Stille Wasser
"22$ für 100g? Ich will ein paar Schollen kaufen und nicht den ganzen Laden!"
"Ich verstehe Ihre Verärgerung, Madam. Mir geht es genau so. Wenn Sie sich umschauen, werden Sie feststellen, dass ich der einzige verbliebene Fischladen hier bin. Und das liegt daran, dass ich meinen Beruf liebe. Leben kann ich davon schon lange nicht mehr. Leider muss ich diese Preise verlangen, weil ich sie auch selbst bezahle." Der Fischverkäufer im Quincy Market hatte diese Antwort für jeden parat, der sich an den Preisen störte.
Und er hatte vollkommen recht. Seit Frischfisch zu einem seltenen Luxusgut geworden war, haben die Preise so sehr angezogen, dass in ganz Boston nur noch zwei reine Fischläden zu finden waren. Die weltweite Umsetzung und Überprüfung von Fangquoten, groß angelegte Fischfarmen und künstlicher Fisch waren trotz der von ihnen verursachten Probleme anfangs vielversprechend gewesen und es schien, als könne die Gier nach Fisch einigermaßen gestillt werden.
Doch vor zwei Jahren wurden alle Hoffnungen zerstört.
Lange vorher, im Jahr 2010, wurden erste Hinweise auf Bakterienstämme entdeckt, die in der Lage waren, Polyethylen zu spalten und zu verdauen. Als dann ein Biotech-Unternehmen versprach, das Problem des Plastikmülls in den Ozeanen mittels dieser Mikroben in den Griff zu bekommen, horchte die Öffentlichkeit auf. In jahrelanger Forschung wurden diese Bakterienstämme gezielt gezüchtet und genetisch manipuliert. Ihre Fähigkeit, langkettige Kohlenwasserstoffe zu zersetzen, wurde deutlich verbessert. Mehr noch, aus jenen Bakterien wurden andere gezüchtet, die auch unterschiedliche Kunststoffe zersetzen konnten. Als willkommener Nebeneffekt der Nahrungsspezialisierung konnten sie sich ausschließlich von Plastik ernähren; ohne Kunststoff verhungerten sie einfach. Das zerstob den Großteil der Widerstände, weil sie damit keine Konkurrenz zu angestammten Mikroben waren.
Trotz aller Ermahnungen zur Vorsicht, weil die Auswirkungen auf das Ökosystem nicht ausreichend erforscht waren, kauften einige küstennahe Staaten diese Bakterien fässerweise und entließen sie in die Ozeane, um diese und damit letztlich ihre Touristenstrände vom allgegenwärtigen Plastikmüll zu befreien. Zur allgemeinen Freude und Erleichterung funktionierte der Plan sogar und das Wachstum der Müllstrudel konnte verlangsamt werden. Es war sogar absehbar, dass die sie bald schrumpfen würden. Andere Länder folgten dem Beispiel und bald waren die im Volksmund "Fresser" genannten Mikroben in allen Weltmeeren zu Hause.
Die rasante Ausbreitung dank des großen Nahrungsangebotes machte die Fresser zu einer wichtigen Nahrungsgrundlage für Fischlarven, Ruderfußkrebse, Krill und einen Großteil des anderen tierischen, karnivoren Planktons. Damit wuchs auch das Nahrungsangebot für Planktonfresser und die gesamte Flora blühte auf. Allerdings konnten Weichmacher und andere Giftstoffe im Plastikmüll nicht verdaut werden und die Bakterien sammelten diese Stoffe in ihrem Körper an. Damit vergifteten sie einen Großteil des Planktons, das daran einging.
Die Fischer bemerkten zuerst, dass die großen Herings- und Sardinenschwärme schrumpften. Mit dem Dahinschmelzen der großen Schwärme verschwanden auch die Jäger. Thunfische, Schwertfische und andere wurden seltener, auch so mancher Haiart machte das Verschwinden der Beute den Garaus. Ganze Kolonien von Seevögeln konnten sich nicht mehr ausreichend ernähren und drohten, zu verschwinden. Dann merkte auch die Öffentlichkeit, dass Wale und Delphine immer weniger und die Fische immer teurer wurden.
