Stille Nacht
Das erste, was sie von ihm sah, war ein riesengroßer Blumenstrauß. Lilien und Orchideen. Die wunderschönste Kombination, die sie jemals gesehen hatte. Er trug sie in seiner Hand vor sich her, als wären sie etwas, was ihn zutiefst anwiderte. Sein Atem schwebte in kleinen Wolken um ihn herum. Es war kalt. Aus einer seltsamen Laune heraus stieß sie sich von der Wand ab, an der sie lehnte, und folgte ihm möglichst unauffällig. Er ging langsam, trottete fast. Er hielt den Kopf gesenkt. Neben einem Briefkasten blieb er plötzlich stehen und legte die Blumen mit einer unsicheren, unbestimmten Handbewegung auf eine Bank. Er verweilte noch einen Moment, drehte sich dann wieder weg und ging weiter. Sie wusste eigentlich gar nicht wieso, vielleicht weil sie es nicht leiden konnte, wenn Blumen einfach so weggeworfen werden, aber sie lief zu der Bank, nahm den Blumenstrauß und rief laut: „Hey, warte mal!“ Er drehte sich um, erblickte sie mit den Blumen. Für einen Moment verschlug es ihm den Atem. Ihre Blicke trafen sich. In dieser Sekunde kam es ihr fast vor, als sähe sie etwas in seinen leuchtend blauen Augen zerbrechen. Sie fühlte Wut, Traurigkeit und Enttäuschung. Fragend neigte er den Kopf, wartete auf eine Erklärung. Sie hob ihren Arm, suchte nach Worten. „Nun...“, stotterte sie. „Ich sah, dass du diese herrlichen Blumen hier einfach liegen lassen wolltest... Ich weiß nicht, na ja, das ist ja eigentlich deine Sache, ich dachte nur, na ja, eigentlich weiß ich nicht recht, was ich gedacht hab...“ Er lächelte. Doch es war kein warmherziges Lächeln. Es war kalt, gezwungen freundlich. „Ich brauche diese Blumen nicht mehr“, sagte er nicht leise und nicht laut. „Sie haben keine Bedeutung mehr für mich. Nichts hat mehr eine Bedeutung. Du kannst sie haben, wenn du möchtest. Vielleicht machen sie wenigstens dich glücklich.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand rasch in der Menschenmenge, die in der Vorweihnachtszeit in der Innenstadt herrscht. Sie blieb zurück, verwirrt, verzaubert. Mit Lilien und Orchideen in der Hand.
Sie, Miriam, liebte Blumen über alles. Nach ihrem erfolgreichen Schulabschluss machte sie zur Zeit ein Praktikum beim besten Gärtner der Stadt. Sie war groß und schlank, hatte tiefbraune Augen und lange schwarze Haare. Mit Jungen oder eher Männern hatte sie nicht viel zu tun, höchstens bei ihrer Arbeit. Doch er hatte sie irgendwie fasziniert. Vielleicht waren es seine Augen gewesen oder einfach nur dieses Gefühl tiefer Verzweiflung, das er ausdrückte.
Das nächste Mal begegneten sich die beiden zwei Wochen später. Miriam fuhr mit der S-Bahn zur Arbeit, etwas früher als gewöhnlich. Sie saß auf ihrem Platz, zwischen hustenden und schniefenden Menschen. Die Erkältungswelle holte die Menschen unerbittlich ein. Sie rutschte tiefer in den Sitz, hielt sich ihre Zeitung dichter vor die Nase und versuchte, sich auf einen Artikel über die Steuererhöhung zu konzentrieren. Sie kam bis zur Mitte des fünften Satzes. An dieser Stelle begannen ihre Gedanken abzuschweifen. Sie hatte von ihm geträumt, letzte Nacht. Sie hielt sich selbst für ziemlich verrückt. Sie hatte ihn nur einmal gesehen, kannte seinen Namen nicht und wusste auch sonst nichts von ihm. Trotzdem ging er ihr nicht aus dem Kopf. Vor ihrem inneren Auge schwebte seit unzähligen Tagen das Bild des Augenblicks, als sich ihre Augen gekreuzt hatten. Dieser eine eindringliche Blick. Als sei ihre Seele durchleuchtet worden. Sie hatte die Lilien und Orchideen auf ihren Wohnzimmertisch gestellt und sich viele Stunden lang davor gesetzt. Einfach nur zum Nachdenken. Zum Nachdenken über ihn. Sie wusste nicht, ob sie ihn wiedersehen wollte. Ob sie das überhaupt konnte. Wahrscheinlich nicht. Sie wollte ihn nicht vergessen, wollte ihn in ihrer Erinnerung lebendig, aktuell halten, als eine interessante, wenn auch seltsame Begegnung. Wenn sie abends allein in ihrer Wohnung saß, die ihr im Winter, wo das Zuhause doch so gemütlich wirken sollte, ganz besonders kalt vorkam, dachte sie an ihn. Wenn sie bei der Arbeit die verbliebenen Pflanzen von draußen nach drinnen transportierte, damit sie den Winter heil überstanden, dachte sie an ihn. Und wenn sie gar nichts tat, dachte sie an ihn. Er war fast immer in Gedanken bei ihr. Doch sie blieb immer an einem Punkt hängen. An dem Gedanken, dass all dieses an ihn Denken letztendlich zu überhaupt nichts führte, da er irgendwo war, irgendwo da draußen. Nicht hier, nicht bei ihr.
