Mitglied
- Beitritt
- 21.11.2000
- Beiträge
- 23
Stille
Der Besen gleitet langsam über den Marmorboden - tausendmal im gleichen Takt. Das Echo der Kathedrale holt jeden Besenhieb ein. Langsam, Schritt für Schritt, lasse ich den Besen gleiten, tanze durch das nächtliche Gotteshaus, um es zu reinigen. Es für die Christen zu reinigen, diese kleinen Heuchler, mit ihren schwarzen Seelen... Der Besen gleitet und reinigt. Ganz langsam, Schritt für Schritt. Der Mann vom Kreuz beobachtet mich - jede Nacht. Er folgt mir, sieht gnädig auf mich herab und hat Wohlwollen für meinen Dienst an der Kirche. Prediger Neil, mein gottverlassener Vater, hat das nicht. Er blickt mir nicht wohlwollend hinterher. Er hasst mich, er hasst, wie ich aussehe, wie ich rieche, wie ich rede und wie ich denke. Er glaubt, dass ich eine Gefahr bin für seine kleine dreckige Gemeinde. Eine Gefahr hat er mich genannt. Er sagt, ich habe mich nicht unter Kontrolle, dass ich eines Tages jemandem weh tun werde. Ja, das denkt dieser kleiner Bastard von mir. Der Teufel wird ihn holen. Ja, der Teufel selbst. Brennen wird er für seine heuchlerischen Absichten, seine Verführung, für seine teuflischen Augen. Seine Augen, ich kann seine Augen nicht mehr sehen.
Langsam, Schritt für Schritt, lasse ich den Besen gleiten. Es tut so gut, hier zu sein. In diesem Gotteshaus. Ich alleine mit Gott, der auf mich herabblickt. Auf seinen kleinen Diener Samuel.
Die Nacht senkt sich, das Haus des Friedens ist gesäubert, ich muss gehen. Schnell durch die Straßen dieser Stadt, bevor sie sich erneut mit Leben füllen. Es ist böses Leben, denn es macht mich böse, wenn ich ihnen begegne, diesen kleinen dreckigen Heuchlern. Mein Zimmer - Wartestation für die nächste Nacht. Ich muss mir die Ohren mit Wachs verkleben, um nicht verrückt zu werden von dem Treiben der Stadt, von meiner Nachbarschaft, von dem kleinen kläffenden Köter von nebenan. Ich werde euch allen meine Rache spüren lassen, wenn ihr nicht still seid. Verdammt noch einmal, seit doch still. Aber ihr wollt mich verrückt machen, ja, auf das wartet ihr. Dass ich die Kontrolle verliere... ihr wollt, dass ich mein einziges Zuhause verliere, dass mich der Prediger meiner Kirche verweist, weil ihr mich nicht dabei haben wollt. Das wollt ihr doch! Wollt ihr das? Verbrennen sollt ihr. Brennt doch, ja! Brennt!
Es ist wieder still geworden, die Nacht hat sich über die Stadt gesenkt. Aus den Fenstern flimmern bläuliche Lichter und es ist wieder Frieden eingekehrt. Nebenan ist eine Frau eingezogen. Ich habe sie schon ein paar Mal beobachtet, am Sonntag in der Kirche. An ihrem Gesang habe ich sie wieder erkannt. Sie singt wie ein kleiner Engel - auch wenn sie zu Hause ist. Das macht mich friedlich. Gott hat sie wohl auch ganz gern. Leise schließe ich die Zimmertür hinter mir, der Gang ist dunkel, ich bin allein. Licht! "Hallo, ich bin ihre neue Nachbarin. Verzeihen Sie mir, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe. Madame Leroux, aber nennen Sie mich einfach Angélique." - Der Engel spricht. - "Wi..issen Si..e. - ma..anche Men-Men...schen er...zählen k-ko-mische Sa...aachen über mi..ich." «Renn, Samuel, renn. Die Kirche wartet auf dich.» "Ich sehe Sie morgen in der Kirche!"