Belinda Snider wusste natürlich um die Hintergründe, aber das nützte ihr nichts. Sie war enttäuscht, wollte für sich und ihren Mann etwas Leckeres auf den Tisch bringen. Fisch sollte es sein, schließlich war Freitag, also musste sie wieder auf eingefrorenen Thunfisch aus der Farm zurückgreifen. Der war schon teuer genug.
Mit am ärgerlichsten daran war, dass ihr eigener Arbeitgeber, Nohaz Bio-Tech, die Fresser gezüchtet hatte.
* * *
Abends vor dem Fernseher, in die Arme Ihres Mannes geschmiegt, streifte Belinda so beiläufig wie möglich ein Thema, das ihr schon seit Tagen keine Ruhe ließ.
"Du magst gerne Fisch, Liebling. Oder?"
Er stockte kurz. Dachte, es täte ihr leid, keinen frischen Fisch mitgebracht zu haben. Natürlich wusste er, dass der unvernünftig teuer war. Aber er hatte gehofft, dass sie trotzdem welchen kaufte.
"Ach, wird überbewertet. Das Abgepackte ist doch in Ordnung", log er.
Seit die Kutterwerft, in der er anfangs als Bürokaufmann gearbeitet und später fast alle Bürofunktionen allein erfüllt hatte, vor vier Monaten Konkurs gegangen war, besuchte er eine staatlich finanzierte Umschulung, mit der die Regierung versuchte, die Arbeitslosenstatistik abzumildern. Nur noch zwei Monate, dann konnte er sich in einer anderen Branche ein Einkommen suchen. Er war zuversichtlich, eine gut bezahlte Arbeit zu finden. Zumindest versuchte er, seiner Frau genau das zu vermitteln. Denn neben ihm war eine Armee ehemaliger Beschäftigter der Fischerei-Branche auf der Suche nach neuen Einkommensmöglichkeiten.
Bis dahin mussten sie mit Belindas Einkommen aus der Halbtagsstelle als Laborhelferin auskommen. Nicht viel, aber es würde irgendwie gehen. Nun verbrachte sie ihre Arbeitszeit damit, Geräte und Glasbehälter zu reinigen, Schränke aufzufüllen und ähnlich einfache Labortätigkeiten auszuführen. Der Job machte ihr Freude, auch wenn ihre Familie und Freunde die Köpfe schüttelten, weil sie ausgerechnet bei dem Unternehmen arbeitete, das die Fresser gezüchtet hatte und dafür nie belangt worden war.
Sie waren nicht die Einzigen, die ums Überleben kämpften. Mehr als siebeneinhalb Milliarden Menschen lebten auf der Erde. Und die meisten wurden sehr viel härter von der Fischkrise getroffen.
Hunderte Millionen, wenn nicht gar Milliarden von Menschen waren ihrer wichtigsten Nahrungsquelle beraubt worden. Auf der ganzen Welt brauchten kleine Fischer gar nicht erst aufs Meer hinaus zu fahren, weil es so gut wie nichts zu fangen gab. Es reichte in dem meisten Fällen nicht mal aus, um die eigene Familie zu ernähren. Geschweige denn, um den Treibstoff oder Reparaturen des Bootes zu bezahlen.
Auf den Weltmeeren wurde bereits offen um die Ressourcen gekämpft. Im Vergleich dazu waren die Kabeljaukriege in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts eine charmante Anekdote gewesen. Kleine Boote wagten sich immer weiter hinaus und kamen immer seltener zurück. Fischereiflotten wurden von bewaffneten Geleitschiffen in die Fanggründe begleitet, Trawlern wurden die Schleppnetze abgeschnitten, von Schlauchbooten aus wurde Buttersäure auf konkurrierende Schiffe oder deren bescheidenen Fang geschleudert. Vermutlich wurde auch schon scharf geschossen.
Natürlich waren die industrialisierten Fangflotten im Vorteil. Einerseits hatten sie die moderneren Ortungsmethoden, vor allem aber hatten sie große militärische Mächte im Rücken. Damit wurde das eigene Volk auf Kosten der restlichen Welt ernährt. Zynischerweise verkauften diese Länder einen Teil des Fisches zu horrenden Preisen an die Länder, denen er vorher weggefischt wurde.
