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Stille Wasser

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20.02.2002
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Stille Wasser

Was bleibt über die Zeit zu sagen, über das Land, die Menschen? Ich war noch klein, was wußte ich schon? Sicher sagen kann ich nur, daß Gesehen Werden eine Selbstverständlichkeit war, nach der ich mich nun sehne. In Karaganda kam ich zur Welt, verbrachte dort die ersten Jahre meines Lebens und war der festen Überzeugung, in dieser Stadt zu sterben. Die Welt war klein und konnte es wirklich mehr geben, als die gelben, kaputten Busse und die graziösen Basars? Meine Mutter erzählte mir oft von ihren Plänen.

Wir „Deutschen“, sagte sie, würden wieder zurück in unsere Heimat kommen. Sie war sich dessen sicher, auch wenn sie nicht wußte, wie dieses Ziel zu erreichen wäre. Ich hätte sie einiges fragen können, statt dessen hörte ich ihrer melodischen Stimme zu, die mitunter von Hektik und Trauer durchsetzt war. Ein Deutschland kannte ich nicht, aber es mußte ein schöner Ort gewesen sein, wenn meine Mutter schon davon träumte. Es konnte nur so sein, denn sie belog mich nie. Sie erzählte mir nur sehr wenig und wenn ich etwas wissen wollte, hieß es, daß es mich nichts anginge. Damals machte ich mir kaum Gedanken darüber, ob so ein Verhalten nicht auch eine Lüge war.

Meine Eltern stritten sich beinahe täglich. Sie taten es aus diversen Gründen. Weil der Lohn meines Vaters wieder mal nicht überwiesen wurde und er, mit Zuhilfenahme seiner haarigen Fäuste, meiner Mutter die Schuld daran gab. Wenn er abends mit einer Frau wegging und erst am nächsten Tag deutlich zufrieden zurückkam, lagen sie sich auch in den Haaren. Nur wenn wir Besuch hatten, war mein Vater liebevoll und wir gaben eine perfekte Familie ab.

Heutzutage, in Boston, tratscht man über Whitney Houstons Drogenprobleme oder die Geschlechter der Ehegatten. Karaganda war eine andere Welt. Es gab viele Legenden und Gerüchte, Erzählungen, wie man sie sonst nur in den Weird Tales hätte lesen können. Die Hauptzutat der Gerüchteküche war Magie. Frauen, deren Regungen mehr als nur der weiblichen Intuition zu verdanken waren, aufgeschlitzte schwarze Katzen vor der Haustür. Schwer zu sagen, ob es sich hierbei nur um Erfindungen handelte, die der Kindererziehung oder der Füllung der orthodoxen Kirchen dienten oder ob sie doch Wahrheit enthielten. Wenn man sich nur die vielen seltsamen Zigeuner oder die Geschöpfe anschaute, deren negative Aura einem die Kehle zudrückte, gewannen die Geschichten an ungemeiner Authentizität.

Eine dieser Geschichten sollte mein Leben verändern. Es war 1985 und wir hatten Besuch. Die ehemalige Nachbarin meiner Mutter kam mitsamt ihrer Familie zu uns. Sie war eine schöne Frau, mit welligen, schwarzen Haaren und einem weichen Gesicht. Ihr Mann hatte etwas sehr unsympathisches an sich, unter seinen dicken Gläsern sah man kalte Augen, die eines tyrannischen Gebieters. Aber er hat nichts mit der Erzählung zu tun, auch nicht Christian, ihr zweijähriger Sohn, und ihre Tochter Tanja. Beim Abendessen erzählten die Gäste über ihr Leben in Starij Oskol, einer kleinen Stadt nahe Moskau und meine Eltern gaben sich verliebt wie immer. Ich mochte diesen Zirkus der Heuchelei noch nie. Vielleicht war ich klein – obwohl ich mich mit meinen sieben Jahren für groß hielt – und vielleicht wußte ich damals wirklich noch nicht, wer Bram Stoker oder Oscar Wilde waren, aber ich hatte ein gutes Auge dafür, was echt und was gekünstelt war.

Unsere Wohnung war eng, die Tapeten mit hellblauen Blumenmustern fand ich früher hübsch, wahrscheinlich würde mir dieser Stil heutzutage das Essen hochkommen lassen. Ich mußte mein Bett mit Tanja teilen, während Christian in seinem Kinderstuhl lag und mit beiden Händen einen Tennisball umklammerte.