Vielleicht kam das eh alles, weil sie so wenige soziale Kontakte hatte. Kaum Freunde, wenige Besuche von und bei ihrer Familie, keine engere Beziehung zu ihren Arbeitskollegen. Sie wünschte sich einfach endlich jemanden, der sich für sie interessierte, der sie verstand, ihr zuhörte. Einfach jemanden, den sich eigentlich jeder Mensch wünscht, den er sucht und braucht. Aber sie wollte auch jemanden, um den sie sich kümmern konnte. Sie hatte so viel Liebe zu geben. Doch keiner wollte sie. Das verletzte sie tief.
Dies alles ging ihr durch den Kopf, während sie immer noch die Mitte des fünften Satzes des Artikels über Steuererhöhung anstarrte. Dann ließ sie eine mehr oder weniger vertraute Stimme aufhorchen und in ihrem Sitz hochfahren. Sie lugte über ihre Zeitung. Tatsächlich, er war es. „Es ist acht Uhr fünfunddreißig“, sagte er. Er stand mit dem Rücken zu ihr. „Danke“, sagte eine ältere Frau und schob sich an Miriam vorbei. Sie zog ihre Knie an und hielt sich die Zeitung rasch wieder vors Gesicht. Was sollte sie nun tun?
Sie spürte einen ganz leichten Stoß von links. Er hatte sich neben sie gesetzt. Sie hielt die Luft an. Wenn es einen Gott des Zufalls gibt, betete sie stumm, dann sei diesem hiermit innigst gedankt. Sie senkte die Zeitung langsam. Sie betrachtete ihn von der Seite. Er war mit verlorenem Blick in ein Buch versunken. Miriam nahm all ihren Mut zusammen. „Dickens“, sagte sie anerkennend. „Große Erwartungen. Hast du welche?“ Er schaute auf, irritiert. Sie versucht, ihn anzulächeln, was mittelmäßig gelang. „Man könnte eher sagen, ich hatte welche“, sagte er auf eine seltsam vertrauliche Art. Er erkannte sie nicht. Eine Pause entstand. „Ein Klassiker halt“, fügte er schließlich hinzu. „Eines meiner Lieblingsbücher.“ Sie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Sie war enttäuscht. Wieso erkennt er mich nicht, dachte sie. Ich scheine keinen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen zu haben.
Er vertiefte sich wieder in sein Buch. Sie schwieg. Sie näherte sich ihrer Haltestelle. Schließlich wagte sie noch eine Frage: „Hatten deine große Erwartungen mit einer Frau zu tun?“ „Ich weiß zwar nicht, was Sie das angeht, aber ja“, sagte er fast unfreundlich, unwirsch. Bei der nächsten Haltestelle stieg sie aus. Ihre Arbeit an diesem Tag machte ihr keinen Spaß.
Drei Tage später, eine Woche vor Weihnachten, es wurde immer kälter und kälter, jedoch zeigte sich nicht eine Schneeflocke am Himmel, kam ein furchtbaren Gewitter vom Himmel gestürzt. Miriam war unterwegs, um noch die letzten Geschenke zu besorgen, als sie der Regen überraschend wie ein Blitzschlag traf. Triefend nass suchte sie Schutz unter einem Vordach. Der Regen schien endlos zu sein. Unter dem Vordach standen außer ihr noch zwei oder drei graue Gestalten. Seine großen Erwartungen waren nicht aus ihren Gedanken zu vertreiben. Sie wollte davon wissen, wollte sie verstehen, wollte sie, wenn möglich, vielleicht sogar erfüllen.