Die Folgen waren tiefste Armut, Hunger und Seuchen.
Menschen an den afrikanischen, südamerikanischen und ostasiatischen Küsten gingen vermehrt in die Wildnis, um sich mit Wildfleisch zu versorgen, was wiederum die landseitigen Ökosysteme an den Rand des Zusammenbruchs und darüber hinaus brachte.
Dann kam Belinda zum Punkt: "John hat mir was Interessantes erzählt."
Jonathan Mitchell, ihr Kollege mit dem sie gelegentlich zusammen zur Arbeit fuhr, hatte Ihr erzählt, dass sein Labor an einem Mittel gegen die Fresser arbeitete. Aber diese Arbeit fand unter Geheimhaltung statt. Angeblich, weil man zunächst sicher sein wollte, dass es keine Katastrophe gab wie mit den Fressern. Er aber hatte die Vermutung, dass Nohaz mehr Geld aus ihrer Entwicklung schlagen wollte. Dass sie warteten, bis die Welt am Abgrund stand, um jeden Preis verlangen zu können.
Das erzählte Belinda ihrem Mann, der staunend zuhörte.
"Aber ich dachte, das Plastikverbot würde ausreichen. Wenn es keinen Kunststoff in den Meeren mehr gibt, dann verhungern die Fresser und die Tierwelt erholt sich. Wozu schon wieder etwas Unberechenbares ins Meer kippen?"
"Liebling, die Resolution ist eine Seifenblase. Es gibt so viele Ausnahmen und Verstöße dagegen, das lässt sich nicht durchsetzen. Und selbst wenn: im Meer treibt noch ausreichend Kunststoff, um die Fresser auf Jahrzehnte zu ernähren."
Er wurde still und nach einer Weile sah er sie mit zusammengekniffenen Augen an: "Warum erzählst Du mir das? Was ist das für ein Gegenmittel?"
Ihre Augen leuchteten jetzt, wie er es so liebte: "Es sind Ruderfußkrebse."
Er sah sie fragend an und sie erzählte weiter: "Sie sind genetisch manipuliert, so dass sie die Giftstoffe nicht aufnehmen, sondern ausscheiden. Sie können die Fresser unbeschadet verdauen."
Jetzt verstand er. Diese Krebschen könnten die neue Nahrungsgrundlage der Meere werden. Sie könnten den Zusammenbruch der Meeresfauna aufhalten oder zumindest hinauszögern.
"Schatz, Du erzählst mir das doch nicht ohne Grund."
"Na ja, wir brauchen ein Schiff. Und Du kennst doch Leute, die - wie soll ich sagen - ihres nicht mehr brauchen."
Ihm klappte die Kinnlade herunter: "Wer ist wir, wofür braucht ihr ein Schiff und überhaupt … was erzählst Du mir da?"
Sie eröffnete ihm die Idee und er hörte staunend zu. So kannte er seine Frau gar nicht.
Bevor er über seine Teilnahme entschied, wollte er darüber schlafen. Schließlich ging es um nicht weniger, als einen großen Konzern zu bestehlen und schon eine neue, nicht ausreichend erforschte Lebensform ins Meer zu bringen.
* * *
Als Belinda am nächsten Morgen von Jonathan abgeholt wurde, war der über Stevens Zusage sehr erleichtert.
Im Labor wurde es dann am selben Tag kurz vor Mittag Ernst: Jonathan tauchte in einem unbeobachteten Augenblick einen kleinen Schwamm in eine Wanne mit den Krebslarven, von denen reichlich eingesogen wurden. Er stopfte den Schwamm in einen wasserdichten Beutel und steckte den in die Tasche. Jonathan musste, wie alle Mitarbeiter im Zuchtlabor, zum Feierabend seine Kleidung wechseln, um eine Kontamination zu vermeiden. Um die Krebse aus dem Labor zu schmuggeln, ging er durch die Luftschleuse in den Pausenraum. Hier ließ er den Beutel in einen Müllbehälter fallen, von dem er wusste, dass Belinda ihn im Rahmen ihres Jobs ausleeren würde.
"Mr. Mitchell", als Jonathan wieder die Luftschleuse zum Labor durchtrat, stand der Laborleiter Dr. William Claasen plötzlich vor ihm. "Sie wissen doch, dass Sie das Labor so nicht verlassen dürfen."