Die Frau setzte sich an mein Bett, so daß mein Teil des Bettes ruckartig in die Höhe schoß. Sie fragte ihre Tochter, die ein Jahr älter ist als ich, woran sie sich denn noch erinnern könne. Sie habe hier ihre ersten Lebensjahre verbracht, erzählte ihre Mutter, denn sie selber konnte sich allem Anschein nach nicht mehr daran erinnern. Also erzählte die Besucherin von der alten Frau, die mir bis dato nicht unter die Augen gekommen war.
Ich hatte den Eindruck, daß sie stundenlang erzählen und dabei alles von fehlgeschlagenen Algendiäten bis zur Zelluloidherstellung hineinpacken konnte. Doch dieses Mal täuschte ich mich – und ich wäre nun glücklich, wenn es das einzige Mal in meinem kurzen und trostlosen Leben gewesen wäre. Nur noch Stichworte kommen mir in den Sinn, wenn ich an die Beschreibung der Alten zurückdenke. Hexe. Krumm und faltig. Eine der Frauen, die uralt aussehen, man aber dennoch glaubt, sie seien noch Jahrhunderte älter. Ich könnte eine noch so detaillierte Beschreibung liefern, von ihrem alten Rock in der Farbe feuchter Holzkisten oder dem glatten Kopftuch mit mattem Blumenmuster, aber nichts kommt der Wirklichkeit so nahe wie mein Schweigen. Sogar wenn ich jedes Fältchen unter ihren Augen erwähne, wird ihre Aura nicht mal ansatzweise nachvollziehbar sein. Wenn man Franklin Roosevelt in der Fußgängerzone begegnet wäre, diesem Krüppel mit der Ausstrahlung reinster Macht, hätte man da die Neigung verspürt, ihm Geld in die Hand zu drücken oder ihn um Hilfe zu bitten? Das ist es, was die Alte so unbeschreiblich macht.

Der Einfachheit halber benutzte unsere Besucherin das Wort „Hexe“ und das werde ich ihr gleichtun, wobei ich mir bewußt bin, daß diese Märchenbezeichnung die zutiefst verstrickte Komplexität ihres Daseins herunterspielt. Die Hexe habe immer und immer wieder an einer Ampel gestanden und darauf gewartet, daß junge Menschen ihr den Weg über den Blechdschungel erleichtern. Heutzutage wäre es als Motiv für eine Schokoriegelwerbung geeignet: „Wenn’s ein wenig länger dauert.“ Doch damals, unter der Sowjetherrschaft, war es eine Paralleldimension. Man begegnete dem Alter mit viel Respekt, es war selbstverständlich, seinen Platz im Bus für eine ältere Person frei zu machen. Obwohl, es kann schlimmer kommen.

An sich klingt es nach einem primitiven Zeitvertreib, der für Alzheimerpatienten sehr wohl noch einen Sinn ergeben könnte. Wäre da nicht das Problem gewesen, daß einige Jugendliche aus unerklärlichen Gründen tödlich erkrankten. Es gab keine Gemeinsamkeit zwischen den Opfern und es hätte göttliche Willkür sein können, wenn diese Frau nicht gewesen wäre. Denn sie alle hatten ihr kurz zuvor über die Straße geholfen. Ihre Schuld konnte nicht nachgewiesen werden, denn es waren nicht mal die kleinsten Indizien vorhanden. Die Hexe trieb ihr Unwesen weiterhin und die Krankheiten wüteten unter den jungen, hilfsbereiten Menschen, bis die Frau verschwunden war. Sie sei in unregelmäßigen Abständen wieder erschienen, fuhr unser Besuch fort, doch nie länger als sechs Minuten.

Es gab keinen Grund, ihr Vertrauen zu schenken. Deswegen war es wohl die kindische, dumme Neugier, die mir diese Geschichte so angsteinflössend erscheinen ließ.

Um es vorwegzunehmen, die alte Hexe war viel mehr als ein Mythos. Das begriff ich ein Jahr später, als ich keinerlei Erinnerung mehr an den Besuch hatte, als ich die unheimliche Geschichte schon längst aus meinem Gedächtnis verbannt hatte. An dem Tag teilte sich der Himmel und weinte um mein verlorenes Leben, noch bevor ich etwas davon ahnte. Ich konnte gerade einmal zehn Meter nach vorne gucken, so dicht stürzte der Regen auf die leergefegten Straßen. Das Wasser stand so hoch, daß es die Reifen der geparkten Fahrzeuge überdeckte und ich befürchtete, sie könnten wegtreiben.
Mein Kopf fühlte sich dem Wetter entsprechend an und verpaßte mir bei jeder noch so kleinsten Bewegung einen kurzen aber intensiven und durchdringenden Schmerz. Deswegen hatte ich schon am Vormittag die Schule verlassen und mußte alleine durch das Unwetter nachhause laufen. Die Ampel sah ich nur als einen winzigen, flackernden Punkt, kaum anders als einen Stern.

