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Stille Nacht, heilige Nacht

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22.11.2003
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Stille Nacht, heilige Nacht

Stille Nacht, heilige Nacht

Weiße Weihnachten, seit langem einmal wieder! Es hatte schon am frühen Nachmittag zu schneien begonnen, und dank dem Dauerfrost der letzten Tage häuften sich die großen, schweren Flocken auf dem Boden bald zu einer geschlossenen weißen Decke.
Ich hatte mir das Sofa ans Fenster gerückt, Kerzen in die Erkernische gestellt und es mir so recht gemütlich gemacht. Früh brach an diesem dreiundzwanzigsten Dezember die Dunkelheit herein. Schon als Kind hatte ich es geliebt, in den Himmel zu schauen, wenn die Flocken in unendlicher Fülle aus dem schwarzen Nichts zu Boden taumelten. Stundenlang konnte ich so dasitzen, ganz still, während auch die gewöhnlichen Straßengeräusche draußen vor meinem Fenster immer gedämpfter klangen.
Die Konturen des kleinen Vorgartens, auf den ich durch das Fenster blickte, verschwammen bereits in ebenmäßigem Weiß.
Auf der Straße, die um diese frühabendliche Zeit noch befahren war, markierten nur noch jeweils zwei tiefe, breite Reifenspuren die Fahrbahnen. Doch auch die Eindrücke waren weiß - kein Flecken dunkler Asphalt schaute mehr unter der rasch dicker werdenden Schneeschicht hervor.
Wenn das so weiterging, würde bis zum Morgen des Heiligen Abends alles im Schnee versunken sein. Sollte mir recht sein - ich hatte sämtliche Einkäufe und Besorgungen erledigt, der Wagen stand in der Garage, ich saß im Warmen. Sogar den Tannenbaum hatte ich schon ins Haus geholt. Er stand tiefgrün, noch ohne den Silberschmuck, neben der großen, alten Standuhr auf der anderen Seite des Wohnzimmers. Weit weg vom Kamin, damit er nicht durch die Hitze frühzeitig zu nadeln begann.
Als der Kakao schaumig im Topf hochkochte, fiel mein Blick auf die angebrochene Flasche Rum auf dem Weinregal neben dem Herd. Übrig geblieben von der Feuerzangenbowle, zu der ich am vergangenen Samstag ein paar Freunde eingeladen hatte.
In diesem Jahr hatte ich mir schon Anfang Dezember vorgenommen, die Adventszeit einmal so richtig zu genießen. Mir Ruhe zu gönnen und allen unnötigen Trubel zu meiden. Ein paar Kinder- und Jungendzeitrituale wieder aufleben zu lassen: Bratäpfel in den Ofen schieben, jeden Tag ein Kalendertürchen öffnen, einen dicken, warmen Schal stricken. Für Peter.
Bei diesem Gedanken huschte mir unwillkürlich ein Lächeln über die Lippen.
Dann ein plötzlicher Gedanke; Stirnrunzeln. Der Schnee würde doch den Flugverkehr nicht behindern?
Ach was - ich vertrieb alle Trübsal. Schließlich erwartete ich Peter erst am Mittag des ersten Weihnachtsfeiertages, und so lange pflegte es in diesen Breiten wirklich nicht zu schneien.
Sicherlich würde ein Schüsschen Rum im Kakao mir helfen, das plötzliche Unbehagen abzuschütteln. Als Kinder hatten wir von der Großmutter manchmal ein paar Tropfen des Rumaromas, das sie zum Backen verwendete, in unseren Kakao bekommen.
Der metallene Löffel, mit dem ich das köstlich duftende Gebräu umrührte, erzeugte in der Steinguttasse einen seltsam dumpfen Ton. Gedämpft, wie die Geräusche von der Straße. Als hätte man die Welt in einen dicken Wollschal eingewickelt, ging es mir durch den Kopf, während ich es mir wieder auf dem Sofa vor dem Fenster bequem machte. Ehe ich die Beine hochlegte, schob ich mein Strickzeug beiseite, um mich nicht an den langen Nadeln zu stechen.
Noch immer fielen die Flocken weiß und dicht aus dem dunklen Himmel, der weder Mond noch Sterne trug.