Sein Herz setzte für einige Augenblicke aus, trotzdem hörte er sich selbst sagen: "Ja, ähm, tut mir leid. Ich wollte einen Kaffee holen, während die Elektrophorese läuft. Bin heute Nacht kaum in den Schlaf gekommen."
"Ja, und dann haben Sie auch gleich den Kaffee vergessen. Sie haben wohl wirklich nicht viel geschlafen, was?" Dr. Claasen grinste ihn an.
"Tatsächlich", Jonathan schaute gespielt verwundert seine leeren Hände an, "das ist jetzt irgendwie peinlich. Bitte um Entschuldigung wegen der Laborkleidung."
"Schon in Ordnung. Nur ziehen Sie sich sofort etwas Neues an, wir wollen hier ja nichts verseuchen", damit wandte sich Claasen, immer noch lächelnd, von ihm ab.
"Er hat es geschluckt", Jonathan konnte es auf dem Weg zum Umkleideraum kaum glauben. "Er hats tatsächlich geschluckt!"
Da Belinda keinen Zutritt zu den Sicherheitsbereichen hatte, wurde sie weder durchsucht noch musste sie sich umziehen. Ihr schlug das Herz bis zum Hals, als sie den kleinen Beutel mit dem Schwämmchen aus dem Müllbehälter nahm, bevor sie den ausleerte. Sie war sich sicher, dass sie beobachtet würde, blickte hierhin, blickte dorthin, horchte nach auffälligen Geräuschen. Aber nichts geschah. Sie konnte nach Feierabend problemlos das Gebäude verlassen, zur Haltestelle laufen und nach Hause fahren. Die ganze Zeit achtete sie darauf, ob sie verfolgt wurde. Natürlich gab es jemanden, der ihr auffiel, aber der verließ bald den Bus und Belinda atmete etwas auf. Die Nervosität hielt sie die ganze Fahrt über in Atem.
Zu Hause angekommen, hatte Steven schon alles vorbereitet. Am Morgen hatte er eine Nährlösung für karnivores Plankton gekauft. Seit der Krise boomte die Salzwasser-Aquaristik, als wolle jeder seinen eigenen Mini-Ozean bauen. So war es mittlerweile ganz selbstverständlich, dass eine durchschnittliche Zooabteilung im Kaufhaus Futter für jede Art von Plankton im Regal stehen hatte. Nun wartete ein kleines Aquarium mit Meerwasser, Pumpe und Filter auf seine neuen Bewohner. Hier sollten sich die Krebschen entwickeln und fortpflanzen. Von Zeit zu Zeit sollten sie in mehrere, größere Behälter umgefüllt werden, bis es genug waren, um im Meer überhaupt - hoffentlich - etwas zu ändern.
Auch an Belinda hatte er gedacht: Auf sie wartete ein heißes Schaumbad. "Für meine Heldin", sagte er nur und ließ sie allein.
Sie musste erst einmal ihre Gedanken sortieren, daher war sie ihm sehr dankbar. Wie dankbar, zeigte sie ihm nach dem Bad, als all die Anspannung abgewaschen war.
Wie abgesprochen, blieben die Krebschen zunächst in ihrem Schwamm-Gefängnis, bis Jonathan gegen Abend kam. Er prüfte, ob der Zuchtbehälter, die Nahrung und das Wasser geeignet waren. Aber eigentlich wollte er nur sehen, wie es den beiden ging. Alles war zu seiner Zufriedenheit und sie legten den Schwamm ins Wasser.
Zu guter Letzt holte Jonathan noch eine Flasche Sekt aus der Tasche, die sie gemeinsam köpften. Sie hatten etwas anzustoßen: gerade sind sie Kriminelle geworden und sie fühlten sich großartig. Sie hatten sich mit einem milliardenschweren Konzern angelegt und waren im Begriff, zu gewinnen.
