Stille Nacht
Ypern, 1914.
Er war wohl der Einzige unter ihnen, der am Himmel noch nach Sternen suchte. Doch wie konnte der Junge Sterne sehen wollen, wenn es keinen Himmel mehr gab? Über ihren Köpfen lag eine schwere Decke aus Rauch und Höllenfeuer, das ihre Häupter versenkte und sie in ihre Grotten drängte wie die Verdammten.
Und der Junge, er war nur einer, einer von Millionen anderen. Unter seinem Helm wütete die Krätze, und darunter kauerte eine Seele, die zerfressen war von Desillusionierung und der Leere der verlorengegangenen Kindheit. Seine Augen fixierten fortwährend das unerreichbare, ewige Firmament hoch über ihnen. Er dachte nicht an den Krieg, nicht an die Siege und Verluste, an die Fahnen, die Gewehre, nicht einmal an seine Kameraden. Der Junge dachte an nichts dergleichen mehr.
Der Lehrer Schnorrenberg des örtlichen Gymnasiums hatte der Klasse mit geschwelter Brust verkündet, dass ein jeder von ihnen mit Recht als Held, als Märtyrer fürs Vaterland in die Historie eingehen würde. „Bis Weihnachten seid ihr wieder daheim“, hatte er gesagt. Die Jungen waren in Jubelchöre verfallen, hatten in euphorischem, jugendlichem Tatendrang den weinenden Müttern und neidischen Gefährten vom Zugwagon aus gewunken und nationalistische Lieder angestimmt. Sie alle hatten dem Lehrer geglaubt.
„Gibt’s da was zu sehen, Moritz?“, fragte der unbekannte Mann neben ihm. Er hätte sein Vater sein können. Der Junge schüttelte den Kopf. Er spürte, wie sich um seine Füße herum etwas regte, doch es kümmerte ihn kaum. Das mussten die Ratten sein, die elendigen Mitbewohner ihrer verseuchten Löcher. Seit Monaten nun lebten sie zusammen in den Gräben, in den blutgetränkten Schlammfurchen. Dabei waren das Schlimme nicht die Ratten, ihre Kameraden ohne Uniform. Es war der verätzende Gestank der verendeten Körper, der dahingemetzelten Kameraden, der allgegenwärtig das Atmen zur Tortur machte.
DEM VATERLAND TREU BLEIBEN! FÜR REICH UND KAISER! MÖGE DER ALLMÄCHTIGE MEINEN DEGEN FÜHREN UND DEN SIEG UNS BRINGEN!
Suchen nach Gott, so wie jede Nacht. Kämpfte Er tatsächlich auf ihrer Seite, oder waren es gar die Franzmänner, die Er führte? Moritz versuchte, sich daran zu erinnern, was sie ihnen diesbezüglich in der Schule gesagt hatten. Doch all die leeren Versprechungen und Verheißungen waren nicht mehr als wahllos zusammengekleisterte Wörter in seinem Kopf. WO IST GOTT?
Neben dem Jungen lagen zwei Kameraden.
Der eine schlafend. Der andere tot.
Moritz wusste, dass er niemals die Augen schließen durfte. Niemals. Denn in jenem bodenlosen Zustand würden die Bilder, die Klänge, die Gerüche der Heimat wieder Besitz von ihm ergreifen. Sie würden ihn wieder heimbringen wollen. Er sähe seine liebe Mutter mit der Schürze voll Äpfel, den strengen und kaisertreuen Vater, das kleine Fritzchen. Er hörte ihre Stimmen in einer Kakophonie aus Sehnsucht und unsäglichem Heimweh. Das war es, was jedem von ihnen, ob Franzose oder Deutscher, den Wahnsinn in die Herzen trieb. Im Vergleich zu der zugefrorenen Hölle, in der sie sich befanden, schien die winzige, verdreckte städtische Mietskaserne und das kohleverrußte Bauernhäuschen das Paradies zu sein, aus welchem sie mit erhobenen Fahnen, frischpolierten Stiefeln und strahlenden Gesichtern hochnäsig hinausmarschiert waren. Sie alle waren verblendet gewesen. Verblendet vom Ruhm, vom Sieg, von der Überlegenheit, die ihnen eingebläut wurde. Sie alle wollten aus eigenem Willen dem Vaterlande dienen!
Auch Moritz. Besonders Moritz. Zusammen mit seinen Freunden war er einer der ersten Knaben auf der Liste gewesen. Sie hatten Späße über den Krieg gemacht, hatten sich ausrüsten und trimmen lassen. „Ich bin doch Weihnachten wieder zurück, Mutter!“
Und mit diesen Worten waren sie hinfortgezogen. In den Westen. In den persönlichen, heiligen Krieg. Moritz gefiel es unter seinen Kameraden. Ihm gefiel es, einer von ihnen zu sein, nichts tun zu müssen, außer mitzumarschieren, mitzusingen, mitzukämpfen.