Dann kam er. Er rannte, das erste Mal, dass sie ihn rennen sah, er hielt sich seine Jacke schützend über seinen Kopf. Das Wasser tropfte aus jedem Winkel seiner Kleidung und seines Gesichts. Sie starrte ihn fasziniert an. Er schüttelte das Wasser so gut es ging ab und lehnte sich dann erschöpft gegen die Hauswand. Miriam näherte sich langsam. „Hallo“, sagte sie leise, flüsterte sie fast. Ihr Haar war nass und lag in Strähnen an ihrem Kopf. Er fand sie in diesem Moment unglaublich hübsch. „Ich weiß, ich muss dir langsam auf die Nerven gehen... Ich bin die Frau, der du damals die Blumen überlassen hat... und die, mit der du dich in der S-Bahn über Dickens unterhalten hast. Und nun begegnen wir uns schon wieder. Ist das Zufall oder was anderes? Ich find’s schon fast seltsam...“ Sie brach ab, weil er sie mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen, halb belustigt, halb verwundert, anschaute. Sie mochte es, wenn er sie anschaute. Er studierte ihr ebenmäßiges Gesicht, ihre leuchtenden Augen, ihre elegante Figur. Sie wiederum nahm seine traurigen blauen Augen, sein strubbeliges dunkles Haar, seine geheimnisvolle Aura in sich auf. Er schloss die Augen, bevor er sie küsste.
Miriam trommelte nervös mit ihren Fingern auf ihrem Wohnzimmertisch herum. Die Lilien und Orchideen waren längst verblüht, ihre verwelkten Stengel ruhten jedoch immer noch in der schönen sonnengelben Vase. Sie dachte an gestern Abend. Er hatte sie geküsst. Genau im richtigen Moment. Es war das wunderbarste Erlebnis in ihrem ganzen bisherigen Leben gewesen. Dann hatte er sich niedergekniet, pflückte ein verirrtes Schneeglöckchen, das in diesem Winter schon besonders früh dran war und hielt es ihr hin, mit einem fast verlegenen Lächeln. Diesmal ein echtes Lächeln. Sie nahm es und steckte es sich mitten in ihr feuchtes Haar. Die beiden lächelten sich an. Minutenlang. Stundenlang. Monatelang. Jahrelang. Wer wusste das schon? Die beiden hatten ihr Zeitgefühl irgendwo gelassen, sie wussten nicht wo. Und der Regen fiel hinunter, endlose Fäden von Wasser liefen am Vordach entlang. „Wie ist dein Name?“, flüsterte sie atemlos. „Alexander“, flüsterte er zurück. „Wann kann ich dich wiedersehen, Alexander?“, keuchte sie, angespannt. „Komm morgen Abend“, sagte er leise und schob ihr eine Karte in ihre Handfläche. Er drückte ihre Hand, nickte ihr zu und lief davon. Sie brauchte ihm nicht hinterher zu laufen, wollte ihm nichts hinterher rufen. Denn sie war glücklich.
Miriam seufzte. Ihre Finger spielten mit der Karte. Die Minuten krochen dahin. Es war erst fünf Uhr nachmittags, sie wollte nicht bis acht Uhr warten. Sie ließ eine Haarsträhne durch die Finger gleiten, fühlte das Schneeglöckchen, lächelte.
Sie atmete tief ein und klingelte. Die Tür öffnete sich. Um die Peinlichkeit der Begrüßung zu vermeiden, drückte sie ihm einen riesigen Strauß Sonnenblumen in die Hand, den sie aus der Gärtnerei mitgenommen hatte, die Sommerblumen im Winter aus exotischen Ländern exportierte und künstlich anpflanzte. Er lächelte sie über die Blumen hinweg an, stellte sie jedoch schnell, fast herzlos in eine Vase. Allerdings nicht auf den Tisch, sondern auf eine seitlich gelegene Kommode. Sie setzten sich, aßen, redeten, lachten viel. Sahen sich in die Augen. Ihr war längst klar, dass sie ihn liebte. „Was für große Erwartungen hast du damals eigentlich gemeint, in der S-Bahn?“, fragte sie und schwenkte ihr Weinglas. „Hm.“ Sie sah ihm an, dass er nicht darüber sprechen wollte. „Ich hatte große Erwartungen, zu große. Aber das ist vorbei. Lass uns über was anderes reden.“ „Nein.“ Sie beharrte auf dem Thema. „Was hatte diese ganze Sache mit dem Lilien und Orchideen eigentlich zu bedeuten?“ Er seufzte. „Na schön. Ich will ehrlich mit dir sein. Auch wenn es dich verletzt.