Die Hexe wurde mir erst sichtbar, als ich meine Hand nach ihr ausstrecken konnte. Ihr Kopf war nicht von einem Tuch bedeckt, was bei Frauen ihres Alters damals Aufsehen erregte. So begegnete ich ihr. Später, als ich Stunden, Tage und Jahre darüber nachdachte, fiel es mir auf, daß sie doch ein Tuch trug, aber erst, nachdem ich ihr mein Leben verschrieben hatte. Kraftvolle Augen, als stünde sie noch mitten im Leben, kontrastierten mit dem zerknüllten Gesicht, mit der schlaff hängenden Haut, in deren Falten sich Feuchtigkeit sammelte, bis diese von aufprallenden Tropfen wieder in Bewegung gebracht wurde.

„Ich kann nichts sehen“, beichtete sie teils hustend. „Helfen Sie mir über die Straße?“
„Da fahren keine Autos“, entgegnete ich so höflich wie nur möglich.

Es war keine Dankbarkeit in ihrer Art, nur die Arroganz des Alters, mit der sie ihre Empörung über die fehlende Höflichkeit ausdrückte. Als sie einen Schritt nach vorne wagte und dabei fast am im Wasser liegenden Bordstein stolperte, eilte ich ihr zu Hilfe. Sie stützte sich an meinem lockigen Kinderkopf. Die knochige Hand vollzog eine Taufbewegung, sie saugte mich aus. Nicht mein Blut, mich. Sie war ein Vampir, wahrhaftig. Ein Wesen, welches bereit ist, das Leben anderer für eigene Zwecke zu zerstören, das Hilfeleistungen mit zerstörerischer Abhängigkeit belohnt oder gar nicht erst um Hilfe bittet, sondern sie sich nimmt. Ein Geschöpf, dessen Lebensrespekt sich auf das eigene Dasein beschränkt.

Ich wollte ES, was auch immer sie mir in dem Moment genommen hatte, zurückholen und folgte ihr. Kann man den Verlust der Jungfräulichkeit rückgängig machen, in dem man sich ein zweites Mal flachlegen läßt? Aber was wußte ich schon? Was weiß ich schon?

Mit blindem Gehorsam folgte ich ihr in die Wüste der verlorenen Seelen. Ich erblickte Jesus. Gott und der Teufel, die Endgültigkeit des Todes und das Wunder des Lebens verschmolzen in seinen dunklen Augen, die mich begleiteten. Wahrscheinlich wäre er in alle Ewigkeit bei mir geblieben, schweigend und beobachtend, meinen Schmerz in sich aufsaugend, bis ich einen friedlichen Tod gestorben wäre. Aber die Alte verriet mir, daß sich nichts verschmelzen könne, was seit Anbeginn der Zeit ein und dasselbe ist.„Diesen Mann“, keuchte sie, „hat es nie gegeben. Nur ein armer Spinner, der sich zu vermarkten wußte. Ich bin die Mutter und der Vater, vergiß das nie! Glaubst du wirklich, er könnte dich beschützen? Ein größenwahnsinniger Psychologe, der gerne mal hoch oben in den Bergen Halluzinogene rauchte und dabei glaubte, der Teufel wolle ihn verführen? Er bezahlte Schauspieler, damit sie sich krank stellten. Das waren seine Heilungen. Daraufhin kam jeder Idiot mit imaginären Leiden zu ihm und wurde geheilt. Sicher doch, der psychologische Vorteil lag ja auch bei dem Typen, dessen Kinder mehr Leid über die Welt brachten, als alle Naturkatastrophen es je könnten.“

„Alte Menschen sprechen nicht so“, jammerte ich wie im Halbschlaf. Der Heiland verschwand unter dem Regendauerbeschuß, ausgerechnet er, der ja auf dem Wasser laufen kann.