Mitzuversagen, mitzuleiden, mitzusterben wie die Fliegen. Der Krieg.
Schon bald dämmerte ihm, dass es kein Zurück mehr ins Paradies gab. WILL GOTT UNS NICHT ZURÜCK?
„Sie kommen!“, brüllte der Mann neben ihm mit weitaufgerissenen Augen. „Da vorne rennen sie schon!!“ Alles, was noch lebte, griff reflexartig zu den Waffen. Der Materialkrieg. Man hielt den Atem an. SIE KOMMEN!
Moritz wandte seinen Blick vom verdeckten Himmel ab und erblickte perplex die Finsternis des Grabens. Alles war in Aufruhr. Der Schlafende, ein ehemaliger Klassenkamerad namens Helmut, hatte sich längst wieder aufgerappelt und suchte nun verzweifelt nach seinem Dolch, den er in all dem Durcheinander verloren hatte. Diejenigen unter ihnen, die unbewaffnet waren, hatten sich in die Löcher zurückgedrängt wie verschreckte Hasen. Es war ihr Ende, und das wussten sie. Moritz spürte, wie das Herz in seiner Brust brannte und von innen gegen das schwere Maschinengewehr klopfte, das er bei sich trug. Helmut und er waren zuletzt die einzigen aus der Klasse gewesen, die noch eine Waffe bei sich trugen. Die gleichaltrigen Kameraden waren tot. Der Erich, der Alfred, der Georg und Lehrer Schnorrenberg. Alle tot.
„RENNT, KAMERADEN!“, schrie der Mann mit von Panik verzehrter Stimme. „RENNT VOR DEN-“
Und in dieser Sekunde wurde sein Leib von einer Handvoll Blei durchsiebt, und er sank mit plumpem Laut zu Moritz’ Stiefeln in den Matsch. Der Junge stöhnte auf. Ekel, Panik und das schiere Entsetzen waren die Herren seiner Seele geworden.
Das gewaltige Dröhnen der Bomben in der Umgebung und das ohrenzerschmetternde Gewährsfeuer erschütterten die Welt. Die Apokalypse nahm erneut ihren Lauf. Klänge der Hölle. Bilder der Verdammnis. GOTT, WO BIST DU!
Dann rannte Moritz los. Raus aus dem Versteck. Hinein in die Mausefalle. Er stolperte über frisch gefallene, noch blutende Leiber, versank im roten Schlamm, im Rauch der Geschosse. Er musste weiter, durfte mitsamt der Waffe und der Uniform jetzt nicht halten.
Immer nur rennen, rennen, rennen. Bis zum jüngsten Gericht.
Junger Moritz, wo rennst du hin? Wo, mein Knabe, ist deine kämpferische Ehre geblieben, und wo die zügellose Vaterlandstreue? Du huschst durch Nebel und Verderben davon wie ein wildes Tier auf der Flucht, blickst dich nicht um zu deinen Kameraden! – Wer spricht da? Bist du es, Gott? – Aber nein! Wer hier spricht, das ist die Angst. Ich bin das Letzte, was dir geblieben, dein letzter, lebendiger Freund. Du weißt, selbst, wenn sie dich nicht kriegen sollten, werde ich bei dir bleiben. Ich habe dir meine Treue geschworen. Ich werde mit dir heimkehren.
Und dann war es vorbei.
Zwei Schüsse durchlöcherten ihm Oberschenkel und Hüfte.
Der Junge stürzte.
Neben ihm ertönten die Todesschreie der anderen. Womöglich waren es nicht seine eigenen Kameraden. Womöglich trugen sie andere Uniformen, hatten andere Namen und sprachen eine andere Sprache. Doch waren sie alle Menschen. Sie alle waren von Gott geschaffene und im Tode vereinte Menschen.
Nach einer geraumen Zeit ebbte der Kanon der Qualen langsam ab. Wie viele waren schon tot?
Moritz bewegte sich kaum mehr. Sein Atem ging stoßweise, und die zertrümmerte Seele begann, sich reisebereit zu machen.
„Bis Weihnachten seid ihr wieder daheim“, hatten sie ihnen 1914 gesagt.
Aber nicht, bis zu welchem Weihnachten.
Ein letztes Mal blickten die grauen Augen gen Himmel. Dort oben, hoch über den Köpfen der Verwundeten, der Verlassenen, der Mordenden, der Angsterfüllten, dort thronte der Weihnachtsstern.
Moritz wollte lächeln.
Dort oben war Er.
GOTT.