich beim Abräumen des Abendessens „mal wieder“ Kerzenwachs über ihre schöne Tischdecke verschüttet habe. Früher hätten wir darüber gelacht, gemeinsam gelacht. Ich weiß noch, als sie mich auf dem Weg zu meinem ersten Vorstellungsgespräch begleitet hat. Liebevoll hat sie mir Mut zugeredet, während ich alter Schussel ihr vor Aufregung den mitgenommenen Kaffeebecher über das Kleid gekippt habe. Es war ihr Lieblingskleid. So viel wusste selbst ich als modisch Unbedarfter. Keinen Ton habe ich rausgebracht. Nur erschrocken anstarren konnte ich sie. Ich dachte damals, die Welt würde untergehen. Doch sie lächelte nur, nahm mein Gesicht in beide Hände und sagte: „Ist doch nicht so schlimm. Kleider kann man waschen.“
So war sie damals. Liebevoll. Fürsorglich. Ich glaube, sie hätte eine tolle Mutter abgegeben. Später haben wir dann erfahren, dass unser Kinderwunsch für immer einer bleiben wird. Das war der Anfang vom Ende. Stück für Stück hat sie sich seither das Haus zu ihrer Familie gemacht. Tischdecken und Porzelanvasen sind jetzt ihre Kinder. Der tägliche Wohnungsputz ihr Ritual. Für mich ist da kein Platz mehr. Vergesse ich mal, mir die Schuhe vor der Haustür abzutreten, werde ich wegen drei Sandkörnchen auf dem Läufer schon im Hausflur zusammengefaltet. Es ist, als wäre ich ein Fremdkörper im eigenen Heim. Ein ungebetener Gast, der, egal was er tut, eigentlich nur alles falsch machen kann.
Ich merke, wie ich mit den Zähnen knirsche. Meine Stirn liegt in Falten. Anspannung nur vom ans zu Hause denken. Doch dazu gibt es jetzt keinen Grund mehr. Zumindest nicht für die nächsten zwei, vielleicht drei Stunden. Da vorne ist er schon, mein geliebter Park. Ich spüre, wie meine Mundwinkel in die Höhe zucken. Es ist schon witzig. Die langen, schwarzen Gitterstäbe des Zaunes lassen ihn von außen fast wie ein Gefängnis wirken. Doch das Gegenteil ist er. Nur hier bin ich frei. Das schwere Eisentor quietscht leise, als ich es öffne um hineinzuschleichen. Hier gibt es nichts als Wege, Wiesen, Bäume und vereinzelte Laternen, die, einsam und stumm wie ich, ihr schummriges Licht in die Dunkelheit werfen. Eine leichte Böe pfeift durch die Baumkronen. Sie wiegen sich im Wind. Reiben ihr Laub aneinander, raschelnd, so als würden sie mich wohlwollend begrüßen.
In der Ferne ertönen jetzt vereinzelte Knalle. Meine Mundwinkel rauschen hinab. Dumme Halbstarke wahrscheinlich, die ihre letzten Reste von Silvester verheizen. Angewidert wende ich mich ab und gehe in die entgegengesetzte Richtung. Ich bin lieber alleine mit mir. Ich laufe los. Planlos, wie üblich. Es ist still. Nur das leise Knirschen des sandigen Weges unter meinen Schuhen. Ich könnte auch mit geschlossenen Augen gehen. Nur dem Knirschen folgen. Wo genau ich bin, wo ich hingehe, kümmert mich ohnehin nicht. Ich biege ab. Mal links, mal rechts. Es sieht alles gleich aus in der Dunkelheit. Nach einiger Zeit erreiche ich einen Ausgang. Es ist nicht der, durch den ich hinein gekommen bin. Zum Glück nicht. Bloß nicht nach Hause. Bloß nicht zu ihr. Lieber irre ich hier in Stille umher, bis ich irgendwann zufällig den Weg zurück finde.