Langsam, Schritt für Schritt, lasse ich den Besen über den kalten Marmor gleiten. Endloser Frieden ist über mich gekommen. Der Druck aus meinem Kopf ist verschwunden. Dieser Engel hat mich befreit. Gott blickt wohlwollender denn je auf mich herab. Schon graut der Morgen und ich verstecke mich hinter den Säulen, um Gott aus dem Mund des Predigers zu hören. Der Engel! Sie fasst meine Hand, welch Frieden liegt in ihr. Ihre Hände, so weich, so anders. Ich kann sie riechen, fühlen, sie ist so vollkommen. Ich würde sie lieben, wenn ich nicht Gott so lieben würde. "Kommen Sie schon vor, verstecken Sie sich doch nicht." "I..ich da...rf niii...icht. I..ich mu..uuss hiii.iier hi...inten bleiben." "Ach reden Sie keinen Unsinn, kommen Sie mit mir." Der Engel führt mich durch das Gotteshaus. Die Menschen sitzen dicht gedrängt in den Bänken - beten leise vor sich hin. Frieden überall. Nehmt eure verdammten Geieraugen von ihr! Ihr verdammten Heuchler. Ich darf mich neben den Engel setzen. Der Gottesdienst beginnt. Der Prediger spricht Gottes Worte. Ich fühle mich wieder befreit.
Gott hat gesprochen. Der Engel führt mich zum Ausgang des Gotteshauses, aber ich muss hierbleiben. Draussen ist kein Platz für mich. Nicht am Tag. Sie geht alleine. Ich warte, bis es dunkel wird und die Nacht wieder über die Stadt einbricht... Der Priester fasst mich an. Ich mag es nicht, wenn er mich anfasst. "Samuel, wie oft hab ich dir gesagt, dass ich dich nicht auf den Bänken haben will. Wenn du dem Gottesdienst beiwohnen willst, dann bleib hinten. Und bleib von dieser Frau weg. Sie ist nicht gut für dich. Schau mich an! Samuel, ich meine es doch nur gut mit dir. Gott hat deiner Mutter nur ein Kind geschenkt. Gott will mich prüfen und deshalb liebe ich dich, wie ich auch eine gesunden Sohn lieben würde. Verstehst du das, Samuel, was ich sage? Bleib in der Kirche und bleib von dieser Frau weg. Sie ist nicht gut für dich." Da geht Prediger Neil, mein Vater, der er nicht ist, weil ich ihn nicht haben will. Gott ist mein Vater. Der Prediger will nicht, dass der Engel zu mir spricht. Er hasst mich, weil Gott nur zu mir spricht, nicht zu ihm, diesem armseligen Sprachrohr Gottes. Den Engel wegnehmen will er, dass ich wieder alleine bin, dass will er. Gott soll ihn bestrafen für seine Gedanken. Bestrafen soll er ihn, töten. Ja, den Tod hat er verdient, dieser widerliche Knecht Gottes.
Das Dröhnen der Straße erschüttert die Mauern der Kathedrale. Ich fühle das Zittern der Wände. Es macht mich krank, es erdrückt mich. Mein Kopf, er ist so voll, so schwer. Ich kann den Druck nicht mehr aushalten. Schweigt doch ihr Wände, seit doch still. Und der Prediger, der soll auch still sein. Für immer. Tod soll er sein, dieser kleine dreckige Bastard. Den Engel will er mir nehmen. Verdammt! Schweigt, ihr verfluchten Mauern. Gott, willst du mich prüfen? Du darfst es nicht zulassen, dass er mir den Engel nimmt. Mein Kopf, er platzt. Die Wände, sie beben, die Decke senkt sich. Wo ist der Engel? «Schlaf, Samuel, schlaf.» Drei Stunden bis zur Finsternis - Ewigkeit.
Gott hat mich geweckt für eine Nacht des Friedens. Mein Kopf, er schmerzt noch immer. Wo ist der Frieden? Die letzten Sonnenstrahlen berühren mich, sie machen mich krank. Der Tag neigt sich seinem Ende zu. Der Himmel wird zum Feuersturm. Es ziehen Gewitterwolken auf. - Die Stadt kommt zur Ruhe, der Himmel brennt! Brenne Himmel, brenne! Und nimm Prediger Neil gleich mit. Er wird mir den Engel nicht wegnehmen. Gott wird das nicht zulassen. Gott liebt mich. Er will doch, dass mich sein Engel beschützt. Dieser Prediger, in der Hölle soll er brennen, dass er gegen Gottes Willen verstößt. Gott wird ihn bestrafen für seine Sünden. Wieso sprichst du noch aus seinem Mund, Gott? Ist dir dein Diener Samuel nicht genug? Ich werde für den Prediger deine Worte sprechen, wenn du ihn nicht mehr haben willst.