* * *
Nohaz Bio-Tech hatte ganze Arbeit geleistet. Sie hatten bei der Auswahl der Krebse vor allem auf deren schnelle Fortpflanzung geachtet und diese sogar noch beschleunigt. So brauchten die Verschwörer nur etwa ein Jahr, um eine beachtliche Menge der Krebse aufzuziehen. Jeden Monat untersuchte Jonathan den Gesundheitszustand der Tiere. Die Bedingungen waren nicht optimal. Das Futter wechselte, damit die Mengen im Handel nicht auffielen. Die Filter waren nicht immer perfekt sauber und auch andere Faktoren waren alles andere als optimal. Auf diese Umstände führten sie auch das Phänomen zurück, dass die Tiere mal blasser erschienen als bei der vorigen Untersuchung, mal schienen die Beine länger zu sein, ein anderes Mal wirkte der Schwanz gedrungener. Eine Krankheit konnten sie jedenfalls ausschließen, da sich die Tiere prächtig entwickelten. Viel besser, als sie es erhofft hatten.
Nach der Untersuchung gingen die drei immer gemeinsam essen, um das Vorankommen zu besprechen.
Sie hatten nun zwölf kleine Regentonnen, die vor Ruderfußkrebsen fast überquollen, im Wohn- und im Schlafzimmer stehen. Allmählich wurde es eng in der kleinen Wohnung und alle Beteiligten waren sich einig, dass es nun so weit war. Am nächsten Tag sollten die Krebse ausgesetzt werden.
Sie planten einen Ausflug zu einem Punkt in der Sargassosee, zirka sechshundert Kilometer von Boston entfernt. Hier trieb der nordatlantische Müllstrudel vorbei und versprach eine gute Nahrungsgrundlage für die Krebse. Von hier aus sollten sie sich ausbreiten und eine neue Basis für die Nahrungskette bieten. Eine Woche Urlaub hatten sie sich für diesen Trip genommen.
Steven hatte einen ausgedienten, aber hochseetauglichen Kutter aufgetrieben. Dafür hatte er das Schweigen brechen und dem Besitzer, Kapitän Alexander Truffaut, erzählen müssen, was sie vor hatten. Der war skeptisch, bot aber an, mitzukommen, was die drei dankbar annahmen. Einzig Treibstoff und Betriebsmittel mussten sie zahlen. Glücklicherweise hatte Steven wenige Monate nach der Umschulung einen Job im Lager einer Fischfarm gefunden. Es war nicht das, was er sich vorgestellt hatte, und ganz bestimmt nicht, wofür er die Umschulung gemacht hatte. Aber es war besser als nichts und ermöglichte die Reise überhaupt erst.
An diesem Abend saßen sie also zu viert im Lokal am Tisch, die Gespräche drehten sich unter anderem um den arabischen Krieg. In dieser bisher heftigsten der Auseinandersetzungen bekriegten sich Indien, China und die Arabische Liga um die Fischgründe vor dem Horn von Afrika und es wurde bereits von mehreren versenkten Schiffen und vielen Hundert Toten berichtet. Aber auch anderswo waren die Auseinandersetzungen zu Gewalt eskaliert. Im Australasiatischen Mittelmeer bekämpften sich kleine Fischereiflotten mit behelfsmäßig installierten Maschinengewehren gegenseitig. Dann und wann wurden Fregatten und Zerstörer der Malaiischen, Indonesischen oder der Philippinischen Marine entsandt, um die Kämpfe zu verhindern. Gerüchten zufolge aber standen die Marinekapitäne auf der Gehaltsliste so mancher Fischereiflotte und versenkten deren Konkurrenz.
Anderswo wurde noch auf diplomatischem Wege nach Lösungen gesucht. Die USA hatten die Lieferung großer Mengen Mais nach Russland versichert, im Gegenzug erhielten ihre Fischer Vorrechte in der Beringsee. Südafrika zahlte Millionen von Dollar an Namibia und Mosambik, um in ihren Gewässern fischen zu dürfen. Von dem Geld sahen die ansässigen Fischer freilich nichts und gingen auf die Barrikaden. Sie hatten bereits Gewalt gegen die Südafrikanischen Schiffe angekündigt. Deswegen hatten die bei jedem Fischzug militärische Unterstützung dabei.
Im Golf von Guinea entstand eine unerwartete Allianz zwischen allen Anrainerstaaten, welche die europäischen Fischereiflotten unter Androhung von Gewalt aus ihren Gewässern drängte. So hätten die Krisenherde rund um die Welt weiter aufgezählt werden können.