“ Er machte eine Pause, nickte dann. „Ich habe eine Freundin, jedenfalls hatte ich vor drei Wochen noch eine. Seitdem haben wir nicht mehr miteinander geredet.“ Miriam war erschrocken, versuchte aber mit aller Macht, es sich nicht allzu sehr anmerken zu lassen. „Was ist passiert?“, fragte sie, scheinbar unteilbar. Sie wurde distanzierter. „Ich hab ihr einen Heiratsantrag gemacht.“ Er senkte den Kopf. „Sie hat ihn abgelehnt. Deshalb wollte ich die Blumen nicht mehr. Den Ring hatte ich vorher in den Fluss geworfen. Seitdem mag ich Blumen nicht mehr sonderlich. Ich glaube, sie bringen Unglück.“ Das alles traf sie wie eine schmerzhafte Ohrfeige. Er liebte nicht sie, Miriam, sondern eine andere Frau, er wollte diese Frau heiraten. Er hatte sie nur aus Kummer geküsst, aus Ablenkung. Es hatte ihm nichts bedeutet. Sie hörte Alexander seufzen. Die Tränen strömten aus ihren Augen als sie aufsprang und dabei den Stuhl umwarf. „Hast du mich nur benutzt?“, fragte sie, erstaunlich gefasst. „Dieser Kuss war wohl ein Fehler“, gab er zu. „Ich werde an Weihnachten zu ihr fliegen, ich werde sie überraschen und sie fragen, ob sie es noch einmal mit mir versuchen wird. Es tut mir leid, wenn ich dir Hoffnungen gemacht habe. Aber ich glaube, dass wir sehr gut befreundet sein könnten. Das Schicksal hat halt nicht immer recht.“
Er klang so herzlos, so gleichgültig. Sie konnte, wollte es nicht glauben. Empört, wütend und unsagbar traurig schrie sie: „Warum?“ Dann, ganz leise: „Du hättest mich noch nicht mal küssen müssen. Ich hab mich sofort in dich verliebt. Sofort.“
Sie war aus seiner Wohnung gestürmt, hatte nicht mal mehr die Kraft, die Tür zu zuknallen. Er hatte sie gebrochen, er hatte sie kraftlos gemacht. Nun saß er in seiner bescheuerten scheinheiligen Wohnung und fluchte leise vor sich hin.
In ihr war nicht nur ihr Herz gebrochen, auch ihre Seele und ihr Wille, zu leben. Als sie Alexander zum ersten Mal in die Augen gesehen hatte, wusste sie sofort: Dieser Mann. Sonst keiner. Für diesen Mann will ich leben. Ihn will ich bis an das Ende meines Lebens lieben. Er ist alles wert. Ohne ihn kann ich nicht mehr leben.
Sie fand sich selbst besessen. Sie wusste, dass das nicht gut war. Besessenheit war noch nie von Nutzen gewesen. Leidenschaft, Liebe, Besessenheit. Alles so unberechenbar. Nicht gut. Sie saß auf dem Boden und zupfte an den Fransen ihres Teppichs. War es das, fragte sie sich immer wieder. War es das. Ich liebe ihn doch. Wieso wird mir erst so ein Mensch geschickt, wieso wird er mir dann weggenommen? Sie sah Blütenblättern beim Fallen zu. Fünf Tage vergingen. Sie verließ die Wohnung nicht, weigerte sich zu essen, trank nur wenig. Niemand kam zu Besuch. War es das?
Heiligabend kam. Mit ihm die Depressionen. Fest der Liebe. Ironie wohin man blickt. Sie zog sich zurück, kuschelte sich tief in ihr Bett, drückte sich Kissen gegen ihre Ohren, damit sie nichts von den furchtbaren Weihnachtsliedern hörte, die von überallher zu kommen schienen.
Die Dämmerung setzte ein. Überall gingen Lichterketten an, sie verschwommen unter Miriams Tränen. Sie war allein. Allein mit Weihnachten. Und mit ihrem gebrochenen Herz. So allein.
Miriam schreckte hoch. Sie musste eingeschlafen sein. Es war kurz vor Mitternacht. Langsam hatte sich der Trubel wieder gelegt, die Nachbarn waren wieder still, schliefen teilweise schon. Ein Geräusch von draußen hatte sie geweckt. Ein Fenster öffnete sich. Miriam war zu schwach, um sich nach einer Waffe umzusehen, mit der sie den Einbrecher würde niederschlagen können. Raubt mich aus, schlagt mich, bringt mich um, mir egal, dachte sie. Doch es war kein Einbrecher. Es war Alexander.
Sie erblickte ihn, schaute fragend. Doch er hielt seinen Finger vor ihre Lippen. „Ich habe dich gefunden“, sagte er. „Frag nicht. Frag gar nichts. Es ist egal. Ich bin hier. Ich war dumm. Ich liebe dich.“ Er steckte ihr eine Rose ins Haar und küsste sie.
Und es begann zu schneien.