Fass mich nicht an, Prediger! "Samuel, hier steckst du. Siehst du dir das Abendrot an. Ich kann mich lange nicht mehr erinnern, so einen prächtigen Sonnenuntergang gesehen zu haben. Seine Schönheit beklemmt mich ein wenig... Samuel, ich hab mit der Frau gesprochen, du weißt doch, die dich heute mit nach vorne genommen hat." «Nicke, Samuel, nicke.» "Guter Junge. Sie hat sich bei mir entschuldigt und wird dich zukünftig in Ruhe lassen. Das willst du doch, in Ruhe gelassen werden?" «Stimm ihm zu, Samuel, stimm ihm zu.» "Sie wird auch bald umziehen und dann ist sich nicht mehr in meiner Gemeinde. Hast du verstanden, Samuel, was ich dir gesagt habe?" «Nicke, Samuel, nicke.» Der Prediger geht beten, der Himmel brennt.
Der Engel, er geht? Er will mich verlassen. Dieser Teufel hat sie vertrieben. Gott, hast du zugehört, er hat deinen Engel vertrieben. Er stellt sich gegen uns. Gott, du kannst das nicht zulassen. Der Engel, hab ich sie verloren? Hab ich sie verloren, Gott? Wo ist sie hingegangen? Ich kann nicht mehr ohne sie sein, Gott. Den Tod wünsche ich ihm. Tot soll er sein, für immer tot. Der Tod soll sein Schicksal sein. Das ist doch sein Schicksal, Gott? Du bist ein guter Gott. Ich werde ihn für dich töten. Mein Kopf, er platzt. Ich halte es nicht mehr aus. Meine Seele schreit, sie schreit, kannst du sie nicht hören? Alleine will ich sein, alleine.
Der Regen fällt aus den blutenden Wolken. Menschen laufen in den Straßen. Der Prediger kniet vor dem Altar. Das kalte Eisen des Kruzifixes zerschellt den Schädel des Betenden. Das Blut läuft langsam und dick die Altarstufen hinab. «Weiche dem Blut, Samuel, es ist böse. Hörst du das Schreien? Der Engel, sie ist hier.» Wo bist du, Engel? Ich kann dich nicht sehen. «Knie, Samuel, Knie.» Da, der Engel, sie weint. Freudentränen. Wir sind wieder vereint. Gott, der Engel und ich. Der Engel! - Wieso schlägt sie mich? "Was haben Sie getan, Sie verdammter Spinner." "Eee..s wa...ar Go...ttes W..i...lle!" ?Du verdammter Spinner, was weißt du schon von Gott? Glaubst Du, dass Gott uns lenkt? Dass er alles bestimmt? Was wär das für ein Gott?" Hör auf, mich zu schlagen, Engel. Es macht mich böse. Gott hilf mir. Mein Kopf, er ist so schwer.
Der Engel läuft davon. «Renn, Samuel, renn.» Ich werde den Engel für dich holen, für dich mein Gott. Ich laufe durch das Portal hinaus in den Regen. Es regnet Blut . Wieso lässt du Blut regnen auf deinen Diener Samuel. Der Engel, ich muss sie retten. Blut ist böse. Die Männer bei ihr sind böse. "Halt, Pariser Polizei. Legen sie sich mit dem Gesicht nach vorne auf den Boden." Der Engel, sie ist in Gefahr. Überall Blut - Gottes Blut. Wieso weinst du Gott? Ich werde den Engel für dich retten. "Bleiben Sie stehen!" «Schlafe, Samuel, schlafe.»
Die Welt verändert sich. Alles ist so weit weg. Ich spüre keinen Druck mehr. Bin ich frei? Gott, bin ich jetzt bei dir...? «Dunkelheit, Samuel. »
"... der Regen endet, die Wolken öffnen sich, Stille, und die letzten Strahlen der Sonne berühren die kindliche Seele Samuels."