Mit angezogenen Knien genoss ich die zweite Tasse heißen Kakao, als mein Bauch begann, die diesmal etwas üppiger ausgefallene Portion Rum mit einem leisen, aber deutlichen Rumoren zu quittieren. Ich legte meine linke Hand auf die Stelle, wo ich den Ursprung des Rumorens vermutete - etwas oberhalb des Nabels. Dann ließ ich mich langsam zurücksinken und starrte in das knisternde Kaminfeuer. Kleine Funken stoben auf, verglühten und rieselten auf die Fliesen vor der Kaminöffnung. Leichter als der Schnee. Doch die Asche war fast genau so weiß.
Als es an der Tür läutete, wäre ich beinahe nicht hingegangen. Hätte nicht geöffnet, welchem späten Besucher auch immer. Schließlich erwartete ich niemanden, und ein unangekündigter Gast war mir an diesem Abend nicht gerade willkommen.
Einem Gewohnheitsimpuls oder Pflichtgefühl folgend, stand ich dann aber doch vom Sofa auf. Wer mochte an diesem kalten Dezemberabend um Einlass bitten? Während ich zur Haustür ging, fielen mir alte Geschichten von seltsamen Besuchern ein. Ich schüttelte den Kopf, schob den Riegel zur Seite und öffnete die Tür.
Vor mir stand eine Frau. Weiße Flocken sprenkelten ihr dunkles Haar und ihren wollenen Mantel.
Ich blickte in ihr Gesicht. Noch während ich zwischen Erstaunen und vagem Wiedererkennen schwankte, sprach sie mich mit einem unsicheren Lächeln an:
„Susanne! Erkennst du mich nicht mehr? Tja, es ist lange her ... und wohl auch ein ungewöhnlicher Zeitpunkt, so kurz vor Weihnachten und noch dazu abends ... Ich bin’s, Margarete. Margret. Maggie. Deine alte Schulfreundin!“
Natürlich! Als sie ihren Namen nannte, war augenblicklich alle Fremdheit fortgewischt. Vor mir stand Margret, wer sonst? Mit hochgeschlagenem Mantelkragen, die Hände tief in den Taschen vergraben und noch immer lächelnd. Als ich sie hereinbat, Entschuldigungen stammelnd, dass ich sie nicht gleich erkannt hatte, war ich mir noch nicht sicher, ob ich mich über den unerwarteten Besuch freuen sollte. Doch was war schon dabei?
Margret klopfte den Schnee von den Schultern ihres Mantels und erklärte im Hereinkommen, wieso sie mich gerade jetzt aufsuchte.
„Der Flugplan, weißt du. Sie haben meinen Flug gestrichen, wegen des Wetters.“
Sie habe eine recht weite Anfahrt zum Flughafen gehabt, erzählte sie weiter. Nein, sie wohne schon lange nicht mehr in Düsseldorf. Sie sei aufs Land gezogen, direkt nach dem Abitur. Und, na ja, irgendwoher habe sie halt gewusst, dass ich noch immer unter der alten Adresse zu erreichen sei. Nicht weit vom Flughafen, mit dem Taxi noch so gerade zu bewerkstelligen. Sie hoffe, sie komme nicht gar so ungelegen. Aber andererseits, warum nicht einem spontanen Impuls folgen? Sie neige momentan ohnehin dazu, ihrer sentimentalen Seite mehr Gewicht einzuräumen. Bei diesen Worten streifte sie ihren Mantel ab und umfasste mit beiden Händen die ausladende Wölbung ihres Leibes.
„Oh!“, entfuhr es mir.
„Neunundzwanzigste Woche. Keine Angst, Susanne, es ist noch nicht so weit!“
Sah ich so aus, als hätte ich vor irgendetwas Angst?