Schlimmer als die Gewalt aber war der Grund dafür. Weltweit war die ohnehin schwierige Versorgung mit Lebensmitteln fast unmöglich geworden. Staaten, die rechtzeitig in Fischfarmen investiert hatten, waren im Vorteil. Tiere wie Thunfische, Delphine oder Kraken waren nicht direkt vom Plankton abhängig und konnten gut mit synthetischer Nahrung versorgt und bei Schlachtreife gefangen werden. Allerdings mussten sie sich gegen Piraterie schützen und heuerten eigene Truppen an.
Schlechter ging es den ärmeren Gegenden, hier waren bereits ganze Dörfer entvölkert und Küstenstreifen menschenleer. Die Zahl der hungernden Menschen war von 800 Millionen auf fast zwei Milliarden hochgeschnellt. Für das laufende Jahr wurde die Zahl der Toten durch Unterernährung auf über 35 Millionen geschätzt. Mehr als das Dreifache des Wertes vor der Krise. Und es würden in den nächsten Jahren mehr werden. Zyniker behaupteten, dass die Katastrophe das Beste war, was der Erde hätte passieren können. Erstmals in den vergangen zweihundert Jahren stagnierte die Bevölkerungszahl. Dabei vergaßen sie gern den Grund für das Hungern.
Spät am Abend, es war schon lange dunkel, verabschiedeten die vier Verschwörer sich. Belinda bemerkte bei der Heimkehr einen weißen Van, der gerade fort fuhr, als sie vom Essen zurück kamen. Sie hätte schwören können, den schon öfter gesehen zu haben, aber es schien Zufall zu sein. In acht Stunden würden sie sich bei den Sniders treffen, um gemeinsam die Krebse in handlichere Kanister umzufüllen, an Bord zu bringen und endlich abzulegen. Der nächste Tag versprach, lang werden.
* * *
Im Bad hatten sie 150 Kanister zu je 5 Litern aufgestapelt. Belinda war vier Stunden unterwegs gewesen, um die Kanister in den umgebenden Ortschaften zu kaufen. Die Krebse wurden in die Container umgefüllt und mit dem Pickup des Kapitäns an Bord gebracht. Auf der gesamten Fahrt suchten sie nervös parkende Autos, Sitzbanken und Ladeneingänge nach möglichen Spionen ab, die sie von ihrem Vorhaben abbringen könnten. Nichts geschah. Zu Hause war abgeschlossen, elektrische Geräte abgeschaltet, das Schiff war aufgetankt und mit Proviant ausgestattet. Alles war für den vorgetäuschten Urlaub vorbereitet. Sie hatten sogar Angelausrüstung zur Tarnung dabei.
Als die Ladung an Bord verstaut war, lösten sie die Taue, befestigten sie an Bord, spähten nach Beobachtern oder der Küstenwache und hatten ansonsten nichts zu tun.
Erst, als der Bostoner Hafen langsam in Richtung Horizont verschwand, entspannten sie sich etwas. Nichts Überraschendes war geschehen, niemand hatte sie aufgehalten.
Gegen Abend, sie hatten ihre erste Mahlzeit an Bord hinter sich und die Sonne ging langsam unter, kam dann doch noch Hektik auf. Das Funkgerät plärrte: "Hier spricht die Küstenwache der Vereinigten Staaten von Amerika. Identifizieren Sie sich und nennen Sie den Grund Ihrer Fahrt", alle hielten die Luft an.
"Hier ist der ehemalige Fischkutter Jolande, Kapitän Alexander Truffaut. Ich mache eine Urlaubstour mit drei Passagieren in Richtung Bermudas. Von irgendwas muss man ja leben."
"Haben Sie Fischereigerät an Bord und werden Sie die Bermudas anlaufen?"
"Wir werden die Bermudas nicht anlaufen, es geht nur in die Sargassosee und zurück. Wir haben vier Freizeitangeln an Bord, aber keine Haken oder Köder. Man kann ja eh nichts fangen", und er fügte hinzu: "Angeln war noch nie so entspannend."