„Du hast nicht die leiseste Vorstellung von meinem Alter.“ Nicht die leiseste Vorstellung, nicht die leiseste Vorstellung, nicht die leiseste Vorstellung ...Von da an hörte ich auf zu existieren. Keine Vorstellungen, nur noch Träume. Endlos dahintreibende Träume, bis ich Jahre später in ihrer Welt aufwachte.

Oder ist es genau umgekehrt? „Das Geheimnis meines Wesens“, so sagte sie mir während der Trance, „liegt in seinem Aussehen. Zu alt und friedfertig, zu schwach gegenüber dem Willen des Individuums. Täuschung. Nur Täuschung. Und was ist die Wahrheit? Du bist nichts. Versuche dich im Spiegel zu sehen und du wirst erkennen, daß du der Grund für Überbevölkerung bist. Sprich auf einen Tonband und vertausche sie mit einer anderen, dir wird kein Unterschied auffallen. Warum? Foltere einen Mann, verpacke eine Peitsche in Geschenkpapier, wirf sie ihm vor die Füße und er wird glauben, frei zu sein. Jetzt befiehlt man euch, was zu tun ist. Dann sagt man euch Menschen auf einmal, ihr seid frei zu handeln, zu denken und zu fühlen. Du wirst es noch erleben, schon bald werden die Menschen von ihren Freiheiten schwärmen – und sind dennoch nur ein Kollektiv. Freiheit bedeutet, nicht zu wissen, daß man ein Sklave ist. Meinungsfreiheit, wo kommen die meinungsbildenden Gedanken her? Wer schmeißt euch die Peitsche vor die Füße?“

Ein weiteres Mal hielt sie mir zwei Fotos vor die Nase. Ich kannte den Mann, der dort abgebildet war. Irgendein toter Politiker namens Stalin, im Kindergarten wurde uns ständig erzählt, wie kinderlieb und menschenfreundlich er und sein Mentor Lenin doch gewesen seien. „Hier siehst du einen dummen Mann, der sich gegen die Macht stellte. Er glaubte tatsächlich, den stärkeren Willen zu besitzen. Stalin ermordete viele, doch in diesem Fall war Mord nicht genug. Die Macht raubte ihm die Existenz, ganz einfach. Er wurde zu einem Nichts, ohne Körper, ohne Leben, ohne Schaffenskraft, ohne Willen auf diesem Planeten. Ich nehme Leben, damit ich überleben kann, der Sieg des Stärkeren. Die Natur gibt mir alle dazu benötigten Rechte, du siehst, gewissermaßen bin selbst ich nur ein Instrument. Doch zurück zum Thema. Die Opfer sind dumm und nichtig, genau wie du. Nur deine Wenigkeit besitzt die Frechheit, mich zu begleiten, in der Hoffnung, den Verlust an Lebenskraft noch auszugleichen. Es ist eine Maßlosigkeit, zu glauben, dein vegetativer Wille könnte größer sein als mein bewußter Wille. Das verdient eine größere Bestrafung.
Du wirst in meiner Welt leben, täglich mit ansehen, wie das Volk sich über seine angebliche Freiheit freut und nur wir, die Starken, über den Geist der Schwachen bestimmen. Dann wirst du schon sehen, wie weit man allein mit Erkenntnis kommt, wenn man keine Macht besitzt, ein Nichts ist.“ Und tatsächlich, ich betrachtete das andere Bild, das dem Vorherigen in fast allen Belangen identisch war, aber der Mann neben Stalin war verschwunden.

Manchmal erschienen meine Eltern, wie Staub in einem Lichtstrahl, den man schnell wieder vergißt. Ob sie mich wohl vermißten oder nach mir suchten? Auch die Familie der Frau, die mir von der Hexe erzählt hatte, tauchte auf. Diesmal hatten sie Besuch von meinen Eltern, in einer anderen Welt, im Westen, wo Karl der Große einst Menschen ertrunken und es als Taufe bezeichnet hatte. Sie soffen Bier und Wodka und lachten über die alten Zeiten, bis der kleine Christian, so alt wie ich damals gewesen war, behauptete, mich sehen zu können. Von da an weinten sie nur noch. Man müsse davon ausgehen, sagte meine Mutter, daß ich gestorben sei. Vergewaltigt, meine Leiche zerstückelt in einem heruntergekommenen See.

Das war meine Trance. Ich erwachte als eine fast erwachsene Frau in Boston und die Prophezeiung hatte sich erfüllt.

[ 31.07.2002, 17:00: Beitrag editiert von: zorenmaya ]

 

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