Auf dem Tisch stand der Rest meines Kakaos. Während Margret etwas schwerfällig auf den breiten, samtbezogenen Ohrensessel gegenüber dem Sofa zuging, leerte ich die Tasse in einem Zug. Ich fragte meine Besucherin, was ich ihr zu trinken anbieten könne. Enthielt mich jeglicher Anspielung auf ihren Zustand und ihre damit verbundene Enthaltsamkeit. Als ich schließlich mit Wasser und Rotwein – Letzterer natürlich für mich – an den Tisch zurückkehrte, waren alle Verwunderung und alles Befremden über ihr plötzliches Erscheinen verflogen und einer tiefen, ehrlichen Freude gewichen. Margarete! Nach so langer Zeit! Wir würden einander viel zu erzählen haben. Mit vor Erwartung glühenden Wangen wandte ich mich ihr zu.
„Wie damals“, sagte sie. Ihre Stimme klang dunkel, ein wenig abwesend.
Die mächtigen Scheite, die ich nachmittags in den Kamin gelegt hatte, waren nun bald vollends durchgeglüht. Margarete saß mit dem Rücken zum Feuer. Jedes Mal, wenn die Flammen sekundenlang aufloderten, wurde sie von einer feurigen Aura umhüllt.
Rechts von mir lag mein begonnenes Strickwerk. Ein dicker, warmer Schal. Das winterliche Kleidungsstück mutete irgendwie abwegig an ob der Wärme, mit der das Kaminfeuer den Raum erfüllte. Ob der Erregung, ja Hitze, die das Gespräch über unsere gemeinsamen Kindertage entfachte. Und der Wein tat wohl ein Übriges, wie ich mir eingestehen musste, als ich den letzten Rest aus der Flasche in mein Glas goss.
„Weißt du noch, wie wir damals im Kunstunterricht Porträts zeichnen mussten?“
Während Margarete die nächste lebhafte Erinnerung aus dem schier unerschöpflichen Reservoir ihres Gedächtnisses hervorholte, drehte ich das herrlich funkelnde Kristallglas in meinen Händen.
Der Schliff - ein altertümliches Muster aus Rauten und Sternen, die in regelmäßigen Abständen über das Rund verteilt waren - brach den Schein der Kerzen und des Feuers und warf tanzende Reflexionen an die Wände. Keine Sekunde lang waren sie still oder gleich - wo es eben noch hell aufblitzte, breitete sich im nächsten Moment schon ein großer Lichtfleck aus, dessen unscharfe Ränder ins Dunkel verliefen.
„In dieser Rastertechnik, bei der man ein Foto in kleine Quadrate unterteilt und Kästchen für Kästchen abmalt. Auf die Art bekam man auch ohne großes künstlerisches Talent Bilder hin, die der Vorlage erstaunlich ähnlich sahen.“
„Du hast mein Foto abgemalt und ich das deine.“ Die Bilder stiegen plötzlich lebhaft in meiner Erinnerung auf, und ich lächelte unwillkürlich.
„Ich glaube, ich habe das Bild von dir noch. Es müsste zu Hause auf dem Dachboden liegen. Ich könnte vielleicht ...“
Der tiefe, wohlklingende Schlag der alten Standuhr verkündete die halbe Stunde.
„Wie die verrückte alte Frau, die man auf dem Speicher einsperrt!“ Ein seltsam fremdes Lachen entfuhr meiner Kehle.
„Ja, das ist sie, unsere alte Susanne. Du konntest schon immer die besten Gruselgeschichten erzählen.“
Margarete saß aufrecht in dem tiefen Sessel. Es stimmte nicht, was sie sagte. Ich wusste noch genau, wie wir Mädchen in längst vergangenen Jugendherbergstagen an ihren Lippen gehangen hatten. Strickjacken über den Flanellnachthemden.
Wie wir uns in dem Zimmer versammelt hatten, in dem Maggie schlief. Wie wir auf den oberen Etagen der knarrenden, doppelstöckigen Betten gehockt und uns zu dritt, zu viert eine Wolldecke geteilt hatten.
Und Margret erzählte. Damals war es mir vorgekommen, als ob ihre düsteren Phantasien keine Grenzen kannten. Verfolgungsjagden in tiefen Wäldern. Gruselige Gestalten, die bei verwitterten Grabsteinen auftauchten. Unheimliche Dorftrottel mit niedriger Stirn und wulstigen Lippen. Mädchengeschichten, bevölkert von den zeitlosen Figuren und Requisiten des Unfassbaren, das uns schaudern macht.