"Wir behalten sie im Auge, Jolande. Und denken Sie daran: Sollten Sie Schwarzfischerei betreiben, werden wir wie das jüngste Gericht über sie kommen."
"Verstanden, Küstenwache."
Damit lag diese letzte Prüfung hinter ihnen und die nächsten zwei Tage waren wirklich fast wie ein Urlaub. Sie vergaßen sogar kurz die Kanister mit ihren Gästen unter Deck, sonnten sich, wechselten die Wachen im Ruderhaus ab, bereiteten Essen und tranken viel Wein.
Als sie am dritten Tag an ihrer Zielposition ankamen, waren sie sonnengebräunt und gut gelaunt. Das Ganze wirkte inzwischen mehr wie ein Ausflug mit Abenteuerfaktor als eine kriminelle Tat, die die Welt verändern sollte. Sie durchzogen das Meer mit feinmaschigen Keschern, um die Konzentration an Plastikmüll zu beurteilen. Es war erstaunlicherweise wirklich merklich weniger geworden. Eigentlich eine gute Sache, wenn man die Nebenwirkungen nicht bedachte.
Der meiste Kunststoff trieb in Form kleiner Teilchen Im Meer. Aber auch größere Teile, vor allem Plastiktüten oder Reste davon, fanden sich. Sie waren überzogen von einem Film den gesuchten Bakterien, daneben Wimpertierchen, Kieselalgen, und reichlich andere Mikroben. Es war soweit, sie setzten die ersten zehn Kanister mit Krebschen aus. Dann fuhren sie weiter und entließen im Laufe dieses und des folgenden Tages an verschiedenen Stellen unterschiedliche Mengen an Krebschen, auf dass sie die Welt retten mochten.
Dann war es vollbracht, sie konnten nichts mehr ändern. Nur noch hoffen, dass der Plan aufging. Die ohnehin latent vorhandenen Zweifel kamen wieder hoch, aber alle Argumente waren schon im Vorfeld besprochen worden. Schlimmer als es war, konnte es nicht kommen. Nohaz ein großes Geschäft zu versauen, kümmerte niemanden. Ein weiterer Eingriff in die Natur schien notwendig. Also beschlossen sie, abzuwarten, was passierte. Vielleicht geschah ja gar nichts.
Einen Tag vor der Ankunft in Boston meldete sich die Küstenwache wieder.
"Ehemaliger Fischkutter Jolande, hier spricht die Küstenwache der Vereinigten Staaten. Wir hoffen, Sie hatten einen angenehmen Urlaub. Haben Sie etwas gefangen?"
"Ich grüße Sie, Küstenwache. Vielen Dank der Nachfrage, auf Ihr Anraten hin haben wir die Angeln unter Deck gelassen und uns auf das Fangen von Sonnenstrahlen konzentriert. Es war sehr schön", gab Truffaut zurück, während alle Anwesenden angespannt das Funkgerät fixierten.
"Ihre Fahrtroute wirkte sehr durcheinander. Hatten Sie Probleme in der Navigation?"
"Nein, nein, wir haben uns einfach von Wind und Sonne leiten lassen. Es ist alles in Ordnung."
Das schien die Küstenwache zufriedenzustellen. Sie wünschten eine angenehme Heimreise und verabschiedeten sich.
Alle Anwesenden sahen sich an und waren unsicher, ob sie es nun wirklich hinter sich hatten. Es war so seltsam glatt gelaufen. In allen Abenteuern passierte noch irgend etwas Aufregendes gegen Ende. Aber selbst wenn: was sie getan hatten, ließ sich nicht rückgängig machen.
Auch im Hafen wartete niemand. Auch nicht die Polizei, mit der sie fast schon gerechnet hatten. Sie legten einfach wieder an, entluden das Schiff, warfen die ausgespülten Kanister in einen Abfallcontainer und fuhren nach Hause. Sie hatten das größte Abenteuer ihres Lebens hinter sich und fühlten sich beschwingt.
Die eigentliche Überraschung wartete zu Hause im Briefkasten. Es war ein Brief von Nohaz Bio-Tech an Belindas Mann. Er war drei Tage nach ihrer Abfahrt abgestempelt.
"Sehr geehrter Mr. Snider,
über Ihren Dozenten für Softwaremanagement haben wir von Ihren Leistungen während der Umschulung erfahren.