Eine Joggerin kommt mir entgegen. Es ist selten, dass ich hier zu dieser Uhrzeit anderen Menschen begegne. Ich seufze innerlich, richte den Blick auf den Boden und versuche sie zu ignorieren. Ihre Schritte dröhnen wie Kanonenschläge in meinen Ohren, als sie auf mich zu trottet. Langsam, Schritt für Schritt, immer lauter werdend. Lauf vorbei, lauf einfach an mir vorbei! Sie ist jetzt fast an mir vorüber, ihr Stampfen kaum noch zu ertragen. Plötzlich ertönt ein lauter Knall. Nicht tief und dumpf wie ihre Schritte zuvor, sondern hell und krachend. Was zur Hölle war das? Es kam von hinter mir. Blitzartig blicke ich zurück, doch ich kann nichts und niemanden erkennen. Diese verdammten Jugendlichen bestimmt. Vielleicht gehe ich doch wieder nach Hause. Nochmal ein Geräusch. Diesmal ein dumpfes Klatschen, so als würde ein Sandsack zu Boden fallen. Ich blicke wieder nach vorn. Die Joggerin liegt auf dem Bauch, das Gesicht im Sand. Ich zögere. Ist sie jetzt vor Schreck in Ohnmacht gefallen? „Hallo? Geht es Ihnen gut?“ Keine Antwort, keine Regung. Ich gehe langsam auf sie zu. Irgendetwas scheint jetzt unter ihrem Kopf hervorzukommen. Behutsam kriecht es heraus. Langsam, zähflüssig bahnt es sich den Weg zu einer immer größer werdenden tief roten Pfütze. Es ist Blut. Eine Menge Blut. Der Anblick ist paralysierend. Das kann nicht vom Sturz sein. Und dann dieser Knall. Die Einsicht fährt mir plötzlich wie ein Schock durch alle Glieder: Hier schießt jemand auf uns und ich bin der nächste! Panisch blicke ich mich um. Ich weiß nicht wohin, aber auf jeden Fall raus aus der Schusslinie. Ich stürze nach vorn, überschlage mich beinahe, weil meine Beine langsamer sind als der Rest von mir. Mit den Händen stütze ich mich auf dem Boden ab um nicht zu stürzen. Der Sand auf dem Weg ist warm und schroff. Ich richte den Blick auf. Vor mir am Wegrand ein mächtiger Baum. Halb laufend, halb kriechend hechte ich dahinter und setze mich auf den Hosenboden, den Rücken gegen den Stamm gepresst, so fest als wollte ich ihn umstürzen. Ich habe kaum mehr als ein paar Meter hinter mich gebracht. Trotzdem japse ich nach Luft wie ein Asthmakranker nach einer Zigarette. Ob die Joggerin wirklich tot ist? Hätte ich noch irgendetwas für sie tun können? Dicht an den Baum gelehnt wage ich einen vorsichtigen Blick zurück. Der Frauenkörper liegt nach wie vor schlaff und reglos auf dem Boden. Er ist zierlich. Eine junge Frau. Der Kopf noch immer in der sandigen Erde. Das lange blonde Haar hat sie zum Zopf gebunden und auf den Kopf geknotet. Genauso hat es meine Frau früher auch immer gemacht. Mir fällt ein, dass wir damals oft gemeinsam hier joggen waren. Sie ist immer vorne weggerannt und ich habe den Blick stets auf ihr auf und ab wippendes hochgebundenes Haar gerichtet, um nicht wie ein Perverser zu wirken, der ihr ständig auf den Hintern glotzt.
Nochmal schrillt ein Schuss durch die Nacht. Holzsplitter fliegen mir ins Gesicht wie Nadeln. Ich falle zu Boden, robbe zurück hinter den Baum. Bin ich getroffen? Hektisch taste ich meinen Kopf ab, reibe meine Finger um in der Dunkelheit zu fühlen ob Blut daran ist. Nichts. Er muss nur den Baum erwischt haben. Auf jeden Fall bin ich hier nicht sicher. Ich muss hier weg. Panisch werfe ich mich nach vorne auf den Bauch und krieche los. In Bodennähe sehe ich noch weniger als eben hinter dem Baum. Ich taste mich vorwärts wie ein Blinder. Die Grashalme zwischen meinen Fingern sind warm und schwitzig. Ich kralle mich an den Büscheln fest, ziehe mich an ihnen vorwärts. Nur nicht den Kopf zu hoch heben, so dass mein Schatten mich verraten könnte. Immer weiter krieche ich. Fast wie ein Raubtier, das sich behutsam an seine Beute anschleicht. Nur dass ich hier die Beute bin und mich nicht an- sonder davon schleiche. Wäre dieser Wahnsinnige ein Raubtier, ich glaube er könnte meine Angst riechen, meinen Herzschlag hören, wie er in jedem Winkel meines Körpers pulsiert. Ob ich bald beim nächsten Baum bin? Ich wage es nicht zurückzublicken. Etwas weiter vorne kann ich einen großen Schatten erkennen. Einen Stamm. Vielleicht der Rest eines alten Baumes. Ich krieche schneller. Weiter und weiter. Fast bin ich da, fast in Sicherheit. Am oberen Ende des mannshohen Stumpfes glimmt kurz ein Licht auf. Klein und orange, dann ist es wieder verschwunden. Was war das? Ich erstarre an Ort und Stelle. Ein Schauer fährt mir über den Rücken. Angestrengt fixiere ich den Schatten vor mir mit den Augen, doch er verharrt unbeweglich in der Dunkelheit. Ich rieche jetzt Rauch. Eine Zigarette. Wieder glimmt das kleine Licht auf. Das ist kein Baumstamm! Da steht jemand und pafft in der Dunkelheit. Ist das der irre Heckenschütze? Hat er mich gesehen? Wie ein Stein verharre ich auf dem Boden. Ich schließe die Augen und bete nicht entdeckt worden zu sein. Oh wäre ich doch heute Nacht zu Hause geblieben. Ich meine jetzt Schritte zu hören. Schnell und zielstrebig kommen sie in meine Richtung. Meine Augen sind vor Angst wie zugetackert. Unmittelbar vor mir stoppen die Schritte abrupt. Es knallt. Und dann: Stille.