Meine Schritte erschienen mir seltsam schwer und schleppend, als ich in die Küche ging, um neuen Wein zu holen. Auf dem Herd stand noch immer der stählerne Topf, in dem ich meinen Kakao heiß gemacht hatte. Der eigentlich blanke Boden war von einer eingebrannten, fast schwarzen Schicht bedeckt.
An den Rändern klebten die Spuren der Blasen, die das dickflüssige Getränk beim Kochen geworfen hatte.
Mein Atem ging schnell. Das Zimmer musste völlig überhitzt sein - ich hätte ein Fenster öffnen sollen. Unbarmherzig loderten die trockenen Scheite.
Ich hatte Schwierigkeiten, die Weinflasche zu öffnen. Um mehr Gewalt über die Bewegung zu haben, stellte ich die Flasche auf den Boden, zwischen meine Füße, und beugte mich darüber. Dennoch rutschte ich bei dem Versuch, die Spirale des Korkenziehers in den weichen Kork zu drehen, ab und hätte mich beinahe mit der Spitze des Instrumentes verletzt. Ich schwitzte.
Margret entledigte sich ihres Sweaters. Als sie ihn über den Kopf zog, sah ich für einige Momente nicht ihr Gesicht, sondern nur ihren gewölbten Leib, über dem sich das T-Shirt spannte.
„Und mich besucht eine hochschwangere Frau am Abend vor Weihnachten,“ kicherte ich nervös in mein Glas.
„Stille Nacht“, entgegnete Margret mit undurchdringlicher Miene. „Ich habe gleich bemerkt, dass du dich fürchtest. Unsere kleine Susanne fürchtet sich recht leicht, nicht wahr?“
Sie sprach im Tonfall der Kindermädchen oder ältlichen Tanten, hinter deren zuckersüß besorgter Fassade die Lust an der Angst der Schutzlosen lauert, die ihrer Obhut anvertraut werden. Wer ahnt schon, was in jenen Zeiten des Ausgeliefertseins in den armen kleinen Köpfen vor sich geht? Sicher nicht die liebenden Eltern, die ihre Kinder wieder und wieder für Stunden dort zurücklassen - Stunden, in denen es dunkler und dunkler wird. In den Kinderseelen.
Ich stellte das Glas auf den Tisch, weil meine Hände zu zittern begannen. Reiß dich zusammen, Susanne. Der Wein, die überhitzte Luft ... Ich wollte aus dem Fenster schauen, um zu sehen, ob es noch schneite, aber es gelang mir nicht, den Kopf zu drehen. Meine Finger suchten irgendeinen Halt. Krampften sich in das Strickzeug.
„Du handarbeitest? Was machst du denn gerade? Zeig mal!“ Margarete beugte sich vor. Ihr runder Bauch streifte die hölzerne Tischplatte. Legte sich darauf.
Mit einer mechanischen Bewegung reichte ich ihr das Strickzeug.
Unwirsch entrollte sie das halb fertige Werk. Beinahe wären die mühsam aneinander gereihten Maschen von einer der langen, silbernen Nadeln gerutscht.
„Gib Acht!“, rief ich, um mein Geschenk besorgt. Gleich darauf war es mir peinlich, dass ich so heftig reagiert hatte.
„Für Peter“, setzte ich entschuldigend hinzu, irgendwie hilflos. Ich mahnte mich zur Ordnung. Niemand brauchte mir zu helfen. Ich saß mit einer alten Schulfreundin in meinem Wohnzimmer. Und ich hatte vielleicht ein bisschen zu viel Wein getrunken. War möglicherweise etwas nervös wegen des bevorstehenden Weihnachtsfestes. Wegen des Schnees, der Flugpläne ...
„Peter? Immer noch Peter?“
Margaretes Stimme nahm einen säuselnden Klang an.
„Ja, immer noch Peter“, entgegnete ich - beinahe trotzig, aber mit gesenktem Blick.
Das regelmäßige Ticken der Standuhr verlor sich im wütenden Knistern des Feuers.
„Ha, ha, ha!“ Ihr kehliges Lachen gellte mir in den Ohren.