Er empfahl sie wärmstens für eine offene Stelle …"
Steven konnte nicht glauben, was er da las. Die Firma, die sie grade eben vermutlich um Milliarden Dollar gebracht hatten, bot ihm eine Stelle an. Sie saßen beisammen und das schlechte Gewissen meldete sich dann doch noch.
* * *
Sechs Monate nach dem Aussetzen der Krebse saßen die vier bei einem ihrer unregelmäßigen Abendessen.
Alles hatte sich verändert. Das Angebot von Nohaz Bio-Tech war verlockend gewesen und als Steven ablehnen wollte, stockten sie sogar noch um einen Firmenwagen und zusätzliche Boni auf. Da konnte er nicht mehr widerstehen. Die Sniders zogen relativ schnell in eine größere Wohnung und das geschröpfte Bankkonto füllte sich langsam wieder. Nicht zuletzt auch, weil Belinda eine Vollzeitstelle im Customer Relationship zugeteilt bekam. Glücklicherweise rechtzeitig, denn das Labor mit den Ruderfußkrebsen wurde wenige Wochen nach ihrem Abenteuer aufgelöst. Ebenso wie andere Nohaz-Labors in aller Welt, deren Zweck ihnen unbekannt war. Auch Christopher wurde versetzt und erhielt eine Stelle in der Feldforschung, die herausfinden sollte, was im Meer los war. Denn wenige Monate nach ihrem Ausflug schien sich der Fischbestand langsam zu stabilisieren. Viel zu früh, um von ihren Ruderfußkrebsen auszugehen.
Die Fische standen noch unter massivem Schutz und die meisten Fanggründe befanden sich auf dem langen Weg der Besserung. Natürlich stießen die brutalen Schutzmaßnahmen auf wenig Gegenliebe in der Bevölkerung, die lieber heute als morgen wieder Fisch fangen würden. Aber es war unerlässlich.
Untersuchungen des Planktons ergaben, dass sich mehrere Lebensformen an die neue Situation angepasst hatten. In den Nachrichten wurden vor allem verschiedene Arten von Ruderfußkrebsen erwähnt, aber auch einige Rädertierchen, winzige Quallen und Wasserflöhe. Alle waren mittlerweile dazu in der Lage, die Fresser schadlos zu verdauen. Und alle vervielfältigten sich prächtig.
"Ich hab vor kurzem in einer Veröffentlichung etwas über unsere Krebschen gelesen", fing Jonathan an. "Sie entwickeln sich gut. Sehr gut sogar."
"Sicher, dass es unsere waren? Es sind ja allerhand neue Arten unterwegs."
Belinda blickte in die Runde: "Ja, unsere Aktion war vollkommen sinnlos. Unglaublich, dass sich die Natur so schnell anpasst."
Jonathan widersprach: "Ich glaube nicht, dass die Natur das allein gemacht hat. Ich bin dabei, meine Doktorarbeit über dieses Phänomen zu schreiben. Die Anpassungen der Tierarten sind alle relativ ähnlich; zu ähnlich, um natürlichen Ursprungs zu sein."
Steven, der schon seit Längerem sehr nachdenklich bei diesem Thema geworden ist, hakte nach: "Was willst Du damit sagen?"
"Ich will damit sagen, das es doch ein seltsamer Zufall ist, dass unser Labor sehr bald nach unserer Rückkehr geschlossen wurde und dass auch viele andere Labore etwa im selben Zeitraum geschlossen wurden. Und woher kommen die neuen Arten? Allesamt mit ein paar sehr ähnlichen Mutationen. Und als ob das nicht genug wäre, werden wir alle von Nohaz abhängig gemacht. Sogar Mr. Truffaut fährt heute für Forschungszwecke hinaus, um den Fischbestand zu kontrollieren."
"Bitte, reden sie es nicht schlecht", warf Belinda ein.
"Ich will nichts madig machen. Aber ich frage mich, ob mein Verdacht stimmt. Und wenn er stimmt, warum hat Nohaz die Krebse nicht einfach selbst freigesetzt? "
Steven sah von seinem Cognac auf: "Was, wenn es nicht geklappt hätte?"