- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Stille
Die Tür fiel ins Schloss. Langsam verhallend, gewann die Stille ihren Platz zurück. Als wäre sie die Herrin des Hauses. Tags drangen vielleicht noch die Motorengeräusche eines vorbeifahrenden Autos herein, doch spätestens, wenn der Mond am Himmel erschien, verbannte sie jedes noch so kleine Geräusch.
Der letzte Widerstand lag neben dem Wohnzimmerschrank zerschellt am Boden, eine Kuckucksuhr.
„Wie geht es deiner Hand?“, fragte ich und schenkte ihr Tee ein.
Wir saßen am Küchentisch und Maria hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Langsam hob sie nun den Kopf und zeigte mir ihre verbundene Rechte. Ich nahm den Verband ab, ihre Hand zitterte.
„Sieht gar nicht mehr schlimm aus. Die Wunde ist fast verheilt. Ich werde nochmal etwas Salbe drauf tun und in zwei, drei Tagen wirst du den Verband nicht mal mehr tragen müssen“, lächelte ich sie an und stand auf, um in der Küchenschublade nach der Salbe zu suchen.
„Heute Morgen war ich Blumen einkaufen, wir wollen den Garten neu bepflanzen. Im Winter ist uns so viel kaputt gegangen … Wo hast du denn die Salbe?“
Ich drehte mich um, doch sie kaute nur angespannt auf ihrer Lippe.
„Okay, ich schau mal weiter, ja?“, fragend sah ich sie an und endlich schenkte sie mir etwas ähnliches wie Beachtung, sie zuckte kaum merklich mit den Schultern.
Ganz mager war sie geworden und durch die blasse Haut an ihren Armen waren die Knochen gut erkennbar. Rasch wendete ich mich wieder dem Küchenschrank zu. Leise zog ich die nächste Schublade auf und kramte vorsichtig zwischen alten Tablettenschachteln.
„Möchtest du uns nicht wieder mal besuchen kommen? Markus fragt immer, wie es dir so geht. Wieso kommst du nicht mal wieder vorbei, ein Kaffee oder ein Abendessen oder einfach nur so.“
Mit wem redete ich denn da gerade? Manchmal kam es mir vor, als redete ich gegen eine Wand.
Ich schaute kurz über meine Schulter zu ihr hin, doch ihr Blick war unverändert auf den Küchentisch gerichtet.
„Ist auch nicht so wichtig. Ich hab die Salbe gefunden. Warum hast du sie denn in die Besteckschublade gelegt?“ Kopfschüttelnd setzte ich mich wieder zu ihr und bestrich vorsichtig die Wunde.
„Wolltest dir wohl nen Spaß mit mir machen, was?“, versuchte ich ein Lachen.
Stille.
Die Hand war verbunden und schnell zog Marie sie zu sich zurück. Meine Geduld fand ein Ende, für heute war es genug. Genug für mich.
So sehr ich meine Schwester liebte, so sehr konnte sie mir dadurch das Leben zur Hölle machen.
Kam ich nicht, hatte ich ein schlechtes Gewissen. Kam ich, war ich deprimiert, jedes Mal aufs Neue.
„Ich geh dann auch wieder. Ich komme morgen wieder. Brauchst du vielleicht etwas?“
Wenigstens ein Wort heute wäre schön, wenigstens die Mühe den Mund aufzumachen und Luft zwischen den Stimmbändern schwingen zu lassen, wenigstens etwas.
Ruhig stand Marie auf und ging an mir vorbei. Ohne eine Regung führte sie mich zur Haustür und öffnete sie vorsichtig.
Peinlich genau achtete sie darauf, wie ich mich durch sie hinaus begab.
Ich drehte mich ein letztes Mal um. Verzweiflung und Trauer lag in meiner Stimme, als ich ihr noch leise zuflüsterte:“Bis morgen Marie, bis morgen.„
Dann schloss sich die Tür.
Stille.
Maries Sohn Max, war ein sehr lautes Kind. Als Baby hatte er oft Mittelohrentzündung und schrie, dann bekam er Zähne und schrie, schließlich wurde er Indianer oder Polizist und schrie, trampelte das ganze Haus zusammen.
Marie war alleinerziehend. Marie hatte Max geliebt. Mit Max Tod am 22. März war nicht nur ein 6-jähriges Kind gestorben, sondern auch eine 32-jährige Frau.
Meine Schwester, Marie.