„Peter! Wie der zurückgebliebene Junge in der alten Geschichte. Huh, huh, Peterle kommt! Lauft, Mädchen, lauft, er hat sein Messer dabei.“
Ihre Worte schnitten mir ins Hirn und krampften zugleich meine Eingeweide zusammen.
Ich wollte Margret bitten, sie möge aufhören. Sie sollte nicht so sprechen wie damals, sollte nicht diese Geschichte, nein, nicht diese Geschichte ... Aber ich sagte nichts. Mein Blick hing wie gebannt an ihren Händen, in denen sie das Strickzeug drehte. In denen sich die Wollfäden wie Würmer wanden, um ihre Finger schlangen, wieder losließen, sich enger knüpften.
Silbrig ragten die Nadeln aus der weichen Wolle. „Peterle ...“ War das meine Stimme?
Seht, Mädchen, Blut ist an seinen Händen. Peterle hat’s Schwein geschlachtet! Lauft, Mädchen, lauft! So viel Blut! „Peterle!“
Peterle, was hast du ...? Peterle, wo ist der Nachbarin Kind?
Ich vermochte nicht mehr auszumachen, welche der Worte gesprochen wurden. Stimmen. In meinem Haus? In meinem Zimmer? In meinem Kopf? Die Uhr schlug zur vollen Stunde.
Margaretes Gesicht wollte vor meinen Augen verschwimmen, ihr schwarzes Haar eins werden mit dem Feuer, der Asche, dem Schnee. Vor dem Fenster. Und draußen war’s kalt. Und dunkel. Und morgen war Weihnachten. Und nichts war mir geschehen. Der letzte Schlag verhallte in den Tiefen des hölzernen Uhrkastens.
„Susanne?“ Sie sprach wie durch Samt. Wie durch Wolle. Ich zwang mich, sie anzusehen. Noch einmal anzusehen. Das Feuer war jetzt in ihren Augen, ihren Pupillen.
„Sieh, was ich kann, Susanne. Was du mich gelehrt hast!“ Margarete hielt eine der langen, silbernen Nadeln in ihrer rechten Hand. Mit der linken zog sie das T-Shirt über ihrem prallen Leib hoch. Die Spitze der Stricknadel war auf die Mitte ihres Bauches gerichtet. Auf ihren Nabel. Sie führte sie näher und näher heran. Und dann ließ sie die Nadel hineingleiten. Ganz leicht und mühelos. Ich sah, wie sie die Nadel langsam, Stück für Stück, Zentimeter für Zentimeter in ihren Leib schob. Durch den Nabel. Tiefer, tiefer, tiefer.
Weiß. Alles ist weiß. Schneeweiß. Und warm. Ich möchte die Augen ganz öffnen. Nicht nur blinzeln. Durch den Wimpernkranz in das Weiß. Hell. Kein Feuer. Die Sonne. Durchs Fenster.
„Susanne! Mein Gott, Susanne! Du hast uns vielleicht einen Schrecken eingejagt!“
Peters Stimme. Ich kam rasch zu mir. Das hier war eindeutig ein Krankenhausbett. Es war helllichter Tag. Neben mir saß Peter und hielt meine Hand. Ich versuchte ein Lächeln.
„Dass mir das aber jetzt nicht zur Gewohnheit wird.“ Er beugte sich über mich und küsste meine Stirn.
Ich verstand nicht. Wieso war ich im Krankenhaus? Und was sollte nicht zur Gewohnheit werden? Peter half mir, mich im Bett aufzusetzen, rückte die Kissen zurecht. So weiß.
Ich fühlte mich frisch. Stark beinahe. Und durstig. Fürsorglich griff Peter nach der Wasserflasche auf dem Nachttisch, öffnete sie und goss prickelndes Mineralwasser in ein bereitgestelltes Glas. In meinem Blick musste eine stumme Aufforderung gelegen haben, denn sobald ich ein paar Schlucke getrunken und das Glas abgesetzt hatte, vor mich auf die Bettdecke, auf meinen Bauch, begann Peter zu erzählen. Das heißt, er begann mit der Frage, ob ich zuerst die gute oder die schlechte Nachricht hören wollte.
„Die schlechte“, forderte ich.
„Du hast Heiligabend verschlafen“, eröffnete er mir, das warme Lächeln noch immer auf seinen vollen Lippen. Ich runzelte die Stirn, und er fuhr fort.
Es war schon sehr spät gewesen, nach Mitternacht, am dreiundzwanzigsten Dezember, also eigentlich schon am vierundzwanzigsten, korrigierte er sich. Die nette Frau von nebenan, wie hieß sie doch gleich? Frau Schepphardt, genau, sie war noch einmal mit dem Hund rausgegangen. Das Tier wollte einfach keine Ruhe geben. Wahrscheinlich war es nervös wegen des vielen Schnees. Ja, wirklich ungewöhnlich für unsere Gegend. Und da habe sie gesehen, dass meine Haustür offen stand. Bei diesem Wetter! Sie sei natürlich hingegangen, um nachzuschauen, ob etwas nicht in Ordnung sei.
Die Tür musste schon eine ganze Weile offen gewesen sein, denn der Schnee war bereits in den Flur geweht. Frau Schepphardt hatte geklingelt, meinen Namen gerufen, doch als sie keine Antwort bekam, war sie eingetreten. Die Kerzen brannten noch, auch das Kaminfeuer. Sie hatte mich im Wohnzimmer gefunden, den Kopf nach hinten über die Rückenlehne des Sofas gebogen. Irgendwie in einer unnatürlichen, ja ungesunden Position. Ich hatte nicht reagiert, als sie mich ansprach, meine Wange tätschelte, mich sanft schüttelte. Da hatte die besorgte Nachbarin den Notarzt gerufen. Mir wollte noch immer nicht recht klar werden, was das alles zu bedeuten hatte.
„Und die gute Nachricht?“, fragte ich zögerlich, ein wenig unsicher.
„Du bist schwanger. Wir bekommen ein Kind“, sagte Peter rundheraus.
Im Laufe der nächsten Stunden ließ ich noch einige Untersuchungen über mich ergehen. Peter wartete die ganze Zeit geduldig. Seine Gegenwart gab mir ein Gefühl der Sicherheit. Als der Arzt schließlich erklärte, ein solcher Schwächeanfall sei zwar ungewöhnlich, aber im Übrigen sei nichts Beunruhigendes festzustellen, drängte ich darauf, nach Hause zu gehen.
„Sagen Sie“, sprach mich die Schwester an, als ich die Formulare zur Entlassung auf eigenes Risiko unterschrieb, "wer ist eigentlich Margarete?“
Der letzte Bogen meines Nachnamens rutschte mir ein wenig unter die dafür vorgesehene Linie.
„Margarete?“, wiederholte ich.
„Ja, Sie haben ein paar Mal nach ihr gerufen, während Sie bewusstlos waren.“
„Ich kenne keine Margarete“, antwortete ich, und wir verließen das Büro.
Daheim war noch alles genau wie am Vortag. Nein, wie zwei Tage zuvor, korrigierte ich mich selbst in Gedanken. Es war schließlich der fünfundzwanzigste Dezember. Der Weihnachtsbaum lehnte dunkelgrün und ungeschmückt an der Wand gegenüber dem Kamin, wie in stummer Anklage. Am nächsten Heiligen Abend würden wir zu dritt sein. Peter, ich – und das Kind.
Ich schaute mich um. Die Steinguttasse stand noch auf dem Tisch. Ich nahm sie auf. Beinahe noch halb voll. Mit Kakao. Und Rum, bestätigte mir mein Geruchssinn, als ich das Gefäß an die Nase hielt. Nirgendwo waren Weingläser zu sehen. Die Standuhr schlug. Vier volle, tiefe Schläge. Ich hörte Peter in der Küche hantieren. Dann kam er ins Zimmer, umfasste meine noch nicht gerundete Taille und drehte mich in seinen Armen um. Er zog mich zu sich heran, etwas gebückt, sodass mein Kinn auf seiner Schulter lag.
„Ich freue mich so“, sagte er leise.
Mein Blick fiel auf etwas neben dem großen Ohrensessel. Es war eine meiner Stricknadeln, und ihre Spitze war dunkelrot.

 

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